Vorgeblättert

Leseprobe zu Robert Bober: Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen. Teil 3

22.08.2011.
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Das Bistro hatte Robert hinter der Place des Fêtes entdeckt. Am Ende der Impasse Compans.
     Ein am Gittertor befestigtes Schild, "Chez Victor - Cafe - Boulespiel", wies den Weg. Man trat durch das Tor in einen Hof wie den eines Bauernhauses, in dessen hinterem Teil eine Art Podium mit Balustrade aufgestellt war, zu dem eine Holztreppe führte, wie es sie, glaube ich, noch in manchen Ausflugslokalen gibt und auf denen die Musikkapellen sitzen.
     Von dort aus sah man unter sich in der Ferne die Gemeinden Les Lilas und Le Pre-Saint-Gervais liegen, dörfliche Häuser, unterbrochen von Wäldchen und Gemüsegärten, so weit das Auge reicht.
     In dieser Insel des Friedens, die mehr wie ein Tanzlokal im Grünen wirkte als wie ein Bistro, würde ich bei einem Film mitwirken - ich konnte es nicht fassen.
     Es war noch nicht ganz zehn Uhr, und ich wusste nicht, wo ich hin sollte, versuchte aber gleichzeitig, nichts von dem zu verpassen, was sich tat und wovon ich nicht viel begriff.
     "Der muss drinnen sein", antwortete mir ein Mann, der eine Gaslaterne trug, auf meine Frage, wo ich Robert finden könne.
     Ins Innere von Chez Victor gelangte man über drei Stufen und eine verglaste Doppeltür, die weit offen stand und durch die man einen ersten Raum betrat, an dessen Wänden zwei Plakate angebracht worden waren; eines kündigte einen Ball im Moulin de la Galette an, das andere eine Ausstellung mit Gemälden von Picasso bei Ambroise Vollard. Es gab noch einen Raum, in dem sich die Bar befand und durch den sich das Rohr eines Kohleofens zog; in einem weiteren ließen sich gerade junge Frauen, vermutlich Statistinnen, frisieren.
     "Ach, da ist Bernard", sagte Robert, so als ob mich außer ihm noch jemand kennen würde.
     Tatsächlich kannte mich noch jemand und drehte sich frisch frisiert zu mir um. Ich fuhr vor Freude zusammen: Es war Laura. Laura, in die ich vor sieben Jahren verliebt gewesen war, als wir den Sommer gemeinsam in derselben Ferienkolonie in Tarnos verbracht hatten und Robert unser Betreuer gewesen war.
     Auch sie hatte ich seitdem nicht wiedergesehen, und doch war das Gefühl, das ich für sie empfunden hatte, erhalten geblieben, seltsam unversehrt.
     Bei Ausflügen waren wir nebeneinander hergelaufen und hatten unsere Schritte aufeinander abgestimmt. Beim Baden war ich an ihrer Seite geschwommen. Und das war alles gewesen. Ich war damals vierzehn und gab mich damit zufrieden. Es genügte mir zu wissen, dass sie anderen nicht mehr schenkte. Dass sie niemanden bevorzugte.
     Ich wusste, dass Laura, wie viele andere in der Ferienkolonie, keine Erinnerung an ihre deportierten Eltern hatte. Sie hatte immer in Kinderheimen gelebt. Doch törichterweise konnte ich nicht anders, als eifersüchtig auf diejenigen zu sein, die über Jahre hinweg ihr Leben teilten.
     Eines Tages sagte sie mir - das war kurz vor dem Ende der Ferienkolonie, und sie sagte es mit bewegter Stimme -, sie habe es satt, jeden Tag in einem Speisesaal zu essen, jede Nacht in einem Schlafsaal zu schlafen, nur Bücher aus der Bibliothek zu lesen, und zählte noch eine Menge anderer Dinge auf, die sie gerne allein getan hätte. Ich kannte diesen Schmerz und hätte sie gerne geküsst, in die Arme genommen, aber ich wagte mich nicht zu rühren, da ich wusste, dass eine zärtliche Geste sie in Tränen hätte ausbrechen lassen.
     Am Nachmittag jedoch hatte ich sie bei der Hand genommen, und wir waren über den Strand bis ins Wasser gerannt. Laura hatte sich den Wellen hingegeben und gelacht, und mehr wurde nicht gesagt.

Jetzt lächelte Laura, weniger blass als mit dreizehn, über meine Überraschung.
     "Alles Gute zum Geburtstag, Bernard."
     Alles Gute zum Geburtstag? Wie konnte sie sich erinnern? Durch Robert? Und er, woher wusste er es?
     Als ich ihn fragend ansah, bemerkte ich, dass er sich an den Rat von Jakowsky erinnert hatte und sich einen Schnurrbart hatte wachsen lassen.
     "Komm, wir suchen dir ein Kostüm aus", sagte er, ohne die geringste Anspielung auf den Geburtstag zu machen.
     Zehn Minuten später trug ich eine hochgeknöpfte schwarze Jacke aus Kattun und eine weite, an den Knöcheln engere Hose aus dickem braunen Cord, wie sie Zimmerleute tragen.
     "Ich glaube wirklich, du trägst die von Reggiani", stellte Robert sichtlich zufrieden fest. "Und wo ich gerade daran denke, vergiss nicht, beim Drehen deine Armbanduhr abzulegen."

Während die Szenerie fertig arrangiert wurde, ging ich zu Laura, die sich auf die Balustrade des kleinen Podiums stützte und wartete. Natürlich sprachen wir nicht über unsere gemeinsamen Erinnerungen. Die anderen Erinnerungen streiften, immer wieder unterbrochen von Schweigen, ungeordnet durch die sieben vergangenen Jahre.
     Laura berichtete, dass sie bei Brentano's arbeite, einer angloamerikanischen Buchhandlung in der Avenue de l'Opera, wo sie dank ihrer Englischkenntnisse eine Stelle gefunden hatte. Die Sprache hatte sie während eines
langen Aufenthalts in einer englischen Familie gelernt, die sie hatte adoptieren wollen. Laura war zwar gerührt, hatte aber abgelehnt, wobei sie jedoch weiter gute Beziehungen zu der Familie pflegte, die sie sogar von Zeit zu Zeit besuchte, um ein paar Tage dort zu verbringen.
     "Genau wie du hatte auch ich Robert aus den Augen verloren. Und dann, vor fast einem Jahr, kam er zu Brentano's, ohne zu wissen, dass ich dort arbeite. Er fragte nach einer amerikanischen Ausgabe eines Krimis, Schießen Sie auf den Pianisten von David Goodis, Down There. So haben wir uns wiedergesehen, und so habe ich auch erfahren, dass er gerade mit François Truffaut gearbeitet hatte. Seitdem haben wir uns ein paar Mal getroffen. Das letzte Mal haben wir uns gesehen, kurz nachdem auch ihr euch begegnet seid, und da hat er mir vorgeschlagen, in dem Film als Statistin mitzuwirken. Deshalb wusste ich, dass du da sein würdest. Da heute
Dienstag ist und dienstags in der Buchhandlung nie besonders viel los ist, habe ich problemlos einen Tag Urlaub bekommen."
     Laura und ich sollten bei der Einstellung, für die Truffaut uns brauchte, am selben Tisch sitzen.
     In einer langsamen Kamerafahrt sollte die Kamera dem von Henri Serre gespielten Jim seitlich folgen, während er einen der Räume des Cafes durchquerte.
     "Ihr seid verliebt", hatte Robert uns als einzige Anweisung gesagt, als Truffaut eine kurze Probe verlangte. Laura und ich sahen uns an. Sie lächelte und streckte ganz natürlich ihre Hände vor, damit ich sie in meine nahm.
     Ich war zu verstört, um richtig zu begreifen, was um unseren Tisch herum geschah. Während ich immer noch Lauras Hände hielt, trat Truffaut zu uns:
     "Hat Robert es euch gesagt? Wenn die Kamera an euch vorbeifährt, küsst ihr euch."
     Hatte Robert ihm gesagt, wer wir waren?
     Die Klappe fiel, und die Kamera näherte sich geräuschlos auf ihren Schienen, richtete sich auf uns und entfernte sich, um Henri Serre zu folgen. Drei Mal. Drei Mal drückte ich, als die Kamera vorbeifuhr, meine Lippen auf Lauras, und der drei Mal gegebene Kuss belebte plötzlich wieder, was ich verloren geglaubt hatte und was die sieben Jahre nicht ausgelöscht hatten. Danke, François Truffaut.
     Nach jedem "Aus!", das Truffaut rief, löste Laura als Erste ihre Lippen von meinen. Nach dem dritten Mal war es vorbei. Alle waren bereits mit der Vorbereitung der nächsten Einstellung beschäftigt, die vor dem Bistro gedreht werden sollte, und ich betrachtete Lauras Hände, zu denen meine nicht zurückzukehren wagten.

                                                        *

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Antje Kunstmann
(Copyright Verlag Antje Kunstmann)

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