Vorgeblättert

Leseprobe zu Robert Bober: Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen. Teil 2

22.08.2011.
Das Gemälde, von dem Anatole Jakowsky gesprochen hatte, war direkt auf die Wand gemalt. Alle Gänge des Kellers waren in dieser Art bemalt und in Straßen des Viertels verwandelt worden. Straßenschilder, auch sie gemalt, gaben die Namen an: Rue des Couronnes, Rue de Belleville, Rue Piat, die Rue des Envierges natürlich, wo wir uns befanden, die Rue Vilin mit ihrer Treppe und die Fußgängerbrücke der Rue de la Mare, oberhalb des Bahnhofs der Ringbahn. Der Maler hatte ein Stück seiner Stadt nachgebildet mit allem, was man dazu an geschwungenen Gaslaternen und schiefen Häusern brauchte; darüber wölbte sich ein blauer Himmel. Auch das Haus aus dem Film Goldhelm hatte er gemalt und ein aus einer Zeitschrift ausgeschnittenes Foto von Simone Signoret daraufgeklebt. Er hatte seine Bemühungen so weit getrieben, auf ein Stück echten Bretterzaun, der dort aufgestellt war, den Rest eines Plakats zu kleben, das eine Demonstration vor der "Mauer der Kommunarden" zu Ehren der Märtyrer der Pariser Kommune ankündigte, und daneben noch das Bistro von Nadine zu malen, mit einem echten Flaschenregal auf dem Boden.
     Aber auch wenn dieses gewaltige Fresko voll von Erinnerungen des Malers steckte, so verriet in dem Gewirr von Straßen und Sackgassen merkwürdigerweise nichts die Anwesenheit von Menschen. Kein Spaziergänger, nicht eine Concierge vor ihrer Tür, keine Kinder, die Murmeln oder Himmel und Hölle spielen, nicht einmal eine Katze oder ein Hund. Nur ein paar Noten drangen frei aus dem Fenster eines Hauses in der Rue Botha, in dem Maurice Chevalier geboren wurde, und über dem zu lesen stand:

"Les gars d'Menilmontant
Sont toujours remontants
Même en redescendant
Les rues de Menilmu-u-u-uche ..."


(Die Jungs von Menilmontant / Bringen einen immer wieder hoch / Selbst wenn sie runtergehen / Durch die Straßen von Menilmu-u-u-che...)

Das Gemälde, das wohl bezeugen sollte, wie das Viertel einmal war, zeigte hier und da einige beunruhigende Wunden, und man konnte sich den Künstler vorstellen, wie er sich hartnäckig mühte, mit fortwährenden Retuschen die um sich greifende Feuchtigkeit zurückzudrängen.
     "Der Mann, der das Viertel gemalt hat, ist ein Rentner, der im Haus wohnt", sagte uns Nadine, als Robert ihr den Kellerschlüssel zurückgab. "Er hat vor über zwei Jahren damit angefangen und kommt immer noch fast jeden Tag her. Manchmal frage ich mich, warum er noch kommt, jetzt, wo er fertig ist. Manchmal gehe ich runter, um Flaschen zu holen, und sehe ihn, wie er da auf seinem Klappstuhl sitzt und das Bild betrachtet ? Wie um die Straßen zu überwachen."
     "Vielleicht hat er Angst, dass die ganze Farbe wegen der Feuchtigkeit von den Wänden platzt?", fragte Robert.
     "Nein, überhaupt nicht, er versteht sich nur nicht besonders gut mit seiner Frau", antwortete Nadine.
     "Um den Streitereien zu entgehen, nimmt er Farbe, Pinsel und Klappstuhl und 'geht zum Motiv', wie er sagt. Für ihn ist das Motiv das, was er im Kopf hat. Da muss er nicht weit gehen. Ich weiß nicht, ob ihm seine Streitigkeiten
als Vorwand dienen, die drei Stockwerke runterzugehen, oder ob die Ausbesserungsarbeiten ihm erlauben, die Wohnung zu verlassen, aber er arrangiert
sich sehr gut damit. Wenn er fertig ist, kommt er auf einen Muscadet vorbei, das verschafft ihm eine Pause, und dann geht er mit seiner Ausrüstung und dem Klappstuhl wieder in seine Wohnung hoch und macht den Fernseher an. Monsieur Jakowsky mag das Gemälde sehr, sagt aber, es sei ?ein vergeblicher Versuch, die
Zeit anzuhalten?. Das ist so ein Satz von ihm. Aber stimmt schon, man fragt sich, wer die Ausbesserungsarbeiten machen wird, wenn Monsieur Fernand einmal nicht mehr da ist."

Wir blieben auf dem kleinen, terrassenartigen freien und grasbewachsenen Gelände stehen, keine zweihundert Meter von Nadines Bistro entfernt, an dessen Rand bereits zwei Wohnblöcke errichtet worden waren. Das Gelände befand sich an der Stelle, wo die Rue Piat, die Rue des Envierges und die Rue d?3u Transvaal aufeinanderstoßen, oberhalb der Treppe der Rue Vilin, und schien wie dazu geschaffen, sich in die Betrachtung des schönsten Panoramas der Stadt zu versenken.
     "Hast du Goldhelm gesehen?", fragte mich Robert.
     "Mit Simone Signoret? Ja, habe ich, aber das ist schon ein Weilchen her."
     "Na, genau da sind wir. Genau hier hat Jacques Becker mehrere Einstellungen gedreht."
     Und Robert zeigte mir die Tischlerwerkstatt, in der Serge Reggiani arbeitete, die Bäckerei, vor der Simone Signoret eine Droschke anhalten ließ. Er erzählte mir von der gewaltigen Ohrfeige, die sie Reggiani genau an der Stelle, an der wir standen, verpasste. Er erinnerte sich noch exakt, was sie gesagt hatte: "Du wirst entschuldigen, aber die hab ich gestern gekriegt, so sind wir quitt."
     "Ich hätte gern, dass auch Truffaut ein paar Einstellungen hier dreht", fügte er hinzu. "Es ist gut, wenn das Kino sich seiner Filme erinnert."
     Ich hatte den Eindruck zu sehen, was er sah, bevor ich selbst es wahrnahm. An diesem Ort, an dem noch ein paar Stücke der Vergangenheit erhalten geblieben waren, schienen die Erinnerungen in Roberts Gegenwart auf ganz natürliche Weise ihren Platz zu finden. Und während ich ihn begeistert von Goldhelm erzählen hörte, sah ich ihn wieder in der Ferienkolonie vor mir, wie er uns abends auf den Zimmern von den Filmen erzählte, die er mochte.
     "Man muss am frühen Morgen hierherkommen, wenn die Sonne hinter uns aufgeht, im März oder April", fuhr Robert fort. "Du kaufst dir beim Bäcker dort an der Ecke ein Schokoladencroissant, lehnst dich an die Balustrade und schaust. Die Menschen reden noch nicht zu laut, man sieht nur die ersten Arbeiter, die zur Metrostration Couronnes unterwegs sind, um zur Arbeit zu gehen, und vor dir hast du das schönste Bild des erwachenden Paris."
     Wir schwiegen und betrachteten die Silhouette von Paris, die sich im Licht des Winterabends abzeichnete. Unten, auf dem Boulevard de Belleville, unterbrach eine Polizeisirene die Stille.
     Später gab Robert mir seine Telefonnummer und seine Adresse. Er wohnte nicht weit von mir entfernt, in der Rue Meslay, jenseits der Place de la Republique. Wir reichten uns die Hand. Er wollte sich noch einmal das Bistro ansehen, für das sie Statisten brauchten. Ich versprach, ihn anzurufen, und wir zogen beide in unsere jeweilige Richtung davon. Er die Rue Piat hinauf, um sich bei Dunkelheit ein Bistro anzusehen, das er nur vom Tag kannte, und ich die Stufen der Rue Vilin hinunter, um nach Hause zu gehen.

zu Teil 3