Vorgeblättert

Leseprobe zu Robert Bober: Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen. Teil 1

22.08.2011.
1

Dank Robert, den ich vor knapp drei Monaten getroffen habe, werde ich als Statist in einem Film von François Truffaut mitwirken.
     Ich war auf dem Rückweg von einem Freund, der in der Rue de Belleville wohnt, als ich zufällig auf Robert traf. Obwohl seine Hände und ein Fotoapparat einen Teil seines Gesichts verdeckten, hatte ich ihn gleich wiedererkannt. Als ich seinen Namen sagte, wandte er sich mir erstaunt zu. Und als fiele ihm durch das Anstarren mein Name wieder ein, sprach er ihn langsam und deutlich aus.
     "Bernard Appelbaum?"
     Und als wir beide lächelten:
     "Tarnos 1953 ... 1954?"
     Beides. Robert war mein Betreuer in der Ferienkolonie in Tarnos in den Landes gewesen. 1953 und dann noch mal 1954. Und dann nicht mehr. Wir hatten uns aus den Augen verloren. Das war fast sieben Jahre her.
     Nach ein paar Banalitäten ? "Was machst du hier? Wohnst du im Viertel?" ? waren wir wegen der verstriche nen Zeit einen Moment um Fragen verlegen und hätten uns beinahe getrennt, ohne mehr voneinander zu erfahren. Da schlug Robert, während er durch das Eingangstor der Villa Ottoz, vor dem wir stehen geblieben waren, ein paar Fotos machte, mir vor, ihn zu begleiten.
     Er wolle noch ein paar Aufnahmen in der Villa Castel machen, einem von kleinen Häusern gesäumten Privatweg, hatte er gesagt und mir auf dem Weg erklärt, dass François Truffaut einen Film vorbereite, von dem ein großer Teil in Paris vor dem Ersten Weltkrieg spiele; er habe ihn um ein paar Fotos von möglichen Drehorten gebeten. Die Handlung spiele nicht direkt in Belleville, aber dort gebe es noch viele Orte, die sich in den letzten fünfzig Jahren nicht verändert hätten, erklärte Robert. Truffaut habe auf Montmartre drehen wollen, wo er seine Kindheit verbracht hatte; Robert, inzwischen sein Assistent, erinnerte mich daran, dass mehrere Szenen aus Sie küssten und sie schlugen ihn dort entstanden waren.
Er fand, dass Montmartre durch die vielen dort gedrehten Filme selbst immer mehr einer Filmkulisse glich, und hatte Truffaut vorgeschlagen, geeignete Dreh orte in Belleville ausfindig zu machen. Daher war er nun hier, um das Viertel zu fotografieren.
     Ich hörte Robert zu und fühlte mich in die Zeit mehrere Jahre zuvor zurückversetzt, als er mein Betreuer gewesen war, und da ich mich zu erinnern glaubte, er sei damals Schneider gewesen, fragte ich mich, wie er es angestellt hatte, mit Truffaut zu arbeiten. Aber ich traute mich nicht, ihm die Frage zu stellen.
     Während er redete, machte er, wie um eine distanzierte Haltung zu unserem Gespräch einzunehmen, ein paar Fotos von der Villa Castel, jenem gepflasterten schmalen Weg, der am Ende durch einen Garten auf die Rue des Couronnes führte. Dann fotografierte er noch, aber zum eigenen Vergnügen, wie mir schien, eine Katze, die uns beobachtete.
     Ein wenig später saßen wir in einem kleinen Cafe in der Rue des Envierges, dessen Wirtin, Nadine, uns mit Handschlag begrüßt hatte. Robert hatte einen Kaffee bestellt und ich eine Schokolade.
     Er hatte seinen Fotoapparat ? eine Agfa ? auf dem Tisch abgelegt und dann in einem kleinen, leinengebundenen Heft die Motive notiert, die er gerade fotografiert hatte, wobei er ganz genau Ort und Uhrzeit der Aufnahme vermerkte.
     "Sobald die Fotos entwickelt sind, zeige ich sie Truffaut", hatte er mir erklärt. "Dann wählt er diejenigen aus, die ihn interessieren, und wir sehen uns die Orte gemeinsam an."
     "Läuft das immer so ab?"
     Meine Fragen waren natürlich naiv, was vielleicht auch erklärt, warum ich mich noch so genau an die Begegnung erinnere.
     So erinnere ich mich, erfahren zu haben, dass Robert seine frühe Kindheit in der Rue de Rebeval verbracht hatte, jenseits der Rue de Belleville, dass er, als wir uns trafen, während er gerade die Villa Ottoz fotografierte, kurz zuvor ein Haus besichtigt hatte, das ihm dem zu entsprechen schien, was Truffaut suchte, dass in dem Haus ein Maler wohnte, Pierre Alechinsky? ganz besonders erinnere ich mich an Roberts Lachen, weil ich Alex Chinsky verstanden hatte ?, dass er aber, da die Räume praktisch vollständig mit den Bildern des Malers angefüllt waren, ein anderes direkt nebenan gefunden hatte.
     Im Bistro von Nadine gab es hinter der Theke eine Trennwand, deren oberer Teil aus einer mit Gravuren versehenen Glasscheibe bestand. Sie trennte den Raum, in dem wir saßen, von einem zweiten, kleineren, der im Allgemeinen dem Restaurantbetrieb vorbehalten war, denn Nadine kochte, aber nur mittags, Hausmannskost für ein paar Stammgäste. Trotz der fortgeschrittenen Stunde hörte man von dort noch Geschirrgeklapper; bei Nadine schien man also nicht gleich vom Tisch aufzustehen, sobald man mit dem Essen fertig war, eine Erfahrung, die ich seitdem selbst gemacht habe.
     Aus dem zweiten Raum trat ein Mann, einer von denen, die man sofort bemerkt. Dicker brauner Cordsamtanzug, gelbes Flanellhemd, rote Strickkrawatte ? und aus der Brusttasche, dort wo man bisweilen ein Einstecktuch trägt, ragte der Kopf einer Pfeife heraus. Außer dem hatte er einen kleinen Spitzbart und kaum Haare auf dem Kopf.
     Er kam lächelnd auf uns zu, umso mehr, als Robert, der ihn entdeckt hatte, aufstand, um ihn zu grüßen.
     Verschüchtert war ich ebenfalls aufgestanden, als Robert mit ausgestreckter Hand auf ihn wies und ihn vorstellte:
     "Anatole Jakowsky."
     Sie wechselten ein paar Worte, denen ich entnahm, dass der Mann über Roberts Recherchen auf dem Laufenden war. Als er danach bei Nadine die Rechnung für sein Essen beglichen hatte, wandte er sich, die Hand bereits auf der Türklinke, noch einmal zu uns um:
     "Bitten Sie Nadine doch um den Schlüssel zum Keller, Sie werden dort ein Meisterwerk naiver Stadtmalerei entdecken."
     Und er ging hinaus.
     "Ein erstaunlicher Mensch", sagte Robert. "Er ist einer der größten Spezialisten für naive Malerei. Aber nicht nur. Er sammelt eine ganze Reihe von Dingen: Pfeifen, aber auch Postkarten. Vor allem solche aus dem Ersten Weltkrieg und mit Fahrrädern."
     "Wie hast du ihn kennengelernt?"
     "Eben über das Fahrrad. Man hatte mir einen Händler für alte Fahrräder auf dem Flohmarkt von Saint-Ouen genannt. Ich bin hingegangen, weil wir welche für den Film brauchen. Dort riet man mir, zu ihm zu gehen, weil er haufenweise Material über Fahrräder zu Hause hat. Der Händler hat mir seine Telefonnummer gegeben, und so haben wir uns kennengelernt. Seine Ratschläge sind sehr wertvoll. Zum Beispiel hat er mich darauf hingewiesen, dass vor dem Ersten Weltkrieg praktisch alle Männer Schnurrbart trugen und die meisten ihn erst während des Krieges abrasiert haben. Mit so etwas kann man gut das Vergehen der Zeit zeigen. Ach, übrigens, wenn es dir Spaß macht, wir brauchen gerade Statisten für eine wichtige Szene in einem Bistro. Da siehst du auch gleich, wie gedreht wird. Was hältst du davon ... Jeanne Moreau ist dabei."
     "Äh ... ja, gern. Aber was muss ich da tun?"
     "Nichts. Du sitzt an einem Tisch und trinkst etwas, so wie jetzt hier. Aber das ist noch nicht so bald, erst Ende April oder Anfang Mai. Wenn Blätter an den Bäumen sind ... ja, um auf Jakowsky zurückzukommen: Uns hat sicher der Umstand einander nähergebracht, dass wir beide nicht in Frankreich geboren wurden. Er kam in Bessarabien zur Welt, in Kischinjow, wo es 1905 ein Pogrom gab. Und weil ein Teil des Films auch in Deutschland spielt, hat er mir erzählt, dass er lange vor dem Krieg vorgehabt hatte, mit dem Fahrrad durch Deutschland zu fahren. Aber als er von den ersten Judenverfolgungen erfuhr, hat er seinen Plan aus Solidarität aufgegeben ... Komm, trink deine Schokolade aus, wenn sie nicht schon kalt ist", fuhr Robert nach kurzem Schweigen fort, "dann bitten wir Nadine um den Kellerschlüssel und schauen uns das Gemälde an, von dem er erzählt hat."

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