Vorgeblättert

Leseprobe zu Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker. Teil 2

05.11.2012.
Nach dem Ende


Von Haigerloch nach Urfeld

Seit Anfang 1945 waren Hechingen und Haigerloch die Rückzugsorte des von Werner Heisenberg geleiteten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin-Dahlem. Otto Hahns Institut für Chemie wurde zur selben Zeit in das benachbarte Tailfingen verlagert. Die Spitzen der deutschen Physik versuchten hier noch kurz vor Kriegsende, den ersten deutschen Atomreaktor in Gang zu bringen.
     Jeder weitere Apriltag des Jahres 1945 aber ließ selbst die verwegensten Hoffnungen schwinden. Die täglichen Messreihen des sogenannten "Grossversuchs B[erlin]-VIII" schienen zeitweise anzuzeigen, dass der im Felsenkeller des Schwanenwirtes in Haigerloch versteckt untergebrachte Uranreaktor kurz davor stand, die erste Kettenreaktion auszulösen. Dann aber war das Spiel aus.
     Das Gerassel französischer Schützenpanzer drang bereits in das Eyachtal, als die Wissenschaftler versuchten, alle Spuren ihres Geheimprojekts zu verwischen. Heisenberg ließ die an Ketten im Schwerwassser-Bottich hängenden Uranwürfel und die erst kürzlich unter großen Schwierigkeiten von Stadtilm in Thüringen hierher transportierten gepressten Uranoxid-Würfel in einem frisch gepflügten Acker vergraben, das Schwerwasser abschöpfen und in Tanks in einer aufgelassenen Textilfabrik verstecken. Er hoffte, dass diese Ressourcen nach dem überstandenen Krieg als "Fundus" für künftige Forschungen zur Verfügung stehen würden. Nachdem alle Materialien sicher verstaut waren, beauftragte Heisenberg seinen ehemaligen Schüler und Freund Karl Wirtz mit der Aufsicht über die Höhle und fuhr dann wie gewöhnlich mit dem Fahrrad nach Hechingen zurück.
     Zwei Tage später, Heisenberg war schon von Hechingen in Richtung Heimat davongeradelt, steckten Weizsäcker und Wirtz die Forschungspapiere des Instituts in einen Metallkanister, verlöteten ihn und versenkten diesen in der Jauchegrube hinter Weizsäckers Haus eine unrühmliche Entsorgung für die einstige Spitzenforschung der deutschen Physik.
     Den in Hechingen und Umgebung untergebrachten Wissenschaftlern blieb nun nichts mehr zu tun, als das Unvermeidliche abzuwarten. Heisenberg aber konnte sich endlich auf den Weg zu seiner Familie in Urfeld machen, einem Ort mit zwanzig, dreißig Seelen am Walchensee in Oberbayern.
     "Wir wollten die Kinder nach Möglichkeit vor dem Chaos der Luftangriffe bewahren", begründete Heisenberg die Übersiedlung der Familie von Leipzig an den Walchensee. Seine Frau, die inzwischen fünf Kinder hatte, wurde allerdings mit dieser Lösung nicht glücklich. Sie war in Urfeld von aller Hilfe abgeschnitten, die sich die Physikerfamilien und technischen Mitarbeiter in Hechingen gegenseitig leisteten; und sie kam auch nicht mit dem harten Schlag der Bauern zurecht. Land und Leute schienen ihr nicht wohlgesinnt:
     "Der Boden war steinig und unfruchtbar, und was wuchs, wurde mit Sicherheit von den Hirschen und Rehen abgefressen. Dazu waren die Bauern gegen uns Zugereiste von unerschütterlichem, misstrauischem Geiz. In der Tat hatten wir ernstliche Schwierigkeiten und führten einen verbissenen Kampf gegen Hunger und Krankheit."
     Die von Heisenberg eigenhändig eingekochten Marmeladen und Obstkisten, die er aus Berlin nach Urfeld schickt, kamen meist gar nicht oder erst nach Wochen "verfault, geplündert oder zerschlagen" an. Aber nun sollte er selbst bald tatkräftig seiner Familie beistehen können. Frühmorgens um halb vier machte er sich am 20. April 1945 mit dem Fahrrad in Richtung Walchensee auf den Weg. In Hechingen konnte er noch ein Päckchen amerikanischer Zigaretten organisieren - eine Lebensversicherung.
     Die Strecke nach Urfeld beträgt ungefähr 270 Kilometer. Aus Furcht vor marodierenden Soldaten und Tieffliegern fährt er vorwiegend nachts. Den Tag verbringt er in Straßengräben, "dicht an den Boden gepresst". Alles befindet sich in Auflösung, Heisenberg sieht Haufen von Jugendlichen, nicht älter als vierzehn oder fünfzehn, die hungernd und ratlos am Wegesrand kampieren und nicht mehr wissen, wo sie hingehören; Horden von Soldaten verschiedenster Nationalitäten, die irgendeinem Ziel zustreben, zerlumpte, fremdsprachige Gestalten, die aus Lagern oder aus der Zwangsarbeit befreit worden sind und nun plündernd durch die Gegend ziehen.
     Gefahren lauern überall, ausweichen und sich verstecken ist am sichersten. An einer Kontrollstation ergibt sich eine höchst gefährliche Situation. Ein junger Soldat winkt ihn aus der Menge und verlangt seine Papiere. Die Lage ist brenzlig, denn jeder Soldat oder Offizier, der unerlaubt seinen Truppenteil verlassen hat, um sich in Sicherheit zu bringen, kann ohne viel Federlesens von einem Standgericht zum Tod verurteilt oder an die Front geschickt werden.
     Heisenberg hat sich Reiseerlaubnis und Marschbefehle selbst ausgestellt, aber ob die Papiere einer näheren Prüfung auch standhalten werden? Als sich der junge Mann anschickt, mit den ungewohnten Dokumenten seinen Vorgesetzten, der in einem Zelt die Untersuchungen durchführt aufzusuchen, pokert Heisenberg hoch.
     Zigaretten sind heißbegehrt und so fragt er den jungen Soldaten, ob er nicht auch gerne rauche. Als der bejaht, langt Heisenberg in seine Hosentasche und zieht die sagenhafte Schachtel Pall Mall hervor. Er drückt sie dem jungen Kameraden in die Hand, ein Blick, und Heisenberg darf passieren. Heisenberg ist überzeugt, dass er sein Leben verloren hätte, wenn er auf einen Nichtraucher gestoßen wäre.
     Die kleine Kreisstadt Weilheim steht in Flammen, als er eintrifft. Kein Zug fährt mehr. Heisenberg schläft ein paar Stunden im Bahnhof auf dem Fahrrad. Ein Güterzug, der sich überraschend in Bewegung setzt, nimmt ihn einige Kilometer mit.
     Weiter geht es wieder mit dem Fahrrad. Nach drei Tagen kommt er in Urfeld an, und seine Frau Elisabeth beschreibt den Eindruck, den ihr Mann auf sie macht, als sie ihn unverhofft, am Rande der Erschöpfung, den Berg heraufkommen sieht: "verdreckt, todmüde und glücklich".
     Vor sechs Jahren war Heisenberg von Urfeld aus nach Berlin aufgebrochen, um dort im Vorgefühl der gigantischen Möglichkeiten die waffentechnische Anwendung der Kernspaltung zu erproben. Vor vier Jahren, als das Deutsche Reich im Zenith seiner Macht stand, war er noch überzeugt gewesen, dass es für die Entwicklung von Kernreaktoren und Nuklearwaffen kein Halten mehr gäbe. "Wir sahen eine freie Straße vor uns". Und nun schleppte er sich, sichtbar gealtert, wie ein um alle Hoffnungen betrogener Kriegsheimkehrer zum Haus. Die kühnen Träume sind verweht, das Spiel ist aus.
     In Urfeld zählen nicht mehr Neutronen, sondern Lebensmittel und Brennholz. Unerlässlich für die Versorgung der Kinder ist der regelmäßige Gang entlang der Uferstraße nach Sachenbach, um an frische Milch zu kommen. Unterwegs begegnet ihm eines Tages der erfolgreiche nationalsozialistische Reiseschriftsteller Colin Ross mit seiner Frau, der in nachbarlicher Nähe in einem schindelgedeckten Holzhaus lebt, das auf den See blickt. Sie haben sich lange nicht gesehen, und Heisenberg drückt den Wunsch aus, man möge sich doch jetzt wieder häufiger begegnen. Erst später wird er sich daran erinnern, wie wortkarg und in sich gekehrt der weitgereiste Colin Ross gewirkt hat.
     Wer überleben will, muss hamstern oder stundenlang Schlange stehen, um vielleicht noch irgendetwas ergattern zu können. Da es in dem winzigen Urfeld nichts zu kaufen gibt, führt der Weg oft nach Kochel. Dort, es ist der 29. April 1945, bekommt er mit, dass ein Zug am Bahnhof steht, aus dessen geöffneten Waggontüren Menschen in Häftlingskleidung blicken. Als Heisenberg nach endloser Warterei und mit dürftiger Ausbeute im Rucksack - nur der Metzger Pfleger rückte ein Stück Fleisch heraus -, nach dem beschwerlichen Weg über den Kesselberg wieder in Urfeld auftaucht, spricht ihn die Tochter von Ernst Brackenhofer, dem Wirt des Gasthofs zur Post an und berichtet, dass Colin Ross und seine Frau in der Nacht zuvor ihrem Leben ein Ende gesetzt haben.
     Heisenberg sucht das Haus auf, um Ross und seiner Frau die letzte Ehre zu erweisen, und blickt in die Gesichter des tot am Boden liegenden Ehepaares, das eine afrikanische Reisedecke umhüllt. In seinen stenogrammartigen Aufzeichnungen, die ihn zum Chronisten der letzten Kriegstage am Walchensee machen, hält er auch fest, dass er beim Betreten des Sterbezimmers zum letzten Mal die Hand zum Hitlergruß erhob. Am 1. Mai erfahren Heisenbergs, dass Hitler tot ist, und Elisabeth Heisenberg erinnert sich, wie sie alle in einen "Taumel der Erleichterung" gerieten. Nun konnte der Krieg nicht mehr lange dauern !
     "Wir holten die letzte Flasche aus dem Keller, die wir eigentlich für die Taufe unserer Tochter aufgehoben hatten, und tranken sie unter Tränen der Erleichterung und Befreiung. Keiner von uns dachte, sich schlafen zu legen, die Hoffnung ließ wieder Zukunft vor unserem inneren Auge aufblühen."
     Aber noch ist der Krieg nicht zu Ende. Auf dem Uferweg nach Sachenbach trifft Heisenberg einmal auf einen versprengten Trupp junger SS-Leute, die nichts von Hitlers Selbstmord mitbekommen haben. Als er ihnen sagt, dass Hitler Dönitz zu seinem Nachfolger bestimmt hat, können die wenigsten etwas mit dem Namen anfangen. Heisenberg bleibt nur noch eine Woche bis zu seiner Verhaftung. Am 30. April bricht Oberst Boris Pash, der militärische Einsatzleiter des Alsos-Kommandos, vom Stützpunkt Heidelberg auf. Er will in München die Physiker Gerlach und Diebner aufspüren und in Urfeld Heisenberg, die Number One, gefangen nehmen.
     Die Festnahme verzögert sich. In letzter Minute gesprengte Brücken erschweren das Vorwärtskommen. Die kleine Vorhut braucht Verstärkung. Noch stehen im Umfeld von Kochel Tausende deutscher Soldaten unter Waffen. Am 2. Mai ist es so weit, und ein Tross von Kettenfahrzeugen, Panzern und Jeeps setzt sich nach Urfeld in Bewegung.
     Elisabeth Heisenberg erschrickt erst, als ihr Oberst Pash gegenübersteht, fasst sich aber, als sie bemerkt, dass es Amerikaner sind, die das Haus umstellt haben. Number One ist nicht da; er ist unten im Dorf und kümmert sich um seine dort untergebrachte Mutter. Auf Befehl von Pash muss Heisenbergs Frau ihn in das oben am Hang liegende Haus zitieren, ohne den Grund des Anrufs verraten zu dürfen.
     Aber es sind keine Erklärungen nötig, die Fahrzeuge auf der Dorfstraße sprechen für sich. Pash beginnt mit der ersten mehrstündigen Vernehmung. Das Gefühl, das Heisenberg empfand, als die Amerikaner ihn festnahmen, vergleicht er später mit dem, "wie es etwa ein zu Tode erschöpfter Schwimmer haben mag, der zum ersten Mal wieder den Fuß auf festes Land setzt".
     Während der Vernehmung sind plötzlich Schüsse zu hören. "Wie wir zu zweit in den Sesseln sitzen, fängt draußen eine wilde Schießerei an", schreibt Heisenberg dazu. "Colonel Pash springt mit der M. P. im Anschlag auf die Terrasse. Ich selbst bin noch zu bewegt davon, dass nun endlich das eingetreten ist, was ich seit vielen Jahren erwartet, gefürchtet, gehofft hatte, dass ich dem kleinen Feuergefecht mit völliger Ruhe und in bester Stimmung zusehe. Nur die übrigen Hausbewohner, besonders die Kinder, werden schnell in den Keller geschickt. Nach etwa zehn Minuten Schießerei (…) wird es ruhig. Ein Major meldet dem Colonel, dass ein SS-Mann getötet, zwei verwundet und gefangen seien, der Rest sei geflohen."
     Ein junger Soldat ist in den letzten Kriegsstunden gefallen und es schneit an diesem Tag. Eine Nacht kann Heisenberg noch in Urfeld verbringen. Als er am nächsten Morgen einen Jeep besteigt, der ihn mit einer beeindruckenden Militäreskorte nach Heidelberg bringen wird, ist das Wetter umgeschlagen. Aus einem dunkel blauen Himmel scheint die Frühlingssonne und taucht die überschneite Landschaft in ein helles, glänzendes Licht. "Ich fragte einen meiner amerikanischen Bewacher, der schon in vielen Teilen der Welt gekämpft hatte", fährt Heisenberg in seinen Erinnerungen fort, "wie ihm unser See zwischen den Bergen gefalle, und er meinte, hier sei das schönste Fleckchen Erde, das er bisher kennengelernt habe." Die Fahrt führt nach Heidelberg, wo amerikanische Spezialisten auf umfangreiche Verhöre vorbereitet sind.

zu Teil 3