Vorgeblättert

Leseprobe zu Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Eine Biografie. Teil 3

14.09.2009.
S. 310 ff

Topik der Entscheidungsgründe für den Nationalsozialismus

Schmitts Option für den Nationalsozialismus geht ein Verlust an Alternativen voraus. Die Habilitationsschrift Wert des Staates führte Staat, Kirche und den Einzelnen als mögliche Orientierungsposten auf. Die romantische Subjektivität schob Schmitt beiseite. Religiosität und Kirche baute er dann als Alternativen auf, um sie im katholischen Milieu seiner Bonner Jahre bald wieder zu relativieren und zu verabschieden. In den Berliner Jahren bis 1933 trat die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft in den Vordergrund. Schmitt suchte nun "neutrale" Bereiche gegen den pluralistischen "Parteienbundesstaat" zu sichern. In der Alternative zwischen dem Staat als "Selbstorganisation der Gesellschaft" und einem "qualitativ" "starken" Staat optierte er dann für den Leviathan oder Behemoth. Schmitt rang nach dem Januar 1933 mit seiner Entscheidung. Was nach dem 23. März den Ausschlag gab, lässt sich nicht genau sagen. Verschiedene Motive und Gründe aber lassen sich nennen. Nicht alle müssen Schmitt handlungsleitend bewusst gewesen sein. Gewiss schwankte er einige Zeit in seiner Entscheidung und vertrat sie bisweilen nicht ohne Bedenken und Reue. Wie ging er mit sich zu Rate? Abstrahieren wir einige Motive und Gründe einigermaßen unsortiert:

1. Das sozialgeschichtliche Argument: Die Zeit und politische Form des Bürgertums ist vorbei! Der "Staat des 20. Jahrhunderts" muss anders verfasst sein!

2. Das Antiliberalismus-Argument: Der Nationalsozialismus realisiert mein Konzept einer autoritären, antiliberalen Führerdemokratie, die offen Freund und Feind unterscheidet.

3. Das Nationalismus-Argument: Der Nationalsozialismus hat als "nationale Revolution" die Legitimität des "deutschen" Widerstandes gegen die "Sieger" von 1918 für sich!

4. Das pluralismuskritische Argument: Der "Parteienstaat" spaltet die "Einheit" des Volkswillens!

5. Das föderalismuskritische Argument ("Preußenschlag-Argument"): Die Eigenstaatlichkeit der Länder und insbesondere der "Dualismus" Preußen/Deutschland schwächen die Reichseinheit bis zur Unregierbarkeit!

6. Das ordnungspolitische Argument: Nur mit dem Nationalsozialismus lässt sich heute der Bürgerkrieg verhindern! Der Nationalsozialismus ist keine Bürgerkriegspartei mehr!

7. Das Patriotismus-Argument: Wir müssen uns der Weltöffentlichkeit gegenüber loyal zeigen!

8. Das Legalitätsargument: Der Nationalsozialismus errang die Macht auf legalem Weg! Hitler wurde vom Reichspräsidenten ernannt und vom Reichstag ermächtigt!

9. Das Legitimitätsargument: Der nationalsozialistische Führerstaat ist demokratisch und plebiszitär legitimiert! Ich muss ihn advokatorisch vertreten!

10. Die persönliche Enttäuschung: Hindenburg hat versagt! Ein anderer "Mythos" muss her!

11. Die persönliche Rache: Schleicher ließ mich am Ende fallen! Papen war treuer und rief mich erneut! Er soll es machen!

12. Das Charisma-Konzept: Hitler ist ein charismatischer Führer! Göring und Frank sind es auch!

13. Das soziale Argument: Hitler schafft einen plebiszitär legitimierenden Wohlfahrtsstaat!

14. Das Wirtschaftsstaats-Argument: Wir brauchen einen neuen Staatssozialismus! Nur ein faschistischer Staat setzt den Primat der Politik über der Wirtschaft durch!

15. Das Zähmungsargument: Ich muss Schlimmeres verhüten helfen!

16. Das Reformismus-Argument: Ich habe rechtspolitische Ideen für einen Einparteien-Staat!

17. Die romantizistische Homogenitätsutopie: Deutschland muss wieder eine große Gemeinde werden!

18. Die Haltung der Zentrumspartei: Prälat Kaas und das Zentrum haben sich um des Konkordats willen arrangiert und Hitler ermächtigt!

19. Das kirchenpolitische Argument: Die Kirche muss ihre Institutionen sichern und einen Modus vivendi finden!

20. Das Obrigkeits-Argument: Juristen müssen als Funktionselite staatstragend und loyal sein!

21. Das Opportunismus-Argument: Es ist nicht so schlimm! Die anderen machen auch mit!

22. Das Karriere-Argument: Ich will weiteren Aufstieg!

23. Die fehlende Alternative: Als deutscher Jurist kann ich nur in Deutschland arbeiten! Ich kann nicht emigrieren!

24. Das Curiositas-Argument: Neugier ist legitim! Was da kommt, will ich aus der Nähe sehen!

25. Das Hybris-Argument: Ich bin ein (großer, unersetzbarer) deutscher Jurist! Nur ich kann es richten!

26. Das Kairos-oder-Fortuna-Argument: Die Situation ist da! Jetzt muss gehandelt werden!

27. Das Picaro-Argument:32 Ich bin ein "intellektueller Abenteurer", ein ironischer Spieler! Die Langeweile des Lebens ist nur auszuhalten, wenn man es ins Spiel hebt!

28. Das Narzissmus-Argument: Ich bin der Größte! Alle Welt soll das wissen und sagen!

29. Das Ressentimentgefühl: Alle missachten und betrügen mich! Jetzt schlage ich zurück!

30. Das Vorsorge-Argument: Meine Frau ist krank! Ich brauche höhere Einnahmen für mich und meine Familie!

31. Das Freundschafts-Argument: Freunde wie Oberheid und Popitz haben mich zur Mitarbeit aufgefordert!

32. Das Paternalismus-Argument: Ich brauche mehr Einfluss in der Zunft, um die Karriere meiner Schüler zu befördern!

33. Das Revisionismus-Argument: Nur der Nationalsozialismus kann "Versailles" und "Genf" effektiv revidieren!

34. Das großdeutsche Argument: Hitler steht für die Zugehörigkeit Österreichs zur deutschen Nation!

35. Das geopolitische Mitteleuropa-Argument: Wir brauchen eine Neuordnung des Großraums Europa unter deutscher Führung!

36. Das Machiavellismus-Argument: Moralische Hemmungen schaden in der Politik nur! Wir befinden uns im Naturzustand!

37. Das Zynismus- und Nihilismus-Argument: Ich bin mit allem durch. Die Nazis hatten wir noch nicht! Warum nicht die Nazis?

38. Das Präventions-Argument: Die politische Welt liegt in Trümmern. Rüste sich wer kann! Die bösen Nachbarn warten nicht!

39. Das katechontische Argument: Ich versuche mich als Aufhalter gegen das "Ende der Politik" und Geschichte: gegen die Beschleuniger der Neutralisierungen und Entpolitisierungen!

40. Das apokalyptische (antikatechontische) Argument: Diese Welt ist verflucht! Beschleunigen wir ihren Untergang!

41. Das antisemitische Argument: Die Juden sind unser Unglück! Die Assimilierung muss irgendwie rückgängig gemacht werden!

42. Das eschatologische Argument: Wir müssen die religiöse Entscheidungsschlacht führen!


Schmitt hätte weitere Argumente aus dem Ärmel geschüttelt. Über einige schwieg er sich aus. So war ihm die konfessionelle Betrachtung des Nationalsozialismus in der Entscheidungslage von 1933 zunächst kaum ein Thema. Andere Argumente hat er eindeutig gewichtet: So stellte er die "Legitimität" der "Machtergreifung" über deren "Legalität". Er sah sich in einer Zeitenwende und plädierte für eine autoritäre Reform des Reiches. Dabei glaubte er niemals an Hitlers Charisma. Geltungsdrang und advokatorische Neugier spielten eine Rolle. Schmitt sagte 1947 in Nürnberger Haft von sich: "Ich bin ein intellektueller Abenteurer" (AN60), der "Phrasen einen Sinn" (AN54) geben wollte und keine andere "Tribüne" (AN55) als das Nazireich hatte.(33) Er kämpfte mit seinem Ressentiment: Mit der "bürgerlichen" Welt war er zerfallen. Er fühlte sich als Außenseiter und wollte endlich einmal Insider sein. Einige Argumente stellte er immer wieder in den Vordergrund: So gab er dem Reform und dem Freundschafts-Argument große Bedeutung. In einem Rundfunkgespräch von 1972 analysierte er rückblickend seinen Entschluss zur Mitarbeit. Er betonte die Bedeutung der Gespräche mit Popitz, der dem Reichskabinett angehörte, und dann die konkrete Zusammenarbeit mit Popitz als rechtspolitische Konsequenz seines Einsatzes für das "Reich". Rückblickend meinte er: "Popitz war mein bewährter Freund, seit Jahren - ein sehr naher Freund. Und wenn der mir telegraphierte: 'Morgen Nachmittag 5 Uhr Berlin Staatsministerium', dann machte ich einfach mit. Das war aber auch schon Mitarbeit mit Hitler."(34) Das Argument ist schwach. Denn Schmitt erkannte den Nationalsozialismus sofort als "Revolution" und markierte ihn schon vor dem Reichsstatthaltergesetz als Zäsur. Von diesem Befund her ist die Diskussion um Kontinuitäten und Brüche beantwortet: Alle Kontinuitäten stehen im Horizont einer basalen Legitimitätszäsur. Schmitt stellte seine Mitarbeit ins Licht einer Gesamtentscheidung und Gesamtverantwortung, machte sich keine Illusionen darüber, dass er den Rubikon des bürgerlichen Rechtsstaats überschritten hatte und es kein Zurück in die bürgerliche Wissenschaft mehr gab. Von Anfang an nahm er den Nationalsozialismus auch als antisemitischen Staat wahr. Wie wenige sah er Politik im Licht prinzipieller Auseinandersetzungen und Kämpfe. Dass er ins "Reich der niederen Dämonen" eintrat, wie Ernst Niekisch es nannte, und mit einer Bande von Vandalen, Räubern, Mördern und Irren paktierte, zeichnete sich bald ab.


Mit freundlicher Genehmigung des Verlages C.H. Beck

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