Vorgeblättert

Leseprobe zu Martin Kohan: Sekundenlang. Teil 1

05.02.2007.
Eins

Es ist ein Seil, Dempsey weiß das, und kein Gummi. Mit genau so einem Seil trainiert er im Boxclub; ein bißchen dicker, klar, und mit Leinen umwickelt, aber im Grunde genommen nichts anderes als ein Seil. Die Fasern, aus denen es besteht, können sich also nur bis zu einem bestimmten Punkt dehnen, weiter nicht. Jede einzelne Faser dehnt sich, ohne zu reißen, jede einzelne und alle zusammen schützt der Leinenüberzug, ein paar Millimeter, ein paar Zentimeter, jede Faser ein bißchen, alle zusammen soundso viel. Es ist kein Gummi, das ginge gar nicht, es wird ihn nicht, wenn er jetzt zurückweicht, mit gleicher Kraft, aber in Gegenrichtung schleudern. Dempsey weiß das. Trotzdem nimmt er vage an, während er rücklings fällt, daß das Seil fest genug ist, um ihn aufzuhalten, ihm Halt zu geben, es dehnt sich, schätzungsweise dreißig Zentimeter, fünfzig Zentimeter, dann befördert es ihn zurück nach vorn, und er steht wieder auf den Beinen. Daran denkt Dempsey, benommen von einem brutalen Schlag des Argentiniers, er hat vergessen, wie er heißt, Fripp oder Flipp, die anderen nennen ihn den Stier; daran denkt er und hofft, wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht, daß er genau unterhalb der Schulterblätter auf das Seil treffen wird. In diesem Fall geht er nicht zu Boden. Mag das Seil auch noch so wenig nachgeben, mag seine Verwandtschaft mit einem Gummi - genaugenommen das, was Jack Dempsey jetzt bräuchte - auch kaum zu erkennen sein, trotzdem kann er wohl darauf zählen, daß es den Sturz abfangen und ihn aufrecht in den Kampf zurückbefördern wird. In dieser Hoffnung stürzt er. Sein Gesicht tut weh, aber er konzentriert sich vor allem auf den Rücken, darauf, was er im Rücken spüren wird, sobald er das Seil erreicht. Wie lange dauert das? Ganz kurz. Sein Gesicht brennt noch, der Knochen tut immer noch weh, aber im Rücken, unterhalb der Schulterblätter, genau da, wo er es erwartet hat, spürt er das Seil. Das Seil (beziehungsweise das Leinen, und unter dem Leinen das Seil): da spürt er es, unterhalb der Schulterblätter, wie erwartet, aber es fühlt sich sehr feucht an, um nicht zu sagen naß, damit hat er wirklich nicht gerechnet. Das Seil ist naß. Vielleicht haben seine Sekundanten, seine oder die des anderen, es vor Beginn in der Ecke ein wenig übertrieben mit dem Wasser-ins-Gesicht-Schütten, in sein Gesicht oder in das des anderen. Nicht auszuschließen, Dempsey schließt es nicht aus, daß sein Rücken naß ist, sein Rücken und nicht das Seil, oder nicht nur das Seil, sein breiter, starker, muskulöser Rücken, eindeutig ein Boxerrücken. Die Luftfeuchtigkeit, der Schweiß, der Sabber, der dem anderen aus dem Mund gelaufen ist, falls er irgendwann, bei einem Clinch, einer Umarmung, unwillkürlich den Kopf auf seine Schulter gelegt hat - es gibt mehrere mögliche Erklärungen, aber keine davon spielt jetzt eine Rolle: Tatsache ist, das Seil, oder der Rücken, oder beides ist naß. Und als der stürzende Dempsey das Seil erreicht, in der Erwartung, er könne sich hineinlehnen wie in eine Gummischnur, gleitet er zu seiner Überraschung darüber hinweg. Naß wie er ist, gleitet er mit ungebremstem Schwung rücklings über das nasse Seil. Er wird zu Boden gehen. Nichts zu machen. So was kommt vor beim Boxen, Dempsey weiß das. Er wird zu Boden gehen. Aber das Seil hält nicht einmal seinen Sturz auf. Es streicht ihm über Schulterblätter, Nieren und Hüfte; es gibt den Weg frei und läßt ihn ins Bodenlose stürzen, statt seinen Fall aufzuhalten. Er wird zu Boden gehen: nichts Besonderes im Leben eines Boxers. Aber da ist noch mehr. Er wird nicht in die Seile fallen und im Ring zu Boden gehen wie sonst. Weil alles so naß und glitschig ist, wird er zwischen den Seilen hindurchrutschen und außerhalb des Rings zu Boden gehen. Davon weiß Dempsey noch nichts.


"Es gibt einen interessanten Ausspruch von Gustav Mahler. Von dem Böhmen Gustav Mahler, dem Komponisten. Mahler hat gesagt, die ausdrucksstärksten Passagen seiner Musik überlasse er nicht den ausdrucksstärksten Instrumenten, etwa den Geigen, sondern den härtesten, den Blechbläsern, einer Trompete oder einer Posaune. Interessant, oder? Die ausdrucksstärksten Passagen mit den am wenigsten ausdrucksstarken Mitteln.
Interessant."
     "Besonders einleuchtend finde ich das nicht. Ist doch wohl eher ein ziemlicher Quatsch. Und wenn jetzt Firpo zum Beispiel, wenn er zum K.o. ansetzt, wenn er da extra sanft austeilen würde, statt mit voller Wucht - was würden wir dazu wohl sagen? Was für ein Schwachkopf!"
     "Also bitte, Verani, jetzt hört?s aber auf!" "Was Sie sagen, ergibt einfach keinen Sinn. Hat weder Hand noch Fuß."
     "Aber das stammt doch nicht von mir, verstehen Sie, das ist ein Ausspruch von Gustav Mahler."
     "Von wem auch immer, Ledesma, ist doch scheißegal. Blöd bleibt es allemal."
     "Ich verstehe überhaupt nicht, wie man so vernagelt sein kann. Wirklich, so was von vernagelt. Als ob das irgendwie vergleichbar wäre."
     "Was Sie da sagen, hat weder Hand noch Fuß."
     "Ein Boxkampf - den anderen zu Boden schlagen, ihm Schmerzen zufügen. Und eine Symphonie, und dann auch noch die Erste von Mahler. Sie haben wirklich überhaupt keine Ahnung."
     "Sie haben gesagt: Wo es weich wird in der Musik, volle Wucht. Und umgekehrt. Das ist doch Quatsch."
     "So kommen wir nicht weiter, Verani, Sie sind eben immer noch nicht bereit, sich auch nur ein winziges Stück von dem Werk anzuhören."
     "Davon schlafe ich ein, Ledesma, was soll ich machen."
     "Ich meine ja nicht, die ganze Symphonie. Bloß ein Stückchen, zum Kennenlernen."
     "Fragen Sie doch mal Roque."
     "Meinetwegen, Roque, ja, warum nicht."
     "Da ist er, fragen Sie ihn."
     "Aber - und Sie?"
     "Ich habe jetzt wirklich schon genug Zeit vertan, ich bitte Sie. Wann sollen wir die Artikel abliefern? Ich habe noch nicht mal richtig angefangen."
     "Wir haben noch zwei Wochen Zeit. Der wievielte ist heute? Noch zwölf, fünfzehn - Moment, wir haben noch über fünfzehn Tage Zeit. Siebzehn Tage haben wir noch.
Genaugenommen."
     "Na eben, wir haben schon reichlich Zeit vertan. Hier, unser Freund Roque, den interessiert so was, das sieht man ihm an. Fragen Sie den doch."


Angeblich hat er, unmittelbar bevor er starb, ein Glas Wasser umgestoßen, es mit einer ungestümen, gierigen Handbewegung auf den Boden befördert, oder auch in aller Ruhe, wie jemand, der nach etwas greift, das auf seinem Nachttisch steht, den Arm ausgestreckt und sich verschätzt, so daß das Glas umkippte und zu Boden fiel.
Man weiß es nicht, vielleicht wollte er noch eine Tablette aus der lila Schachtel nehmen, weil er sich schlecht fühlte, oder er wollte die Nachttischlampe einschalten - weil er gar nicht merkte, daß noch längst nicht Abend war und heller Sonnenschein ins Fenster fiel. Weniger wahrscheinlich ist, daß er versucht haben könnte, nach dem Telefon zu greifen, seinen letzten Rest Energie darauf zu verwenden, eine Nummer zu wählen und jemanden zu benachrichtigen oder um Hilfe zu bitten, so als hätte er vergessen, daß das Telefon bei ihm nie auf dem Nachttisch stand, oder geglaubt, unversehens in einem Zimmer zu liegen, in dem er sich zu anderer Zeit einmal aufgehalten hatte.
     Aber das ist jetzt auch egal. Derlei Nebensächlichkeiten erwähnt man, um nicht einfach nur die knappe, unweigerlich lakonische Nachricht verkünden zu müssen, daß Ledesma kurz nach Mittag, allein bei sich zu Hause, auf dem Rücken liegend, in die Laken verknäult, gestorben ist. So heißt es in dem Anruf. ("Roque, Ledesma ist gerade gestorben.") Das Wort Tod fällt ebensowenig wie zuvor das Wort Krebs. ("Roque, er ist krank. Da ist nichts zu machen. Hat den Schwarzen Peter gezogen.") Schweigen, ich sage nichts, und schon kommen die Einzelheiten: das umgestoßene Glas, das verschüttete Wasser, keine Ahnung, was er in dem Moment vorhatte, komisch, ist doch komisch, oder? Auf jeden Fall, er ist gestorben, und niemand kann behaupten, Ledesma habe nicht gemerkt, daß er stirbt.
     Es folgen ein paar genauere Angaben: Heute nacht ist die Totenwache. ("So gegen neun, halb zehn.") In einem der beiden Leichenhäuser der Stadt. ("Nein, nicht Gebrüder Vignazzi, das andere.") Danach heißt es bloß noch, sich an die Vorstellung gewöhnen, daß ich Ledesma nie wiedersehen werde. Die Beerdigung ist morgen vormittag, kurz nach elf.
     Es wird Abend, es ist neun Uhr, aber ich gehe nicht zur Totenwache. Ich schlafe auch nicht, lege mich nicht hin, vertue meine Zeit nicht, versuche nicht, an etwas anderes zu denken - ich gehe einfach nicht hin. Mehrere Stunden lang denke ich nur an Ledesma, das reicht. Mehr als einmal kommen mir Zweifel, und ich frage mich, ob ich nicht eigentlich dort sein müßte, bei den Kränzen, den Verwandten, den ehemaligen Freunden, den Kollegen.
Aber jedesmal sage ich mir, nein, besser bleibe ich hier ("Lieber nicht, wozu?"), und während ich so hin und her überlege, öffne ich den Kleiderschrank und nehme die Tasche aus dem obersten Fach.
     Draußen im Hof wird es schon hell. Ich ziehe das Rollo hoch. Ich packe nur das Notwendigste ein und frage mich, wie wohl das Gesicht des toten Ledesma aussieht, und ob ich deswegen nicht zur Totenwache gegangen bin, weil ich Verani nicht über den Weg laufen will. Die Tasche wiegt kaum etwas: ich werde sie nicht aufgeben müssen. Wenn ich ein bißchen Druck mache, lassen sie sie als Handgepäck durchgehen, dann brauche ich nach der Landung nicht am Förderband zu warten.
     Ledesmas Tochter wurde gestern abend telefonisch benachrichtigt.
Es war nicht leicht, sie zu erreichen, sie war nicht zu Hause und nicht mehr bei der Arbeit. Als sie sie endlich am Apparat hatten und ihr die schlimme Nachricht mitteilen konnten ("Raquel, dein Papa. Es geht um deinen Papa"), war es schon zu spät für die Abendmaschine. Deshalb kommt sie erst heute, zur Beerdigung, zum erstenmal seit fast zwanzig Jahren. Ich frage mich, ob ich zur Beerdigung auch nicht gehen soll, ebensowenig wie zur Totenwache. So brauche ich nicht dabeizusein, wenn Verani und Ledesmas Tochter sich wiedersehen.
     Es ist acht Uhr morgens.

Leseprobe Teil 2

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