Vorgeblättert

Leseprobe zu Martin Caparrós: Die Ewigen. Teil 2

26.05.2014.
Er hatte wohl lange Zeit diesen Ruf nicht in sich verspürt. Oder vielleicht doch, aber sein Pflichtgefühl hatte ihm diktiert, er müsse erstmal eine Reihe von Kästchen abhaken, bevor er ihm folgte. Nach dem Militärdienst an einem verschneiten Standort im Süden des Landes - an den er sich immer, mit einer merkwürdigen Freude, als furchtbare Erfahrung erinnerte - musste mein Vater sich entscheiden, was er aus seinem Leben machen wollte. Ihm war etwas widerfahren in diesen Tagen im Schnee: Eines Nachmittags - obwohl von Nachmittag eigentlich nicht die Rede sein kann; der Uhr nach war es zwar Nachmittag, doch es war schon seit einer geraumen Weile stockfinster - hielt mein Vater auf einem Vorposten Wache. Es war ein notdürftiger Unterstand, eine Art umgestülptes Nest aus verschlungenen, schneebedeckten Ästen, darunter gefrorene Erde und vorne eine Öffnung, durch die der diensthabende Soldat den eintönigen Horizont im Auge behalten sollte, in der Hoffnung, dass sich auch weiter nichts täte. Mein Vater döste vor sich hin, in diesem halbwachen Dämmerzustand, den die jungen Rekruten im Heer als Erstes lernen - eine Weise, anwesend und zugleich nicht anwesend zu sein, eine Lektion, bequem im Vagen zu bleiben -, als er am linken äußeren Rand seines Gesichtsfeldes zwei Schatten gewahrte. Die Schatten bewegten sich langsam; mein Vater schloss die Augen, schüttelte den Kopf und öffnete sie wieder und erkannte, dass es sich um zwei Gestalten mit menschlichen Umrissen handelte, zwei in Decken gehüllte Körper, die sich durch den Schnee kämpften und immer wieder einsanken. Es gab keinen Grund, dort ent-langzugehen: Das nächste Dorf lag weit ab, es gab keine Mapuche-Reserveeinheiten in der Gegend, die Feinde des Vaterlandes waren Hunderte von Kilometern entfernt und wussten nicht einmal, dass sie Feinde waren. Mein Vater musste die beiden auffordern anzuhalten, und das tat er auch, aber vielleicht nicht laut genug. Die Schatten marschierten weiter; mein Vater rief nochmals, sie sollten anhalten, lauter diesmal; die Schatten setzten unbeirrt ihren Weg fort. Mein Vater überlegte kurz, ob es sich vielleicht um taube Geister handelte, verwarf den Gedanken schnell wieder, aber so ganz ließ er ihn nicht los. Er rief erneut und dachte dabei, dass sich seine Stimme überschlug, als richteten sich die Drohungen gegen ihn selbst - nicht gegen sie. Sie mussten ihn gehört haben: Sie waren weniger als dreißig Meter entfernt, eigentlich müssten sie ihn sogar sehen können. Er war heilfroh, dass er nicht gerade eine rauchte, spuckte auf den vereisten Boden, nahm sein Mausergewehr, spannte es und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Er dachte, die Schatten waren bestimmt harmlos - zwei durch die Nacht irrende Frauen, zwei betrunkene Soldaten, die von einem Freigang oder einem heimlichen Ausflug heimkehrten -, und dann dachte er, dass es nicht seine Aufgabe war zu denken, sondern zu handeln, Befehle zu befolgen, und dass es nach drei unbeachtet gebliebenen Warnungen an der Zeit war zu schießen. Er wollte das Mausergewehr spannen, stellte fest, dass es bereits gespannt war, und dachte, wenn es sich tatsächlich um Feinde handelte und er schösse, würden sie vielleicht das Feuer erwidern und ihn töten, und wenn es sich nicht um Feinde handelte, würde er vielleicht einen Unschuldigen töten. Unterdessen marschierten die beiden Schatten immer weiter, sie befanden sich bereits am rechten Rand seines von Zweigen verdeckten Sichtfeldes; mein Vater legte das Gewehr an, schloss ein Auge, zielte und verfolgte die sich entfernenden Schatten. Als er sie zwischen anderen Schatten verschwinden sah, war ihm klar, dass er einen Fehler begangen hatte, den er nur schwer vergessen würde.

Sein Vater Orestes, ein aus Galicien eingewanderter Gerber, der an die Tugend harter Arbeit und vor allem an die des Rotweins aus Mendoza glaubte, hatte ihn vermittels Einsatz von Gürtel und Schnalle gezwungen, eine technische Schule zu besuchen. Mein Vater hatte seinen Abschluss gemacht, und 1960 hatte es ein gut ausgebildeter Facharbeiter in Argentinien nicht schwer, eine Stelle zu finden. Deshalb war seine Wahl für alle überraschend. Obwohl sein Talent im Umgang mit Vorschlaghammer und Schneidbrenner ihm viele Angebote eingebracht hatte - als Geselle auf einer Werft oder als Dreher in einer Motorradfabrik, man hatte ihn sogar an die Schule für Angewandte Kunst eingeladen -, wurde mein Vater Karosseriemechaniker, weil man damit, so sagte er, einen Kreuzzug gegen Pharisäer und Heuchler jedweder Couleur und Klasse führe. Die Leute - pah, die Leute, wenn ich das schon höre, diese Betrüger hinterm Lenkrad, sagte er oft - erzählen einem, sie würden mit dem Auto fahren, weil man so bequemer ans Ziel kommt, weil sie viel arbeiten und keine Zeit verlieren wollen, weil sie viele Waren transportieren müssen, oder sonst einen Blödsinn; niemand sagt dir die Wahrheit: Niemand gibt zu, dass er Auto fährt, weil er gesehen werden will, damit die anderen sagen, ah, der fährt Auto, dem geht's aber gut. Das Auto ist ein als Werkzeug verkleidetes Schmuckstück. Denn wenn es kein Schmuckstück wäre, würde sich niemand um die Karosserie scheren. Wen stört es, wenn der Griff eines Hammers Flecken hat? Wer regt sich darüber auf, wenn das Kabel des Bohrers reißt und er sich mit einem in einer anderen Farbe behelfen muss? Solange man damit hämmern oder bohren kann, sagte mein Vater, interessiert es keinen; wäre das Auto ein Werkzeug, würde niemand die Beulen oder den Lack reparieren lassen. Aber sie kommen; beim kleinsten Kratzer tauchen sie auf, Oscar, was kostet das, bis wann kannst du's machen: Hier fallen sie auf die Nase, hier kann sich keiner dumm stellen, hier sind sie, was sie sind, nichts mit Lügen, hier müssen sie die Hosen runterlassen und sich zu dem bekennen, was sie sind. Hier kriechen sie zu Kreuze und sagen, draußen lüge ich, aber bei dir kann ich das nicht. Deshalb gefällt mir die Arbeit als Karosseriemechaniker, sagte er, deshalb habe er sich dafür entschieden. Ich bin wie dieser steinerne Mund, sagte er, von dem Großvater erzählt hat, in Rom, in einer Kirche. Die Idioten stecken ihre Hand in den Mund und müssen etwas sagen, und wenn es gelogen ist, schnappt er zu. Ich bin La Bocca, sagte er: Ich kümmere mich um die Karosserie.

Mein Vater hatte Regeln: viele Regeln. Er liebte sein Land über alles, denn das Land, sagte er, habe ihm alles gegeben: Seine Eltern seien bettelarm aus Orense und aus Raggio Calabria hierhergekommen, und sie hätten immer zu essen, ein paar Schuhe und ein Dach über dem Kopf gehabt, und deshalb sei er bereit, dem Vaterland zu geben, was es von ihm verlangte - sagte er, aber es ist nicht klar, ob es ihn je um etwas gebeten hatte. Mein Vater war überzeugt, dass es irgendwann so kommen würde, denn diese Betrüger, die alle naselang, beim kleinsten Fleck, in der Karosseriewerkstatt auftauchten, würden das Land ruinieren. Er sagte, er schäme sich seinem Vater gegenüber, der nach Argentinien gekommen war, um zu arbeiten, damit die Kinder eine Zukunft hatten, der sich abgerackert und ihnen eben jene Zukunft geschenkt hatte, und jetzt dächten die Kinder dieser Männer nur an ihr Vergnügen. Immer dieselbe Leier: Die Jungs, die sich auf Partys rumtrieben, die Mädchen, die sich an keine Regeln hielten, diese Studenten, die ständig von Politik und Revolution schwadronierten, damit sie nicht arbeiten gehen müssten, und allein harte Arbeit könne uns retten. Manchmal, sagt Bobby, sprach mein Vater so viel darüber, dass man sich schon fragte, ob er das tatsächlich glaubte.
Mein Vater hasste den Peronismus, weil sich unter den Peronisten, wie er sagte, jeder für einen Arbeiter hielt. In den guten alten Zeiten - es gibt wohl kaum einen schwammigeren, umstritteneren Begriff als die guten alten Zeiten - musste man erstmal eine Lehre machen, um ein Arbeiter zu sein, man musste schuften, so manches ertragen, doch mit den Peronisten hielt sich jeder dahergelaufene Provinzler aus Santiago del Estero, dem ein Cousin eine Putzstelle in einer Fabrik in der Hauptstadt besorgt hatte, schon nach zwei Monaten für einen Arbeiter. Wenn einer der Jungs einwarf, was er denn schon wüsste, er habe doch Peróns Zeiten gar nicht erlebt, sah mein Vater ihn mitleidig an und sagte, erstens, doch, er habe sie erlebt, bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr, und zweitens sei Peróns Zeit ja leider noch nicht vorbei und drittens, das habe sein Vater ihm gesagt, und er glaube, was sein Vater sagt. Aber mein Vater hat sich nie in die Politik eingemischt, damit wolle er nichts zu tun haben, sagte er: Politik ist für diejenigen, die nichts Vernünftiges zustande bringen - wie oft musste ich später an diesen Satz denken. Vor der Hochzeit hat mein Vater nur mit Huren gevögelt: Anständige Frauen darf man nicht beflecken, Punkt eins, und Punkt zwei, mit den unanständigen gibt es nur Probleme. Mein Vater war sehr ordentlich: Er führte seine Gründe gerne der Reihe nach auf und diskutierte, falls nötig, auch in dieser Reihenfolge darüber, deshalb, heißt es, war es schwer, mit ihm zu diskutieren. Es sei also besser, zu löhnen und allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, sagte er, und außerdem seien diese Frauen fleißig, alles andere als leichtfertig, fast wie Arbeiterinnen. Jahrelang nahm mein Vater an jedem ersten und dritten Samstag des Monats nach Werkstattschluss ein ausgiebiges Bad, zog ein sauberes weißes Hemd, sein braunes Sakko und eine Krawatte an und ging zum Bordell von Doña Mencha. Er kam immer früh, tanzte nicht, wählte von zwei oder drei Mädchen eines aus - es waren immer dieselben, das Unbekannte reizte ihn nicht - und verschaffte sich in einer knappen halben Stunde Erleichterung. Dann zog er sich wieder an, strich sich Pomade ins Haar - fünfzig Centavos Aufpreis -, zahlte und ging ins Bahnhofscafé, wo er einen Wermut trank und Billard mit den anderen Jungs spielte, die stundenlang nur über Frauen redeten. Mein Vater war ein ausgezeichneter Billardspieler und redete nur wenig. Mein Vater hatte so viele Regeln, dass ich manchmal denke, es war eine glückliche Fügung, dass ich von ihm verschont blieb.

Mein Vater hatte seine Laufbahn als Karosseriebauer in einer Werkstatt im Zentrum von Lanús begonnen, die einem gewissen Wolf Hörmann gehörte. Wolf, ein verschlossener, beinharter Deutscher mit einem fragwürdigen Spanisch und einer noch fragwürdigeren Vergangenheit, hatte ihm widerwillig nur das Allernötigste beigebracht, doch dank seiner Begabung lernte mein Vater das Schweißerhandwerk gut und schnell. Mit gerade mal achtundzwanzig Jahren erledigte er bereits alle Arbeiten, und er überlegte, ob er sich nicht selbständig machen sollte. Aber zugleich dachte er, dass er heiraten und eine Familie gründen müsste; mit beiden Pflichten sah er sich überfordert und glaubte, ihnen nicht gerecht werden zu können. Er war versucht, -beides zu vergessen: Eigentlich war er zufrieden mit seinem Leben, für ihn hätte es noch viele Jahre so weitergehen können. Hätte er nicht so viel Pflichtgefühl besessen, hätte er das vermutlich auch getan - und ich wäre nicht auf der Welt. Ich bin - wie wir alle - das Ergebnis der Unzulänglichkeit eines anderen.
Natürlich wäre ich auch nicht auf der Welt - die Möglichkeiten der Nichtexistenz gehen ins Unendliche -, wäre ihm meine Mutter nicht über den Weg gelaufen. »Über den Weg gelaufen« ist so eine Redensart, die, wie alle, gerne missbräuchlich verwendet wird: Im Grunde hat mein Vater meine Mutter jahrelang jeden Mittag vorbeigehen sehen, auf dem Heimweg von der Oberschule, wo die Nonnen des Perpetuo Socorro ihr Bestes gaben, aus ihr eine angepasste junge Dame zu machen, was ihnen, von einigen kleinen Entgleisungen abgesehen, auch zunehmend gelang. Mein Vater beobachtete also - anfangs nicht bewusst, aber später mit wachsendem Interesse -, wie meine Mutter sich ohne Dazutun der Nonnen in eine Frau verwandelte, aus der eben auch meine Mutter werden konnte. 1968, mit achtzehn, kurz vor dem Wirtschaftsabitur, war meine Mutter - die Fotos verraten es - eher klein, aber dafür hatte sie was auf den Rippen, oder anders ausgedrückt: Mit Fettpölsterchen war sie reichlich gesegnet. Fett spielt überall eine entscheidende Rolle, ob beim Essen, bei der Seife, bei den Motoren, bei den Körpern, und es wird heutzutage zu Unrecht verteufelt: Es ist vielleicht nicht der größte Fehler unserer Kultur, aber man darf ihn auch nicht verharmlosen. Sollen uns doch all die, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, gegen das Fett zu Felde zu ziehen - Ärzte, Ernährungsexperten, hochnäsige Frauenzimmer -, mal erklären, wie die Welt denn ohne Fett auskommen soll; das können sie natürlich nicht. Und das ist sehr wohl einer der größten Fehler unserer Kultur: Sie zieht gegen viele Dinge zu Felde, die sie gar nicht auslöschen will, ohne die sie gar nicht fortbestehen kann.
Jedenfalls war meine Mutter mit ihren Rundungen an den richtigen Stellen eine echte, mit Verlaub, Killerpraline, wie es bei uns im Viertel heißt. Der Ausdruck trifft es genau: Die Vorstellung von Naschwerk, das dich umbringt, von deiner Gier, die dir zum Verhängnis wird, von der Gefahr, die in jedem Genuss lauert. Meine Mutter hatte schwarzes Haar, große schwarze Mandelaugen und einen sinnlichen Mund, und die Hakennase, der einzige kleine Makel, verlieh ihr - behauptete sie und vielleicht glaubte sie es auch - eine persönliche Note. Während Argentinien sich 1968 darauf vorbereitete, endlich seine privilegierte Stellung im internationalen Konzert der Nationen einzunehmen, wartete mein Vater jeden Tag auf die Schritte der Gestalt, die ihm - zwischen zwölf Uhr zwanzig und zwölf Uhr fünfundzwanzig - demütigend vor Augen führte, dass er unfähig war. Ich weiß nicht, ob er je über sein Unvermögen nachgedacht hat: Ich kann ihn mir in diesen kritischen Momenten nicht vorstellen - wie auch in fast keinen anderen. Jedenfalls war er abgelenkt, als er sich den Daumen quetschte.
In seinem Beruf kam es häufig zu Unfällen, doch dieser Schlag traf ihn, weil er mit den Gedanken woanders war: Weil er ihr nachsah, weil er mit dem Blick ihr schwingendes Hinterteil verfolgte, traf der Hammer brutal seinen linken Daumen, und ungeachtet all seiner Regeln fluchte er wie ein Kesselflicker. Es war nicht zu überhören; meine Mutter blieb stehen und sah - zum ersten Mal, wie sie immer behauptet hat; hatte sie es tatsächlich fertiggebracht, jahrelang an der Werkstatt vorbeizugehen, ohne meinen Vater zu bemerken? - den Proletarier, der sich die verletzte Hand hielt und mit einem Kopfschütteln die Worte wegzuwischen versuchte, die noch in der Luft hingen. Meine Mutter musste lachen.

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