Vorgeblättert

Leseprobe zu Maria Barbal: Camfora. Teil 1

11.08.2011.
Nicht einmal das Schwarze unter den Fingernägeln


Im Winter ist es kurz nach sechs schon dunkel. Die Gassen im Dorf, bitterkalt und nur spärlich beleuchtet, wirken nicht sehr einladend. Dem Anschein nach herrscht völlige Ruhe, so als ob alle schlafen würden, aber es geht durchaus geschäftig zu, bloß müsste man dazu einen Blick in die Häuser werfen können. Im Stall werden die Kühe gemolken, und in der Küche hantiert irgendwer in der Nähe des Feuers herum oder sitzt einfach nur so da.
     Eine der Gassen ist für eine Weile belebter als alle anderen, aber die Leute gehen dort nicht etwa spazieren, sie haben vielmehr alle ein und dasselbe Ziel.
     Wie selbstverständlich steigt ein Mann gerade die Treppe hoch zu Xau und bestimmt tut er dies nicht zum ersten Mal. In eine angeregte Unterhaltung vertieft, sind es wenig später dann schon zwei Männer, die vor der Tür, durch die der andere kurz zuvor verschwunden ist, stehen bleiben. Allerdings nur für einen Augenblick, gerade mal so lange, bis sie den eben begonnenen Satz zu Ende gebracht haben. Auf diese Weise, wie wenn Wasser tropfen- oder schlückchenweise aufgefangen wird, finden sich dort jeden Abend gut zwei Dutzend Männer ein. Vielleicht wollen sie sich einfach ein wenig die Zeit vertreiben, während daheim die Frauen oder Kinder die Kühe melken. Und wenn sie dann nach Hause kommen, erwarten sie, dass das Abendessen auf dem Tisch steht. Vielleicht hocken sie aber auch bei Xau, weil sie sich von den schmutzig grauen, abgegriffenen Karten angezogen fühlen und von dem Wein, der in kleinen Gläsern ausgeschenkt wird.
     An manchen Abenden nehmen allein die Botifarra-Spieler vier Tische in Beschlag. Fast hinter jedem Stuhl steht zudem ein Kiebitz, der von oben in die Karten späht und fast den Rücken des Spielers berührt, wenn dieser seine Trümpfe ausspielt. Dienstags jedoch ist für gewöhnlich nicht viel los. Xauet weiß das nur zu gut, denn schließlich steht er schon seit ein paar Jahren hinter dem Tresen. Auch an diesem Dienstag, gerade mal drei Tische sind besetzt, ist es ziemlich ruhig. Nur ab und zu zerfetzt ein Fluch den dichten Qualm, so wie ein Peitschenhieb die gärende Stallluft, doch gleich darauf ist schon wieder dumpfes Gemurmel zu hören, als ob die Spieler ihre Worte im fahlen Licht der Schankstube vor sich hinkauen würden. Die beiden Glühbirnen, die von einem der Deckenbalken herunterbaumeln, tragen als einzigen Schmuck einen Lampenschirm aus Blech, der das trübe Licht über den Tischen bündelt.
     Xauet ist nicht darauf aus, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, er lässt sie gewähren. Wenn sie einen Wein bestellen, bringt er ihnen ein Glas. Will jemand nichts trinken, auch gut, dann trinkt er eben nichts. Es erfüllt ihn mit einem gewissen Stolz, in den eigenen vier Wänden zu sein und den anderen Unterschlupf zu gewähren. Von der Theke aus genießt er den ganzen Trubel von Anfang bis Ende, mit all den dazugehörigen Ruhepausen, und das sind nicht wenige. Ihm soll es nur recht sein. Er plagt sich ja schon den ganzen Morgen bei der Feldarbeit oder wenn er das Vieh auf die Weide treiben muss. Das einzige, was er nicht abkann, sind Raufereien, und sobald er wittert, dass sich da etwas zusammenbraut, setzt er alles daran, sie schon im Keim zu ersticken. Aber an diesem Abend bleibt ihm keine Zeit dazu. Kaum hat nämlich Frederic von den Manois die Schankstube betreten und sich an einen der Tische gesetzt, fängt der alte Raurill an etwas in seinen Bart zu brummen, und schon hört man einen Stuhl zu Boden poltern, der heftige Rückstoß von Frederics Körper hat ihn umgeworfen. Für einen Moment herrscht lähmende Stille, bis sich die Blicke, die Frederic auf sich gezogen hat, wieder dem Kartenspiel zuwenden. Doch dann ist mit einem Mal das metallische Geräusch eines aufklappenden Messers zu hören, und alle Augen richten sich erneut auf den kräftigen Mann, auf den Erstgeborenen der Manois, der in seiner rechten Faust eine Klinge aufblitzen lässt.
     Als das Stimmengewirr wieder einsetzt, um einiges lauter als vor dem Zwischenfall, gibt es keinen, der mit Sicherheit hätte sagen können, wie sich das Ganze eigentlich zugetragen hat. Jeder weiß um die Spannung zwischen den beiden Männern, in einem Dorf bleibt nichts verborgen, niemand zeigt sich also verwundert, niemand sagt aber auch frei heraus, Angst verspürt zu haben, und dabei hat beim Geräusch der aufspringenden Klinge und beim Anblick des funkelnden Metalls doch jeder um die eigene Haut gebangt. In gewisser Hinsicht ist Xauet, wie ihn seine Stammgäste nennen, der Held des Tages gewesen. Von hinten hat er den Arm gepackt, der die Waffe hielt, und nur gesagt: "Nichts da, raus auf die Straße." Dann hat er ihn wieder losgelassen und ist zurück hinter seine Theke. -Leandre Raurill hatte sich unterdessen davongemacht, ohne dass er es gewagt hätte, auch nur eine seiner boshaften Bemerkungen zu wiederholen, nicht eine der Verunglimpfungen, mit denen er seine Zunge gewetzt hatte, kaum dass er des Ehemanns seiner Tochter ansichtig geworden war.

Es ist später Abend, und in den Gassen mit den eng aneinandergereihten Häusern, die sich gegenseitig zu stützen scheinen, herrscht Ruhe. Drinnen jedoch, an den Küchentischen, überschlagen sich die Stimmen bei dem Versuch, denen, die nicht im Wirtshaus bei Xau gewesen sind, in den schaurigsten Farben auszumalen, was sich dort ereignet hat. Es wird über die Waffe gesprochen, das Wort allein reicht aus, um die ganze Tragweite des Vorfalls vor Augen zu führen, weiterer Worte bedarf es im Grunde auch nicht, denn schließlich ist kein Blut geflossen. Aber in einem fort, sei es nun bruchstückhaft oder in aller Ausführlichkeit, wird die Geschichte eines tief verwurzelten Grolls zum Besten gegeben. Die Eltern haben sie ihren Kindern, die Alten den Jungen erzählt, und selbst den Kleinsten ist die ewig gleiche Litanei schon zu Ohren gekommen. Über die Familie, über den alten Raurill und das Erbe, darüber, wie verschieden die Menschen doch sind, was auch immer. Eben all das, was nötig ist und noch jede Menge mehr, um zu verstehen, warum Leandre, kaum dass er seines Schwiegersohns ansichtig wurde, eine wahre Flut an Beschimpfungen ausstieß, und warum Frederic dann alle zum Verstummen brachte, indem er ein Messer zückte, ein ganz gewöhnliches Klappmesser, eins wie es fast jedermann bei sich trägt, und nicht etwa ein Schlachtermesser, mit dem man das Schwein absticht.
     Nur eine einzige Frau im ganzen Dorf weiß nichts von dem, was an diesem Abend im Wirtshaus vorgefallen ist. Roseta wohnt in dem Haus neben dem der Raurills und das schon seit ihrer Geburt. Sie ist Witwe und kinderlos und weil da niemand ist, mit dem sie reden könnte, geht sie immer gleich nach dem Abendessen zu Bett.

Nach dem Mittagessen hat Leandre das Haus verlassen, der Tisch ist noch nicht abgeräumt, und schon fangen die jungen Leute an zu reden. Die Überraschung steht ihnen noch ins Gesicht geschrieben, doch in dem Maße, in dem sie nachlässt, fallen die Zweifel wie Mückenschwärme über die beiden her und stechen zuerst den einen und dann, gleichzeitig oder kurz darauf, auch schon den anderen. Während Palmira laut das Für und Wider abwägt, denkt Maurici nach und hört ihr zu, er kann sich einfach nicht auf eine Sache konzentrieren. Das bringt ihn durcheinander, und sein Unbehagen wächst. Unvermittelt erhebt er sich von dem Stuhl, auf dem er während des Essens gesessen hat.
     Nun redet er und ist selbst ganz erstaunt, dass seine Stimme kein bisschen zittert und sogar ein wenig aufgebracht klingt, als er die Frage stellt, weshalb sie eigentlich in der Stadt ihr Glück versuchen sollen. Schließlich hätten sie hier doch Grund und Boden, der versorgt werden will und der ihnen zugleich ein gutes Auskommen sichert. Er wolle sich nicht großtun, aber sie seien ja wohl keineswegs arm, oder mangele es ihnen vielleicht an etwas? Als er merkt, dass ihm die Frau nicht widerspricht, eigentlich hat sie ja auch dasselbe gesagt wie er, wird Mauricis Stimme wieder leiser, und er redet auch nicht mehr so schnell. Er kommt auf seine Schwester zu sprechen, auf Frederic, seinen Schwager. Nie und nimmer werde der Vater seinen Frieden mit den beiden machen. Stur wie ein Bock sei er, seitdem der Schwiegersohn den Pflichtteil der Schwester eingefordert habe. Der Vater lasse sich keine Daumenschrauben anlegen und jetzt komme er ihnen noch damit. Den Hof will er aufgeben, und alle drei sollen sie runter nach Barcelona ziehen.
     Palmira fragt sich erst gar nicht, ob das, was der Schwiegervater einfach so bestimmt hat, überhaupt in ihrem Sinn ist, und ihre Gedanken halten sich auch nicht mit den Einsichten auf, die sie im Laufe der Zeit und nach dem einen oder anderen Zusammenstoß mit ihm gewonnen hat. Sie hört bloß auf ihre innere Stimme, die sie daran erinnert, dass sie eh immer nur das getan haben, was er wollte, sei es nun, weil er Mauricis Vater ist, ihm der Hof gehört oder weil sie es gar nicht anders kennen. Weder überrascht sie seine Eile, noch die Tatsache, dass ihr Schwiegervater bis zu diesem Tag kein einziges Wort darüber verloren hat, in die Stadt ziehen zu wollen. Für einen Moment hört sie ihrem Mann zu, der sich weiter im Kreis dreht. Und sie ist ganz erstaunt, dass er sich im Gegensatz zu ihr noch immer etwas vormacht.
     Sie sieht die Dinge so, wie sie nun einmal sind, und kann von daher dem Ganzen auch etwas Gutes abgewinnen. Die Zwistigkeiten mit Sabina und Frederic würden der Vergangenheit angehören und sie sich nicht mehr länger zum Gespött der Leute machen, und ihr Kind, das würde in der Stadt zur Welt kommen und es dort vielleicht einmal leichter haben. Und wer weiß, womöglich würde der Schwiegervater auch endlich damit aufhören, ihren Mann ständig herumzukommandieren. Sie müssten sich auch nicht mehr mit der Feldarbeit abplagen und mit dem Vieh, und vielleicht würde Maurici sich dort auch ein wenig als sein eigener Herr fühlen. Sie hat begonnen, den Tisch abzuräumen, ihr Mann ist schon seit einer ganzen Weile still und schaut gedankenverloren aus dem Fenster. Sie betrachtet sein glattes strohblondes Haar, das ihm ins Gesicht fällt, und dann wirft auch sie einen Blick nach draußen, so als ob sie sich vergewissern will, dass dort nichts Ungewöhnliches vor sich geht.
     Die Sonne breitet sich über den Dächern aus und an Rosetas Haus streift sie die Balkone mit den hölzernen Balustraden. Die der Raurills, sie sind aus Eisen, liegen im Schatten, genauso wie der gefrorene Schnee, überall dort, wo die Sonne nicht hinkommt. Einmal abgesehen von den Buchsbaumsträuchern und den Nadeln der Tannen und Pinien ist weit und breit kein Grün zu sehen, geht es ihr durch den Kopf, und sie beginnt mit dem Abwasch.

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