Vorgeblättert

Leseprobe zu Luiz Ruffato: Feindliche Welt. Teil 2

17.04.2014.
Luzimar geht durch den kurzen, dunklen Flur, die Zimmer rechts, nein, die würde er nie vergessen, dann durch die Küche, draußen das Häuschen. Als er zurückkommt, sieht er Dona Marta in einer Ecke, im Licht einer kleinen Lampe. Sie strickt. Sie hält inne, schaut über den Brillenrand auf. "Wie heißt noch mal deine Schwester, Junge?" "Hélia, Dona Marta, Hélia." "Hélia! Ich dachte mir schon ... ob sie wohl immer noch näht?" "Weiß nicht ... glaub' nicht ..." "Trinkt ihr nicht ein bisschen viel, Junge?" "Wir hören schon auf ..." "Es ist spät, schon ... Gleich ist Mitternacht. Gildo hat gesagt, er macht einen Cidre auf für uns beide." Sie senkt den Kopf, um dem Hin und Her der Nähnadel zu folgen. "Ich hätte zu gerne Gilmar hier bei mir ... und die Mädchen ... Marciano ... wie früher ... das Haus voller ... Fröhlichkeit ... so gerne ... so sehr ..."
Luzimar kommt ins Wohnzimmer zurück, wo nun Licht brennt.
"Setz dich."
"Nein, nein, ich muss wirklich gehen."
"Was juckt es dich denn, dauernd zu gehen, Mann?"
"Soninha wartet auf mich ..."
"Wer?"
"Soninha ... meine Frau ..."
"Was? Du bist verheiratet?"
"Ja, und sie macht sich wahrscheinlich schon Sorgen ..."
"Ach was, Mann! Die ist wahrscheinlich heilfroh, dass du nicht da bist und ihr auf die Nerven gehst."
Er lacht auf. "War nur Spaß, Mann."
Dona Marta kommt. "Gildo, ihr habt schon zu viel getrunken, der Junge will heimgehen." "Hey, Mutter geh ... Bring uns noch Bier, ist noch eins da? Ich hab den Kühlschrank vor dem Mittagessen erst aufgefüllt ... Ich halte hier niemanden auf. Wenn Luzimar gehen will, geht er ..."
"Stimmt doch, oder?"
"Na ja ..."
"Ach was, Mann. So muss man mit Frauen umgehen. Wenn man nicht aufpasst, tanzen sie einem auf der Nase herum. Glaub mir. Nachher bringe ich dich nach Hause, lass mal. Stell dir mal vor, du kommst da im VW an! Stell dir mal vor! Das macht Eindruck, ist doch so!"
Unruhig sucht Luzimar Unterstützung in Dona Martas Augen, die allerdings sofort wieder geht, resigniert, nachdem sie eine neue Flasche gebracht hat.
"Es ist doch gleich Weihnachten ... ich hab noch nichts für Soninha gekauft ..."
"Wir fahren einfach in der Rua do Comércio vorbei ..."
"Auf gar keinen Fall ..."
"Was soll das, Mann! Wir fahren dahin, und du kaufst irgendein tolles Geschenk ... Ein ... eine ... eine Halskette zum Beispiel ... Was meinst du?"
"Als ob ich mir das leisten könnte!"
"He, dann bezahle ich eben! Abgemacht! So machen wir das! Schon erledigt! Nachher fahren wir in die Rua do Comércio und kaufen ihr eine Halskette, ja? Also lass uns noch ein Bier trinken ..."
"Aber wir sind doch schon ziemlich ..."
"Ziemlich was? Und wenn schon? Egal! Wir sind niemandem Rechenschaft schuldig ... Du müsstest mal nach São Paulo kommen, Mann. Da hättest du schnell eine Stelle, würdest jede Menge Geld machen, es würde dir gut gehen!"
"Quatsch, Gildo ... Für mich ist das nichts mehr ... Jetzt, also, wo ich verheiratet bin ..."
"Nicht einmal das Schwarze unter dem Nagel hast du hier. Entschuldige, dass ich das sage, aber es ist doch wahr! Du musst das hier loslassen, gehen ... Auf dich wartet da draußen die Welt ..."
Schwankend zieht er Luzimar zum Fenster.
"Was siehst du?"
"Von hier aus?"
"Ja. Was siehst du?"
"Das eingezäunte Gelände."
"Und dahinter."
"Den Bolzplatz."
"Und dahinter?"
"Die Arbeiterhäuser."
"Und dahinter?"
"Dahinter?"
"Ja, dahinter."
"Weiter kann man nicht sehen ..."
Gildo schiebt Luzimar zurück aufs Sofa und redet im Stehen auf ihn ein:
"Siehst du! Hinter den Arbeiterhäusern kannst du nichts mehr erkennen. Aber dahinter ist die Welt. Die Welt, Mann! Diese Stadt hier ist Scheiße. Gilmar hat es richtig gemacht. Als er gegangen ist, hat er geschworen, nie mehr zurückzukommen, nicht mal, um hier begraben zu werden!"
"He, Gildo, so schlimm ist es auch wieder nicht! Wir sind hier geboren ... hier aufgewachsen ... haben hier Freunde ..."
Gildo setzt sich aufs Sofa, neben Luzimar.
"Freunde? Ich kenne hier niemanden mehr, Luzimar ... Niemanden! Ich bin heute Morgen hier angekommen, todmüde, bin ein bisschen herumgelaufen, mal sehen, ob ich jemanden treffe, um ein bisschen zu quatschen, mich auszutauschen ... Aber ... nichts ... Ich kenne die Häuser noch, die Straßen, die Bäume, alles ist irgendwie immer noch so ... Aber es ist wie eine andere Welt ... Die Leute sind anders, Luzimar, und die Stadt gehört ihnen, es ist nicht mehr meine, verstehst du?, ist nicht mehr meine ..."
"Ja ..."
"Ich will nichts mehr wissen von diesem Dreck hier, Mann, will nicht, verstehst du?"
Er füllt die Gläser nach. "Ich gehe aufs Klo. Warte."
Luzimar setzt sich auf, fährt sich mit den Fingern durchs Haar, richtet den Hemdkragen und merkt mit dem Blick auf die Nacht, die sich hinter ihm ausbreitet, dass er betrunken ist, soninha wird sauer sein, und das zu recht
Gildo kommt wieder und sackt in die Polster.
"Du tust mir leid, Mann. Tust mir echt leid, ich schwör's ... Weil du am Arsch bist ... Ich sehe schon: Bald kommen Kinder, ein ganzer Sack voll, und du reißt dir den Arsch auf in der Fabrik ... Das Geld reicht nicht, sie gehen von der Schule, fangen an zu arbeiten, um mitzuverdienen ... Und du wirst alt ... Eines Tages, bevor du es merkst, ist es aus ... Endstation ... Und was für ein Scheißleben hast du dann gehabt, Mann!, was für ein Scheißleben!"
Luzimar steht auf.
"He, Gildo, wie kommst du dazu, so mit mir zu reden?"
"Ich? Gar nicht ... Aber du wirst schon sehen ... Ich hab's geschafft, verstehst du? Alle, die gegangen sind, haben's geschafft ... Die geblieben sind ... sind alle am Arsch ... Alle! Wie du: am Arsch!"
Luzimar geht zur Tür.
"Wart mal, Mann, geh noch nicht!"
"Ich muss gehen."
Gildo fasst Luzimar kräftig am linken Arm.
"Setz dich, Mann. Hör auf, den Deppen zu spielen. Hast du dich geärgert über mich? Schwamm drüber, in Ordnung!, alles klar?"
"Mutter, bring noch ein Bier!"
"Lass mich los, Gildo, ich muss gehen!"
"Wart mal, Luzimar. Erst fahren wir in die Rua do Comércio, das Geschenk für deine Frau kaufen, wie heißt sie noch mal? Danach bringe ich dich nach Hause."
"Lass meinen Arm los, verdammt!"
"Mutter, bring schon das Bier, Scheiße!"
Dona Marta kommt mit dem Bier. "Was ist denn das für ein Geschrei, um Himmels Willen? Lass den Jungen in Ruhe, mein Sohn!" Luzimar nutzt die Gelegenheit, macht sich von Gildo los, schwingt sich auf sein Fahrrad, tritt fest in die Pedale.
Von der Mutter zurückgehalten stürzt Gildo auf die Straße, "Fahr doch, du Trottel, fahr doch zu deinem Frauchen! Fahr doch, du Arsch! Weichei! Trottel! Geh doch!", brüllt er, und in den Nachbarhäusern gehen die Lichter an.
Luzimar fährt am Flussufer entlang, Lachen tanzt wie die Glühwürmchen durch die Nacht. Wo es nach Ibrahim reingeht, zieht ihn das Licht an, das sich auf den schwarzen Straßenköter ergießt, der vor einer Kneipentür ausgestreckt liegt. Er hält, lehnt das Fahrrad an, steigt über den Hund, grüßt die Säufer, die einen letzten Schnaps herunterspülen, den Ladenbesitzer, der im Unterhemd schwitzend den Kühlschrank mit Limonade auffüllt. Er fragt nach der Uhrzeit, halb zwölf, "Ein Bier für mich, bitte, schön kalt." Der Mann wischt mit einem dreckigen Lappen über die Theke, öffnet die Flasche, stellt ihm ein Glas hin, nimmt seine Tätigkeit wieder auf, soninha macht sich bestimmt schon sorgen die arme
Aus der Ferne das Rauschen des Rio Pomba

Dona Marta hockt sich vor das Sofa und flüstert, "Gildo, es ist Mitternacht ... Willst du den Cidre nicht aufmachen, den du mitgebracht hast?"
Er dreht sich zur Seite, grunzt etwas und schnarcht weiter.

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