Vorgeblättert

Leseprobe zu Luiz Ruffato: Feindliche Welt. Teil 3

17.04.2014.
Zerstörung

1. Juli in Flammen



Es ging ihm gut in São Paulo, wo er, Abtrockentuch über der Schulter, hinter dem U-förmigen Tresen einer Imbissbar in der Avenida do Cursinho im Stadtteil Saúde seinen Spaß hatte und genug Einsatz zeigte, um eine kleine Doppelhaushälfte in Vila das Mercês zu halten und das Gelübde, nie wieder einen Fuß nach Cataguases zu setzen, was Gilmar so ernst meinte, dass er auf Raten ein Stück Erde auf dem Friedhof Colinas in São Bernardo do Campo gekauft hatte, um sicher zu gehen, dass niemand seinen letzten Willen missachtete, den er als Jugendlicher, noch ohne Flaum im Gesicht schon getroffen hatte, und den seine Mutter, irgendwann überzeugt von der Hartnäckigkeit seines Entschlusses, schließlich als echt anerkannte, was sie bettlägerig machte, damals, vor Kummer, nicht einmal diese kleine Freude erfüllt zu bekommen, eines Tages, und sei es nach ihrem Tod, die ganze Familie versammelt zu sehen in einem Grab, in dem schon ihr Mann ruhte, Marciano, und Lia, die Süße, die sich der Typhus genommen hatte, als sie noch ein unschuldiges Kind war, was Jahre danach noch so weh tat, an die heiteren Ärmchen und Beinchen zu denken, die das Fieber für immer verbrannt hatte, sodass Gilmar, wenn nötig, seiner Mutter das Geld für den Omnibus schickte, sie am Busbahnhof Tietê in Empfang nahm, die Mutter sich für ein paar Tage in São Paulo einrichtete, zwei Mal sogar monatelang, als Monique und später Luana zur Welt kamen, um sich um die Kinder zu kümmern, bis der Nabel abfiel, doch Sehnsucht nach Cataguases hatte er nie, anders als Gildo, sein älterer Bruder, der doch alle Nase lang mit der gesamten Familie dort aufschlug und sich dann, wenn er wieder zurück war, am Telefon rechtfertigte, gespielt klagte, er sei nur widerwillig gefahren, doch der Geburtstag der Alten, sie tut einem leid, man weiß nie, ob es das letzte Mal ist, Muttertag, Mann, Muttertag ist echt Scheiße!, er hätte sie doch nicht allein lassen können über die Feiertage zwischen den Jahren, findest du nicht?, und Gilmar dachte, das hat er von seinem Paten, Onkel Gesualdo, der sich seit dem Tod seines Vaters, ein Infarkt eines verzweifelten Morgens, berufen gefühlt hatte, sich um das Blut seines Blutes zu kümmern, und erst Gildo, gerade volljährig geworden, in einer Druckerei für Etiketten und Verpackungen in Brás untergebracht und dann Gilmar geholt hatte, den Kleinsten, und Ana Elisa, und auch Ana Lúcia, hätte sich die Blöde nicht mit einem versauten Mechaniker am Rande der Fernstraße Rio-Bahia eingelassen, der sie zu sich nach Muriaé geholt hatte, um bei ihm zu leiden in Muriaé, aber Gesualdo, der, wann immer es ging, über Cataguases fluchte, es Dreckskaff! nannte und dabei mit dem Fuß den Zement auf dem Bürgersteig malträtierte, und bitter Nichts geht hier voran! schimpfte, der seine Landsleute mied in São Paulo, um sich nicht, unter gar keinen Umständen, seiner Herkunft zu erinnern, hatte sich, nachdem der Bruder weg war, dem er sehr nahegestanden hatte und dem er viel zu verdanken hatte, verpflichtet, einmal im Monat das Häuschen in Vila Teresa zu besuchen, die Hände von Zukunft überbordend die Schmerzen und die Verzweiflung aus den Augen der Schwägerin zu wischen, und bei einem dieser Besuche Gilmar aus dem linken Mittelfeld der zweiten Mannschaft der Arbeitersiedlung Bairro-Jardim geschnappt, dieser Bursche ist gut, Marta, der muss nach São Paulo, hier zu bleiben, wäre Verschwendung, So weit!, hatte sie lamentiert, Er ist doch noch ein Kind, Und die Schule?, Mein Gott, Er wird mir so fehlen!, Gesualdo hatte entgegnet, Das ist für alle das Beste, Marta, ein Esser weniger, Und stell dir mal vor!, wenn alles gut geht, spielt er in der Nationalmannschaft, Geld ohne Ende, berühmt, Na? Gut, und dann Koffer und Taschen zum Busbahnhof Richtung Leopoldina geschleift, wo sie den Bus nach São Paulo genommen hatten, aus Alegre, Espírito Santo, und Gilmar begriff, dass sein Leben begann, sobald hinter der Kurve die Straßenlaternen von Vila Minalda verschwunden waren, die sich im friedlichen Wasser des Rio Pomba spiegelten, sein letztes Bild von Cataguases, Nie mehr, dachte er, Blitze verschlangen, was vom Juli noch übrig war, und nach dem Umsteigen hatte der Onkel ihm seinen Fensterplatz, Sitz 29, überlassen, damit Gilmar besser auf die verdorrten Büsche sehen konnte, die am Rand des Asphalts knackten, und vor Aufregung hatte er kein Auge mehr zugetan, erschrocken staunend über die Flammen, die nach den im Gewölbe der kalten Nacht prangenden Sternen langten, Wir durchqueren die Hölle, hatte Gesualdo gescherzt, heiser vom Rauch, der durch alle Ritzen drang, Wir durchqueren die Hölle, hatte Gilmar leise wiederholt, Cataguases blieb zurück, Nie mehr, schwor er, Nie wieder, und der Onkel hatte ihn durch mehrere Klubs geschleift, erst São Paulo, seine Lieblingsmannschaft, Er hat nicht die Konstitution, hieß es dort, dann Palmeiras, wo er auch durch das Raster fiel, Gilmar sauer, Gesualdo, sich ratlos am Kopf kratzend, hatte an seiner Entscheidung gezweifelt, aber was soll man machen?, bis es dann bei Juventus geklappt hatte, der Trainer in dem Jungen dieselben Eigenschaften gesehen hatte wie Gesualdo, Ein As, dieser Junge, Man muss seinen Körper nur aufbauen, an der Technik arbeiten, mit dem Zug von Osasco bis nach Mooca und dann mit dem Bus, er wurde Stammspieler im linken Mittelfeld und spielte im granatroten Trikot um die Jugendmeisterschaft von São Paulo, erregte Aufmerksamkeit bei Palmeiras, die ihn am Ende der Saison unter Vertrag nahmen, an América Rio Preto weiterverkauften, wo er für einige Spiele in der ersten Mannschaft aufgestellt wurde, zum Stolz seines Onkels, der Freunden und Bekannten die Zeitungsausschnitte unter die Nase hielt, winzig die Mannschaftsaufstellung: Gilmar, Der Gilmar da, das ist mein Neffe, mein Neffe und Patenkind, Merkt euch den Namen, von dem wird man noch hören, und behauptete seine Position, war sogar für die brasilianische Juniorennationalmannschaft im Gespräch, saß bei den Profis von Palmeiras auf der Ersatzbank, wurde bei einigen wichtigen Spielen in der zweiten Halbzeit eingewechselt, Noch jung, hatte der Trainer erklärt, besser nichts überstürzen, Er braucht noch Erfahrung und Biss, wenn wir nicht vorsichtig sind, verbrennen wir ihn, Da, siehst du?, die Chance, heute ist sie da, Geh raus und zeig, was du kannst, das ganze Stadion des 15. November schaute auf ihn, der zu Anfang noch unkonzentriert, langsam sicherer wurde, den Ball dicht am Fuß, lange, präzise Schritte, tänzerische Finten, blitzschnelle Sprints, das Tor brütete in der Hitze des Nachmittags, um die zwanzigste Minute spielte er den Ball zum Mittelstürmer, hin und wieder her, eine Freude, ließ den Verteidiger stehen, stand schon im Strafraum, Jetzt!, stürzte schmerzverzerrt über den kurzen Rasen, das rechte Bein ausgebremst vom Schuh des Verteidigers, Sonntagsblau explodierte hinter seinen Augen, Elfmeter!, Elfmeter!, rief der rechte Stürmer und gratulierte, Elfmeter!, hörte er noch Jahre später, wenn er gequält den Blick hoch zur verschimmelten Decke der Umkleidekabine eines x-beliebigen Stadions im Hinterland wandte, Kampfergeruch, eine Stadt nach der anderen, von Liga zu Liga, ohne Meniskus, das Knie ständig geschwollen, entzündet, im Spiel nur dank Rotlicht, Eis, Jod, Infusionen, Kortisonspritzen und Schmerzmitteln, die Karriere zu Ende mit achtundzwanzig in einem Halbprofiklub in Paraná, nicht mehr für die Arbeit zu gebrauchen, entsetzliche Schmerzen in den Gelenken, wieder zurück in São Paulo, enttäuscht und nur nicht in Schulden und Schnaps abgesoffen, weil der Strahl seiner Augen auf den Porzellanglanz der leicht schiefen Zähne einer Krankenschwester gefallen war, die weder schön war noch hässlich, aber ehrlich und verständnisvoll, in der Röntgenabteilung des Krankenhauses von Heliópolis, was sein humpelndes Herz wieder in Wallung gebracht hatte, und weil der Schwiegervater, ein Angestellter der Elektrizitätsgesellschaft im Ruhestand, zwischen Liebelei und Verlobung einen Kredit bei der Sparkasse bekommen hatte, um die Garage des Häuschens zu renovieren und in eine kleine Eckkneipe umzubauen, in der es anfangs nur Knabberkram, Schnaps, Limonade gab, die aber nach und nach und mit Eifer und Charisma zu einem blitzsauberen, kleinen Bar-Restaurant ausgebaut wurde, weiß gefliest bis zur Decke, mit U-förmigem, gelbem Tresen aus Laminat, Tagesgericht, ausgewählten Getränken, erlesenem Publikum, Fotos und Zeitungsausschnitten an den Wänden, und mit einer Seite aus der Zeitschrift Placar, auf der er zu sehen ist, im Hintergrund, als Zuschauer eines wichtigen Spiels, das Gesicht eingekreist mit rotem Pilot-Stift, unter der Glasplatte der Ablage neben der Registrierkasse, Ja, das bin ich, erklärte er mit einem Seufzer und hörte aus der Ferne, als er noch jemand war, das Pfeifen des schwarzgekleideten Schiedsrichters an einem Nachmittag irgendwo im Nimmermehr.

                                                             *

Auszug mit freundlicher Genehmigung von Assoziation A
(Copyright Verlag Assoziation A)

Informationen zum Buch und Autor hier