Vorgeblättert

Leseprobe zu Lisa Kränzler: Export A. Teil 3

02.02.2012.
4.

Ich sitze auf rotem Samt im Geruch meiner Schwester. Unsere Schultern und Oberschenkel berühren sich sanft. Als die ersten Klaviertöne erklingen, fühle ich mich fast erleichtert, fast zu Hause. Wir teilen uns das Gesangbuch, die erste und zweite Stimme, teilen die Luft zum Atmen, teilen das alles schwesterlich wie früher unser Stockbett und die Aufmerksamkeit der Eltern.
     Die Lieder haben zu wenig Strophen. Ich wünschte, wir könnten ewig so stehen und unsere Stimmen aneinandergeschmiegt in jenen Raum hinausschicken, von dessen Herrlichkeit der Text erzählt; einfach stehen, mit aller Kraft gegen die Angst ansingen, den Kampf singend austragen bis zum Ende; singen, bis ich keine Stimme und keine Angst mehr habe, bis meine Knie nachgeben und meine Schwester mich nach Hause tragen wird; bitte; in eine Heimat, wo immer sie sein mag.
     Schon sind die Noten aufgebraucht und alles leergesungen bis zum letzten Klangtropfen aus dem Klavier, dessen Welle abflacht, sich verflüchtigt und verstummt. Die Pastorenfrau nimmt den Fuß vom Pedal. Kein Hall mehr für mich, nur Räuspern und Stühlerücken und raschelnde Röcke beim Hinsetzen. Wir schweigen im Chor, die Stille begleitet den Solisten auf seinem Weg ans Rednerpult. Ich höre Leroys Stimme:
     "Everything in our physical world possesses certain qualities that make it what it essentially is. We recognize things not only by the characteristics that they possess, but also by those that they do not possess."
     Das scheint der Gemeinde einzuleuchten. Hier und da nickt es neben mir.
     "You?re not likely to ever see a horse with antlers growing out of its head, or a deer with a trunk hanging from its face ⁠?"
     Er macht eine kleine Pause, will uns etwas Zeit geben, sicher gehen, dass das Pferd mit dem Geweih auch tatsächlich vor unserem inneren Auge erscheint. Während es an mir vorübertrabt, fährt er fort.
     "? if they did, they would be considered freaks of nature!" Wir werden aufmunternd angelacht. Nein, keinem von uns wächst ein Geweih aus der Stirn, wir sind keine Freaks und lächeln erleichtert zurück.
     "Today as we deal with the topic of hell, I want to talk about some of the things that will not be there ⁠?"
     Um mich her wird es still, sehr still. Für heute hat es sich wohl ausgelacht. Leroys Miene ist ernst, besorgt, voller Entschlossenheit.
     "⁠? by doing so, we will get a vivid idea of hell?s characteristics. I can assure you ⁠?", sein Blick scannt die Stuhlreihen, "if you are normal, you won?t like what you see."
     "If you are normal?" Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her, blicke über die rechte Schulter nach hinten, mich vergewissernd, dass da eine Tür, ein Ausgang, ist.
     "What the bible has to say about hell is not simply metaphorical or allegorical. I believe that hell, the one the bible speaks of, is a literal place, filled with literal people enduring literal unbearable pain. I believe our worst nightmare would not come close to the horrors of hell." Er verlässt das Pult, breitet die Arme aus und blickt zur Decke.
     "One might ask ?why would a loving god create such an awful place??" Leroy senkt Arme und Stimme, flüstert uns zu: "Folks, I believe that god wanted to make hell so horrible, so hot, that everybody who seriously considered it would be repulsed by it."
     Ich suche nach den Augen meiner Schwester. In meinem Rücken die Tür. Die Schwester sieht mich nicht, die Tür bleibt fest verschlossen.
     "Let?s see what god?s word has to say about it." Er nimmt die Bibel vom Pult. "In hell there will be no light." Jetzt fliegen seine Finger über die Seiten, das Zitatfeuer auf uns ist eröffnet, Salve um Salve schlägt in meinen Kopf ein.
     "Matthew 8,12: ⁠But the children of the kingdom shall be cast out into outer darkness ⁠? bind him hand and foot and take him away, cast him into outer darkness ⁠?"
     Ein dunkler Zustand. Ein Einsamkeitszustand, in dem man nicht sieht und nicht gesehen wird, blinde Körperlosigkeit. Ich suche die umstehenden Schemen, den Chor, die Gemeinde, die Schwester, nach Augenpaaren ab und finde keine. Niemand erwidert meine Blicke. Bin ich bereits eine von denen, "to whom is reserved the blackness of darkness forever"? Die Pastorenstimme unterbricht meine Gedanken:
     "Can you imagine never seeing the light again? When lost souls have suffered the darkness of hell for a thousand years, they will still be tormented by the memories of the warm glow of the sunlight that once caressed their faces ⁠? But they will never see the light of day again. What more fitting punishment could there be for those who ?loved darkness rather than light??"
     Zustimmendes Nicken der Gemeindeköpfe, ein paar Mutige rufen "Amen!", was offenbar so viel bedeutet wie "korrekt", "ganz deiner Meinung", "richtig so".
     Mit lieblich hoher Stimme und grausamem Lächeln fährt Leroy fort:
     "I am told that one who is forced to remain in total darkness for an extended period of time becomes very agitated and irritable ⁠?"
     Ich will hier raus. Ich will hier raus!
     "⁠? and in hell he will lift up his eyes, being in torment."
     Ich hebe meine Augen nicht mehr. Sie sind zu nass.
     "⁠? there shall be weeping and gnashing of teeth."
     Wie lange noch? Ich starre auf mein nacktes Handgelenk, spähe in die Reihe vor uns, suche vergebens nach einer Armbanduhr.
     "⁠? and the smoke of their torment ascendeth up forever and ever."
     Ich sitze in der Todeszone. Es hagelt Worte. Der Munitionsnachschub scheint unerschöpflich. Flammende Worte, ewiges Feuer, und beides will kein Ende nehmen.
     "The pain will be forever. The darkness will be forever. The thirst will be forever. The languishing and torment will be forever."
     Endlich ein Blick.
     Es sind Pastorenaugen, die mich ansehen, und es ist die Pastorenstimme, die sagt:
     "Folks, there will be no exit signs in hell. There will be no escape. Once a person arrives in hell, it will be forever."

Irgendwann setzt endlich das Klavier ein. Ich singe um mein Leben, hetze durch die Strophen und aus der Tür, über der ein rotes Exit-Schild leuchtet. Noch.


5.

Ich hatte keine Argumente. War nicht bibelfest.
     Kirchgang. Das war für mich bislang ein sinnlicher Rausch aus Weihrauch, Kerzenwachs und Sonnenstrahlen, die durch bunte Glasfenster fielen; das Murmeln von Gebeten und alten, geheimnisvollen Worten wie "Versuchung" und "Erbarmen", begleitet von dunklen Adjektiven wie "gebenedeit" oder "würdig". Blattgold an den Wänden, mit Amethyst verzierte Kelche, lange Gewänder aus Leinen, über denen handbestickte Stolen in Festtagsfarben hingen. Eine Abfolge feierlicher Rituale zum Klang der Glocken und Orgelpfeifen.
     Was hatte man mir beigebracht? Wer war dieser "Gott" für mich?
     "Gott ist mein Schutz, mein Schild, mein Stab, meine Burg und mein Fels. Er befiehlt seinen Engeln, mich zu behüten, auf all meinen Wegen. Sie sollen mich auf Händen tragen, damit mein Fuß nicht stößt an einen Stein. Über Nattern und Schlangen werde ich schreiten, treten auf Löwen und Drachen."
     Was verlangte er für all das, welchen Preis hatte das?
     "In deinem Haus darf ich wohnen, mein Leben lang; wie ein Wurm in der Erde, ein Schwan auf dem See, ein Tiger im Dschungel, eine Katze im Hof."
     Und das alles ohne Gegenleistung? Wer konnte das glauben?
     Das jahrelange Gerede über Güte und Barmherzigkeit - von "seiner Hand, die er über mich hält ⁠? Er, der mich speist und sanft schlafen lässt, weil er mich liebt; es sei alles gesegnet, was er mir gibt" - war mir inzwischen zur leeren Formel verkommen.
     Irgendwo da oben saß er, der liebe Gott, der nur das Beste für mich wollte. Ein bisschen Ehrlichkeit, ab und an beten, möglichst nicht morden und stehlen, mehr verlangte er nicht. Und sollte ich dennoch lügen, morden oder stehlen, würde ihm meine wahrhaftige Reue genügen. Mit hängenden Schultern und schamvoll gesenktem Kopf wäre ich vor ihn hingetreten, hätte gebeichtet und die Sache bereinigt. So einfach war das, oder vielmehr: so einfach schien es bisher.
     Mir wurde schnell klar, dass ich den flammenden Reden des Pastors nichts entgegenzusetzen hatte. Mein Glaube schien mir nichts weiter als ein Ammenmärchen zu sein, ein Kinderglaube, hohl und lächerlich. Ich hatte nicht nachgedacht, nicht nachgefragt, nur empfunden; hatte Ergriffenheit und Sentimentalität mit Wahrhaftigkeit verwechselt. Plötzlich musste ich mich ernsthaft fragen, mit wem ich da nachts redete. Was wusste ich wirklich von ihm?
     Wie konnte ich jahrelang vor einer Macht niederknien, die ich nicht kannte, nicht begriff, nicht hinterfragt hatte?
     Ich hatte die Bibel nicht gelesen; ich war verdammt nochmal 16 Jahre alt! Wer studiert denn mit 16 die Bibel?

Ich hatte stets die höchsten Ansprüche an mich, verabscheute nichts mehr als Halbheiten; wollte absolute Entscheidungen, klare Trennungen und präzise Definitionen. Die Textunterschriften und Sprechblasen zu den Bildern meines Lebens sollten radikal sein. Ich war durchaus empfänglich für Parolen; solange Großes, Schimmerndes, Hoffnungsvolles verkündet wurde, durfte der Refrain gerne etwas pathetisch sein. Das war nicht meine Schuld. Die Hormonpest der Jugend hatte mich voll im Griff.
     Und so hatte es Pastor Leroy geschafft, zu meinem in sich selbst versponnenen, wuchernd wachsenden Teenager-Selbst vorzudringen. Seine Worte brachten eine Lawine aus W-Fragen ins Rollen, beförderten mich mit einem Arschtritt in die nächste Lebensphase, die bestimmt sein würde von all den Qualen und Zweifeln, die mit dem WARUM einhergehen. In meinem Hirn sollte fortan Absolutismus herrschen: Die königliche Fragen-Familie hatte mein altes Ich gestürzt und den Thron bestiegen.
     Meinem Leben erging es wie dem Sauerteig. Eine kleine Handvoll Ws durchsäuerte den ganzen Teig und ließ ihn aufgehen. Ich sprengte die Schüssel meiner Kindheit und breitete mich wild in alle Richtungen aus, ohne zu wissen wohin.
                                                             *


Mit freundlicher Genehmigung des Verbrecher Verlages
(Copyright Verbrecher Verlag)


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