Vorgeblättert

Leseprobe zu Katharina Born: Schlechte Gesellschaft. Teil 1

31.01.2011.
Abspann (Gegenwart)

Die Titelmelodie setzt ein. Hans Ullrich Kittel lässt sich in seinem Klappstuhl zurückfallen. Als die letzten Zeilen des Abspanns über einer Luftaufnahme des Westerwaldes eingeblendet werden, drückt er auf die rote Taste der Fernbedienung. Der Bildschirm schaltet sich aus. Mit beiden Händen fährt sich der Professor über den Kopf und betrachtet lange ein paar zwischen den Fingern hängengebliebene Haare.
     "Ein Teufelskerl, dieser Freddy", sagt er in die Stille hinein. "'Du siehst, wohin du siehst nur Eitelkeit auf Erden. Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden. Was itzt so pocht und trotzt ist morgen Asch und Bein'. Gryphius. Recht hat er."
     Auf der Anzeige des DVD-Spielers läuft das Zählwerk weiter. Längst ist es dunkel. Im leergeräumten Erdgeschoss des Bungalows hört man von weitem das Ticken der Küchenuhr. Auf dem dumpfen Schwarz der doppeltverglasten Terrassenfront spiegeln sich die von der Decke herabhängende Glühbirne, der Fernseher, der Stuhl und Kittel selbst.
     "Das war?s dann wohl mit Villa Westerwald", sagt der Professor.


Eine gefallene Frau (September 1933)

Seit Wochen jagte der Ostwind über die Buchenstände des unteren Westerwalds. Beständiger Nieselregen verwandelte die Wege in zähen Schlamm, wie er sonst erst im November die Gegend rund um Sehlscheid bedeckte. Vor zwei Tagen schließlich war der Regen stärker geworden und prasselte seitdem ohne Unterbrechung auf das Dorf nieder.
     Ein Eichenast klatschte auf den nassen Grund und Schnapp sprang jaulend zur Seite. Mit einem zweiten Satz rettete der alte Hund sich wieder unter das Vordach. Aus den Löchern einer Zinkwanne am Eingang schoss Wasser gegen den Lehm der Hauswand. Moosballen lösten sich vom First und rutschten nach und nach tiefer, bis sie in die Pfützen entlang der Mauer fielen. Von dort schwemmte der Regen sie zwischen den Haselsträuchern hindurch abwärts.
     Die Silberpappeln am Melsbacher Hohlweg, deren Rauschen die Bewohner von Sehlscheid an ruhigeren Tagen wie eine dichte Glocke umgab, schlugen in heftigem Tosen ihre Zweige gegeneinander. Das Kirchengeläut war nur dumpf zu hören. Aber die wenigen Einwohner des Ortes wussten ohnehin Bescheid. Die Alte war vor zwei Tagen gestorben.
     Immer langsamer hatte sie ihre täglichen Wege hinter sich gebracht. Der Hund war ihr dicht auf den Fersen gefolgt, den knarrenden Lederpantoffeln und vielfach gestopften Wollstrümpfen. "Wirst auch enden wie dein seliger Vater", schimpfte sie, wenn sie ihren Enkel von Ferne erblickte. Über den Urenkel, der im Dorf den Mädchen hinterher zu schauen begann, sagte sie: "Brauchst gar nicht der Mutter die Suppe wegessen. Nimmst dir Frau und Kinder, kannste die satt kriegen." Und wenn sie auf dem Burplatz stehenblieb, wo die Weiber tratschten, rief sie: "Wenn mer all die Mäuler zustopfen wollten, müssten mer viel Dreck ham." Dann ging die Alte, den Stock in ruckhaften Bewegungen aufsetzend, das Kinn vorgestreckt, mit steifen Schritten weiter. Ihre Augen schimmerten wässrig, der schlaff gewordene Mund schien an irgendetwas zu kauen, das abscheulich schmeckte.
     Irma Vahlen, geborene Wittlich, die einmal als das schönste Mädchen von Sehlscheid, vielleicht des ganzen Westerwaldes gegolten hatte, wurde im Dorf seit langem als hässlich bezeichnet, weil man nicht schlichtweg böse sagen wollte. Und so verwunderte es niemanden, dass ihr starker Rücken sich vor der Zeit zu krümmen begonnen hatte. Ihre früher zart geröteten Wangen waren ledrig geworden. Die leuchtenden Augen, die geschwungenen Brauen schienen überdeckt von einer Haut aus Bitterkeit.
     Am Morgen hatte die Alte noch die Messe besucht, war an ihrem Stock leise schimpfend die Hüh herunter- und den Kirchweg wieder heraufgeklettert. Trotz des kalten Regens blieb sie hinterher auf halbem Weg stehen. Schnapp hatte dieses Anhalten genutzt, um sich schnell vor ihre Füße zu setzen. Aber ohne die Bemühungen des Hundes zu beachten, einen Blick zu erhaschen, ein Wort oder zumindest einen Tritt, hatte die Alte mit gekrümmtem Nacken über die gelbgefärbten Buchenwälder und das diesig verhangene Aulbachtal geblickt, als lausche sie dem Fahnenlied, das in hohen Kinderstimmen vom Marktplatz herüberwehte.
     Den Gruß des alten Gehrke, der seine Sau den matschigen Kirchweg entlang zum Eber trieb, schien die Witwe nicht zu bemerken. Seiner Frau sagte er später, er habe hinter seinem Rücken noch lange das Schimpfen der Alten gehört. Und wie am nächsten Tag Annelies Gehrke der Nachbarin berichtete, war es ihrem Wilhelm dabei kalt den Rücken heruntergelaufen.
     Am nächsten Tag hatte Schnapp vergeblich auf seine Herrin gewartet. Mehr Menschen als gewöhnlich waren im Haus ein- und ausgegangen. Der Pfarrer war auf die Hüh gestiegen, der Arzt und auch Hermann Vahlen, der Enkel der Alten, der dem Hund im Heraustreten einen freundlichen Klaps gab. Die junge Brink brachte ein paar Meter Tuch vorbei, die ihr vom letzten Schlachtfest geblieben waren. Kläre, die Schwiegertochter der Toten, zog ihr dafür ein Kaninchen aus dem Verschlag. Und Hermann hatte im Hof ein paar lange Bretter zu einer Kiste zusammengezimmert.
     An diesem kalttrüben Morgen im September 1933 hoben Hermann und sein Sohn die knochige Alte, die sich, in das dürftige Tuch eingenäht, wie ein totes Kalb anfasste, vom Strohbett in die Kiste. Beim Ablegen entwich dem Körper ein letzter brodelnder Atemstoß. Alle Umstehenden, der in Wachstuch gehüllte Pfarrer, die Nachbarn und die Familie, hielten die Luft an, solange sie konnten. Nur Schnapp sog den strengen Geruch seiner toten Herrin ein.
     Der Sarg war zu groß geraten. Kläre Vahlen schimpfte. Man hatte ihn mit Stroh ausgelegt und doch schien beim Aufnehmen die Tote im Sarg hin- und her zu rollen. Die Männer spürten leichte Stöße, als hämmerte die Alte mit Fäusten gegen das Holz. Wie auf ein Zeichen hielten sie inne, doch außer dem auf die Kiste trommelnden Regen, dem Schlagen des Windes gegen das Gatter des Ziegenverschlags und dem Tosen der Pappeln am Fuß der Hüh war nichts zu hören.
     Die Männer tasteten sich, die Kiste auf den Schultern, hinter dem Pfarrer und seinem Messdiener den steilen Hügelpfad hinunter. Nach wenigen Metern fanden Hermanns Stiefel im Schlamm keinen Halt mehr. Als ihm dann noch der Hund vor die Füße sprang, ohne dass jemand die plötzliche Entschlossenheit des Tieres bemerkt hätte, ging auch der Förster in die Knie und der Sarg entglitt ihnen.
     Der Pfarrer trat erschrocken zur Seite. Kläre aber, Hermanns Frau Emmy, Martha, die allein aus Koblenz angereist war, Hagis Kind und alle anderen Dorfbewohner, die trotz des Regens auf die Hüh gekommen waren, betrachteten mit offenen Mündern das Unglück, das sich übertrieben langsam abzuspielen schien, als könnte man es jederzeit mit nur einem Wort aufhalten. Niemand sagte etwas.
     Alle Bewohner von Sehlscheid kannten die Geschichte der Frau, die da ihre letzte Ruhe finden sollte. Trotz ihres inzwischen ansehnlich gewordenen Hofes auf der Hüh und trotz ihrer Enkel und Urenkel, die es bis zur höheren Schule in Arlich geschafft hatten, galt Irma Vahlen in Sehlscheid als eine "gefallene Frau". Und wie eine neue, gefährliche Form der Maßlosigkeit schienen sich ihr Leichtsinn, ihr früher Hang zu Unzufriedenheit und ihr überheblicher Stolz inzwischen auf das gesamte Dorf ausgebreitet zu haben.
     Der Sarg polterte auf dem matschigen Pfad abwärts, scherte aus nach rechts und prallte an einen Baumstumpf. Der Oberkörper der Toten zeigte sich über dem Rand der zerborstenen Kiste. Ihr nasses Haar klebte am Schädel. Die letzten Zähne der Witwe, ihr seit Jahren kaum mehr dienlich, ragten aus dem geöffneten Mund hervor. Und Irma Vahlens einst so blaue Augen waren unter den Lidern eingefallen wie dunkle Trichter.


Der Doktorand und die Witwe (April 2007)

Eine letzte Kurve des Kieswegs verlängerte den Weg des Doktoranden vom Wald herüber zum Wohnhaus. Er ging mit weiten Schritten, die Tasche trug er unter dem Arm, sein heller Mantel wehte in der aufkommenden Brise. Er hatte ihn erst heute Morgen in Koblenz für diesen überraschend milden Frühlingstag gekauft.
     Andreas Wieland nahm sich vor, seinen entschlossenen Gesichtsausdruck gleich in ein Lächeln zu verwandeln, sollte ihm jemand entgegenkommen. "Der Doktorand aus Duisburg", wollte er dann sagen. "Ist Frau Vahlen zu sprechen?" Aber niemand bewachte das abgelegene Grundstück vor ungebetenen Gästen. Der kleine Parkplatz am Waldrand, wo er den Wagen abgestellt hatte, war leer gewesen. Aus den verwilderten Rosenbeeten schossen hohe Wassertriebe.
     Das Haus des Schriftstellers wirkte trotz der von Moos und Nässe schmutzig gewordenen Fassade für die Gegend ungewöhnlich vornehm. Geschnitzte Verzierungen begrenzten das Schieferdach, die hohen Fenster waren teilweise mit Läden verschlossen, eine Steintreppe führte vom Kiesweg zum Eingang. Auf der obersten Stufe vor der mächtigen Tür lag ein brauner Dackel und betrachtete den Besucher ohne Interesse. Wieland überlegte, ob er es wagen sollte, über das Tier hinweg die Klingel zu drücken. Aber da schoss der Hund schon auf ihn zu.
     "Karel", rief jemand mit rauher, fast heiserer Stimme aus dem Inneren des Hauses. Eine hochgewachsene Frau erschien in der Eingangstür. Ihre sehr aufrechte Haltung drückte Eleganz und Überlegenheit aus, aber auch etwas Lauerndes. Das aschblonde Haar war sicherlich gefärbt. Ihre transparent wirkende Schönheit, die dünnseidige Haut um ihre Augen ließen ahnen, dass sie weit über sechzig sein musste.
     "Guten Tag ?" Der Dackel begann zu kläffen.
     "Wer sind Sie?"
     "Andreas Wieland von der Universität in Duisburg", rief er gegen das Bellen an. "Ich arbeite an einer Dissertation zu Gert Gellmann und suche seine Briefe an Peter Vahlen. Ich hatte geschrieben."
     "Was haben Sie geschrieben? Wem haben Sie geschrieben?"
     "Ich habe Frau Vahlen geschrieben, dass ich vorbeikommen würde", sagte Wieland nun etwas zu laut.
     "Aber Frau Vahlen hat Sie nicht gebeten, herzukommen, nicht wahr?"
     "Entschuldigen Sie. Auf Ihrer Karte schrieben Sie, wir müssten uns erst einmal kennenlernen. Deshalb dachte ich ?" Endlich verstummte der Hund.
     "Entzückend!", lachte die Frau auf. "Das war eine vage gestellte Bedingung, junger Mann, keine Einladung. Man fällt fremden Leuten nicht einfach ins Haus. Auch nicht, wenn diese sich für Blumen bedanken, um die sie nie gebeten haben."
     "Entschuldigen Sie." Wieland war froh, dass sie seine Blumen erwähnte. "Ich wollte Sie nicht stören. Ich dachte nur ?"
     "Woher haben Sie überhaupt meine Adresse?"
     Er zögerte. "Die hat mir freundlicherweise der Herr vom Blumenladen verraten. Sie wissen ja, die Serie. Ich habe erfahren, dass sie hier in der Gegend spielt, und da dachte ich ?" Er hatte jetzt das unangenehme Gefühl, tatsächlich zu weit gegangen zu sein. "Der Mann dachte sich bestimmt nichts dabei. Ich habe den Blumenstrauß für Sie bestellt, und da gab er mir die Lieferadresse."
     "Die Leute aus Sehlscheid denken sich nie etwas dabei." Die Witwe betrachtete ihn von oben bis unten. "Hören Sie, Herr Doktorand", sagte sie schließlich. "Sie scheinen mir nicht ganz dumm zu sein. Sie werden verstehen, dass ich keine Zeit habe für solche Dinge. Ich führe mein eigenes Leben. Der Nachlass meines verstorbenen Mannes ist völlig ungeordnet."
     "Ich würde Ihnen gerne helfen, die Papiere zu ordnen. Für mich wäre das eine große Ehre."
     "Gibt es in Ihrer Universität keine anderen Themen, mit denen Sie sich beschäftigen können? Hat Ihnen niemand gesagt, dass ich meine Ruhe haben will? Vielleicht hätten Sie sich erkundigen sollen, bevor Sie mich belästigen."
     Wielands Haut begann zu brennen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so grob empfangen worden zu sein. Dabei hatte er gedacht, wenn er Hella Vahlen persönlich sprechen würde, könnte er ihr alles erklären.
     Wieland hielt sich für jemanden, der es verstand, Vertrauen herzustellen. Vor allem die Frauen wussten sein vorsichtiges Lächeln zu schätzen, die Zurückhaltung, die von seinem schweren, aber nicht unförmigen Körper ausging und die sie, wie er meinte, für ein Zeichen von Feinfühligkeit hielten. Er fand auch nicht, dass sie sich täuschten. Er war nur immer wieder erstaunt, wie bereitwillig sich ihm Menschen zuwandten, die ihn kaum kannten.
Das Gefühl, die Witwe halte seine jahrelange Arbeit, das Ansammeln der Materialberge und Archivrecherchen, das mühsame Entziffern von Handschriften für eine beliebig auswechselbare Tätigkeit, ärgerte ihn. Ihm fehlten nur noch Vahlens Briefe. Monate hatte er gebraucht, um allein den Wohnort der Erben herauszubekommen. Nun sollte die Willkür der Witwe über die Qualität und Vollständigkeit seines gesamten Forschungsprojekts entscheiden. Dabei war sie lediglich die Frau, die Peter Vahlen einmal geheiratet hatte. Und auch wenn Vahlen zu Lebzeiten bekannter gewesen war als Gellmann, heute spielte sein Name außerhalb der Schulbücher und Anthologien kaum noch eine Rolle.
     "Verstehen Sie mich bitte nicht falsch", begann Wieland von neuem. "Ich habe durchaus davon gehört, dass Sie nicht gerne solche Anfragen bekommen. Aber als einer der einflussreichsten Autoren der fraglichen Zeit darf Peter Vahlen in meiner Arbeit nicht fehlen. Meine Dissertation könnte auch für die Rezeption seines Werkes wichtig sein. Ich hätte es schlicht als unhöflich empfunden, Sie nicht zu fragen, ob Sie mir helfen wollen."
     Wieland hatte wohl den richtigen Ton gefunden. Die Witwe schien nachzudenken. Nach einer Weile räusperte er sich, und sie sah ihn fragend an, als habe sie vergessen, dass er vor ihr stand. Dann begann sie plötzlich zu zischen, ein tonloses, scharfes Geräusch, und der Dackel trottete zurück an seinen Platz vor der Tür.«
     "Nun kommen Sie schon herein", sagte sie.
     Wieland stieg die restlichen Stufen der Treppe herauf und tat einen Schritt über den Hund hinweg. In der mit dunklem Marmor gefliesten Eingangshalle zog er den Mantel enger um sich. Aus dem Kamin roch es nach feuchtgewordener Asche. Staub lag auf den Vorsprüngen der Wandvertäfelung. Am Eingang steckten in einer Vase zwei Regenschirme, über die sich Spinnweben zogen. Trotz seiner offensichtlichen Ungepflegtheit ging von dem Haus eine besondere Lebendigkeit aus. Unter dem Aufgang zum ersten Stock öffnete sich eine buntverglaste Doppeltür zum hinteren Flügel. Rechts führte ein Gang hinaus in den Wintergarten, den Wieland schon bei seiner Ankunft gesehen hatte. Auch im Vergleich zum Haus seiner Mutter erschien ihm hier alles aus einer anderen, besseren Zeit.
     "Ich werde Ihnen kaum helfen können", sagte die Witwe, die ohne ein weiteres Wort vorausgegangen war. Wieland folgte ihr in den mit hohen Pflanzen bestandenen Glasanbau.
     Hella Vahlen musste bereits getrunken haben, denn auf dem Tisch stand eine halbvolle Flasche Weißwein. Ein Laptop surrte aufgeklappt vor sich hin. Der Bildschirm war zu klein, als dass Wieland aus der Entfernung hätte erkennen können, woran sie arbeitete. Die Witwe schenkte ihm ein Glas ein, bot ihm einen Sessel an und nahm selbst auf der Chaiselongue Platz. Sie schien ihre feindliche Haltung nun ablegen zu wollen. Aber auch die neue Freundlichkeit war schwer einzuordnen, und ihre Schönheit irritierte Wieland.
     "Niemand hat die Papiere bisher auch nur angefasst. Der eine oder andere behauptet zwar, dass alles bereits veröffentlicht sei und es hier nichts mehr zu entdecken gibt. Aber woher wollen sie das wissen? Schließlich würde ich mich daran erinnern, die Sachen jemandem gezeigt zu haben. So lange ist das alles ja nicht her."
     Naja, dachte Wieland. Peter Vahlen war vor beinahe fünfzehn Jahren gestorben. Ein tödlicher Unfall, hieß es in den Nachschlagewerken. Immerhin war aus seinem Roman inzwischen eine erfolgreiche Fernsehserie geworden. Demnächst sollte die sechste Staffel anlaufen. Sogar in Duisburg hingen die überlebensgroßen Werbeplakate für Villa Westerwald. Vahlens Verlag hatte sicherlich von dem Rummel profitiert. Auch wenn die Serie in der Öffentlichkeit so gut wie nie mit dem Schriftsteller in Verbindung gebracht wurde, schien es dem Doktoranden unwahrscheinlich, dass sich noch niemand um seinen Nachlass bemüht haben sollte.
     Die Witwe schlug die Beine übereinander. "Gellmann", sagte sie nun lauter, und Wieland wunderte sich über die plötzliche Härte in ihrer Stimme. "Ich glaube nicht, dass wir überhaupt etwas von ihm haben."
     "Aber Herr Gellmann hat Briefe Ihres verstorbenen Mannes an das Archiv gegeben. Er selbst sagte mir, dass bei Ihnen noch einiges von ihm sein müsste."
     "Gellmann weiß das doch gar nicht. Der hat auch vieles vergessen", sagte sie ärgerlich, fasste sich aber gleich wieder. "Worum geht es denn in Ihrer Arbeit?"
     "Ich möchte anhand von Gellmanns Korrespondenz zeigen, wie in seinen frühen Stücken vor allem autobiografische Elemente zum Tragen kommen. Bisher galten sie als reines Dokumentartheater."
     Der Doktorand war froh, von seinem Projekt erzählen zu können. Er ließ die enge Zusammenarbeit mit Gert Gellmann zunächst beiseite und nannte stattdessen die Namen der bekannten Regisseure, Autoren und Kritiker, die ihm mit Material und Informationen behilflich gewesen waren. Schließlich betonte er noch einmal das Interesse der Wissenschaft an Vahlens Beziehung zu Gellmann.
     Während er sprach, machte er häufig Pausen, trank vom Wein, der ihm schmeckte und wohltat, und begann auch die Blicke der Witwe zunehmend zu genießen. Er war sich noch immer nicht im Klaren, was er von Hella Vahlen erwarten konnte. Vielleicht wollte sie ihn prüfen, dachte er, so etwas war er gewohnt von den Frauen, mit denen er zusammengearbeitet hatte. Oder sie machte sich nur lustig über ihn und seine sicher allzu offensichtliche Überredungsstrategie, und dann meinte er plötzlich, sie fände ihn attraktiv.
     Die Vorstellung begann Wieland zu beunruhigen, als er einen fauligen Gestank bemerkte. Noch beim Sprechen suchte er den Raum nach einem möglichen Ursprung ab, bis er zu seinen Füßen den Dackel liegen sah. Abrupt erhob er sich. Aber sofort jaulte der Hund auf, so dass Wieland fürchtete, die Witwe könne glauben, er habe das Tier getreten.
     "Wir gehen in den Salon", sagte Hella Vahlen. Und sie lächelte beinahe fröhlich, als genieße sie die erneute Fassungslosigkeit ihres Besuchers.

Teil 2