Vorgeblättert

Leseprobe zu Jamal Mahjoub: Die Stunde der Zeichen, Teil 1

KAPITEL 1

Weißer Nil, 12. August 1881


AUF DEM WINDSCHIEFEN OBERDECK, das er gern als seinen Kommandoposten bezeichnete, saß Mohammed Abu Al Saud Bey, ein berüchtigter Sklavenhändler und der stellvertretende Gouverneur des Sudan, auf einer hochkant gestellten Packkiste, die einst Gewehrmunition enthalten hatte. Über ihm war ein Sonnensegel befestigt, dessen Leinwand die Farbe verblichenen Sonnenlichts angenommen hatte und die Ausdünstungen Tausender dahingegangener Nachmittage barg. Vor ihm stand ein windschiefer, kleiner Tisch, und in der Ecke lehnte ein Klubsessel aus Bambus, der erschöpft seinen Dienst aufgegeben hatte. Kraft los hing die rote Fahne des Khediven mit dem goldenen Halbmond vom Heck herab. Selten nur wurde ihre Ruhe von sachten Windstößen gestört, die über die Reling des Schiff es krochen und in der erbarmungslosen Hitze kurze Augenblicke der Erleichterung bescherten.
     Sauds Augen brannten. Die Luft war dick und feucht, und seine Beine hatten wieder zu schmerzen begonnen. Er bemühte sich, das Summen der Insekten ebenso wenig zu beachten wie die Männer, die sich auf dem unteren Deck anbrüllten. Seine Augen waren nach oben gerichtet, auf den geblähten Bauch des leinenen Sonnensegels, vor dem ein Schwarm aasfressender Krähen in der Hitze tanzte. Die Vögel zankten sich und hackten bösartig aufeinander ein. Ihr unaufhörliches Krächzen schwoll auf und ab, da beständig neue Vögel aus den Bäumen am Flussufer aufstiegen und sich einmischten. Seit drei Stunden lag das kleine Dampfschiff bewegungslos da, und die Aasfresser wurden langsam ungeduldig.
     Als Saud den Kopf aus den Händen hob und gellend nach Unterstützung brüllte, neigte sich das wackelige Gebilde, das sich als Tisch gebärdete, gefährlich zur Seite. Ein groß gewachsener Soldat, der sich in seiner steifen Uniform sichtlich unwohl fühlte, kam die enge Treppe heraufgeeilt, die vom Hauptdeck auf die Brücke führte. Sein staubiger tarboosh rutschte ihm vom Kopf. Ungeduldig entrang Saud den Händen des verwunderten Soldaten das Gewehr und feuerte, ohne richtig zu zielen, eine Schrotladung nach oben. Mit einem einstimmigen Schrei, der über das kräuselnde Wasser hallte, flatterten die Vögel auf und flogen davon. Während das Geräusch der Flügelschläge verklang, schwebten Federn auf den Kopf des Soldaten herab. Doch der zuckte nicht mit der Wimper. Er fing das Gewehr auf, das der Ägypter ihm gereizt zuwarf, und zog sich, unbeeindruckt und ohne ein Wort zu sagen, über die Treppe zurück.
     Hunderte Strahlen des staubigen Nachmittagslichts fielen durch die Löcher des gelbsüchtigen Sonnensegels. Ein verwundeter Vogel bemühte sich noch zu begreifen, warum seine Flügel ihm den Dienst verweigerten und versetzte die Leinwand in krampfartige Zuckungen. Mit einem Fluch tat Abu Saud die Angelegenheit schließlich ab und trat an die Bordwand. Plötzlich geriet das Schiff ins Schlingern, und er griff nach der eisernen Reling, um sich festzuhalten.
     Unter ihm spritzte ein Haufen Soldaten im Wasser herum und lachte. Sie bemühten sich, das Dampfschiff wieder flott- zumachen, das auf eine Sandbank gelaufen war. Plötzlich war ein Schrei zu hören, und die Männer an der Reling fingen an, überstürzt ins Wasser zu feuern. Ein schlammiger Schatten bewegte sich unter der Wasseroberfläche. Dann war er verschwunden. Die Soldaten hangelten sich an den Tauen nach oben und ließen sich über die Bordwand auf das Deck fallen. Das Lachen und die vorgetäuschten Angstschreie verstärkten sich noch, als die Männer, nach Luft schnappend, auf dem Deck zusammensanken. Saud kehrte ihnen den Rücken zu und schüttelte voller Verzweiflung den Kopf. Er ließ seine Augen auf dem lehmigen Braun der Sandbank ruhen. Warum nur hatte Gott gerade ihn für diese Aufgabe auserkoren?
     Natürlich begriff der Generalgouverneur in seiner ganzen Weisheit überhaupt nichts von dem, was hier vor sich ging. Überließ man Rauf Pascha die Angelegenheit, dann würde überhaupt nichts geschehen. »Ein einzelner Fanatiker macht doch noch keinen Aufstand, mein Lieber«, hatte er in seiner asthmatischen Sprechweise erklärt und dabei prüfend seine Fingernägel betrachtet. Saud hatte sich Mühe gegeben, seinem Vorgesetzten den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Schließlich besaß er aus seinen Tagen im Süden, in den Sklavenlagern von Gondokoro zum Beispiel, Erfahrung darin, wie man mit solch aufmüpfigen Kerlen umspringen musste. Niemals auch nur die geringste Schwäche zeigen, so lautete die oberste Regel. Mit diesen Leuten konnte man nicht streng genug umgehen. Bei seiner umfangreichen Erfahrung überraschte es ihn nicht im Mindesten, als er erfuhr, dass diese unbedeutende Insel zu einem Widerstandnest geworden war. Dass sich dort ein seltsamer Kerl herumtrieb, war seit Jahren allen bekannt. Schiff er, Fischer, sogar die Soldaten auf den zahlreichen Dampfschiffen, die südwärts fuhren, hielten aus Respekt vor dem Heiligen, der auf der Insel hauste, inne, hoben die Hände zum Gesicht und beteten. Das Antlitz des Generalgouverneurs hingegen hatte sich vor Abscheu in Falten gelegt, als Saud auf seiner Meinung beharrte. Und Saud hatte geseufzt. Wenn man den Mann nicht unverzüglich verhaftete und zwang, nach Khartum zu kommen und den ulama Rede und Antwort zu stehen, dann ermunterte man damit andere, der Autorität des Khediven zu trotzen.
     »Ja, schon gut. Aber was hat dieser arme Irre denn überhaupt verbrochen? Nur gepredigt und seltsame Verkündigungen von sich gegeben. Sie haben mir selbst berichtet, dass sich nur entlaufene Sklaven und Diebe um ihn scharen. Männer des niedrigsten Standes. Mit Bettlern und Huren lässt sich kein Aufstand durchführen.«
     Der armenische Sekretär in seiner Ecke des großen Prunkzimmers kicherte vor sich hin. Er hatte offensichtlich seinen Spaß an der Vorstellung. Als Abu Saud ihm einen vernichtenden Blick zuwarf, senkte diese Hyäne die Augen pflichtschuldig wieder auf die Papiere, welche zu studieren sie vorgab. Der Gouverneur aber fing an, sich für sein Publikum zu erwärmen. »Der Mann ist doch offensichtlich ein Irrer, behauptet, der Herrscher dieses Landes zu sein. Es sei denn, ich habe mich, ohne es zu merken, in eine schmutzige, in Lumpen gehüllte Gestalt verwandelt. « Er breitete theatralisch die Arme aus und sah an sich hinab, um sein Aussehen und den Zustand seiner Kleider zu überprüfen. Der Armenier in seiner Ecke winselte. »Wenn es Ihnen so sehr am Herzen liegt«, fuhr der Generalgouverneur fort, »dann würde ich vorschlagen, dass Sie sich der Sache annehmen. Nehmen Sie sich so viele Soldaten, wie Sie benötigen, und bringen Sie diesen Irren hierher.« Mit einer Handbewegung war Saud entlassen.
     Wenn also jemandem wegen seiner gegenwärtig misslichen Lage Vorwürfe zu machen waren, dann nur ihm selbst. Aber - und bei diesem Gedanken durchlief Saud ein Schauder der Befriedigung - möglicherweise würde der Khedive ihn für seine Mühen befördern, und dann würde Rauf Pascha mit eingezogenem Schwanz nach Kairo zurückbeordert werden. Saud drehte sich um und sah einen seiner Adjutanten vor sich stehen. Der hier, fiel es ihm wieder ein, war der Begriffsstutzige mit dem Schnurrbart. An Bord der Ismailia befanden sich zwei Züge Soldaten. Sie wurden von zwei bimbashi befehligt, von denen, so erinnerte sich Saud, der eine groß und der andere klein gewachsen war. Außerdem, so war es ihm vorgekommen, dachte der eine ziemlich langsam, während der andere einen klugen Kopf besaß. Langsam und tief sog er die Luft ein, als er bemerkte, dass sich der Unteroffizier nicht die Mühe gemacht hatte, vor ihm zu salutieren. Das erinnerte ihn an die Unverschämtheit, die er vorhin in den Augen des Soldaten bemerkt hatte. Wahrlich, sein Arbeitstag verschliss sich heute zwischen dem Unwillen von Soldaten und den Wahnvorstellungen von Verrückten.
     »Ja?«
     »Sir, ich mache mir Sorgen um die Männer.«
     »Die Männer? Was haben sie denn?« Saud machte sich nicht die Mühe, seine Verwunderung zu verbergen.
     »Nachdem sie so hart gearbeitet haben, um das Schiff freizubekommen, werden sie für den Angriff heute Nacht nicht in bester Verfassung sein. Vorausgesetzt«, fügte der Unteroffizier düster hinzu, »es gelingt uns, die Insel Aba heute noch zu erreichen, Sir.«
     Saud schritt das Deck ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Wollen Sie damit sagen, dass Ihre Männer eine kleine Pause nötig haben, eine kurze Erholungsphase vielleicht?«
     »Na ja«, zuckte der Unteroffizier mit dem Schnurrbart die Achseln, »ich meine nur, dass wir darüber nachdenken sollten, ob wir den Angriff nicht besser auf morgen verschieben.«
     Saud ließ sich schwer auf die Munitionskiste sinken und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Ich hatte angenommen, dass wir uns darüber einig waren, ein Nachtangriff wäre das Beste. Ich muss doch einem Mann des Militärs wie Ihnen nicht erst die strategischen Vorteile erläutern, oder?« Er hob den Blick; der bimbashi starrte auf das Deck hinunter. Saud atmete tief durch. »Natürlich steht es Ihnen frei, Ihren Männern eine Nacht lang Ruhe einzuräumen. Sie unterstehen Ihrem Befehl. Allerdings muss ich dann die anderen bitten, allein an Land zu gehen.«
     Damit war alles geklärt. Selbstverständlich konnte der Unteroffizier nicht zulassen, dass seine Männer von dem anderen Zug ausgestochen wurden. Saud lächelte in sich hinein; zwei konkurrierende Befehlshaber an Bord eines Schiff es, das sorgte für die besten Ergebnisse. Er beglückwünschte sich zu seinem großartigen Einfall und wandte sich wieder der eingehenden Betrachtung seiner Fingernägel zu, wobei er an ein bestimmtes syrisches Mädchen dachte, das vor kurzem in seinen Besitz geraten war, hellhäutig und sehr jung. Das Leben besteht nicht nur aus schwerer Arbeit, dachte er bei sich, während er seine Hände betrachtete und sich ins Gedächtnis rief, wie gut die kecken kleinen Brüste da hineingepasst hatten.
     Als sich die Nacht niedersenkte, rollten schwere Wolken heran. Die Ismailia klammerte sich an überhängende Zweige und Blätter, schrammte an hohen, dürren Palmen vorbei, während der Fluss um ihren klapperigen Rumpf gurgelte und schäumte. Der Regen fiel in dichten Schleiern und durchnässte die verdrossenen Soldaten, die am Bug des Dampfers standen, ihre Waffen umklammert hielten und nach der baumbestandenen Insel Ausschau hielten. Bis auf den Regen war alles bewegungslos und stumm, kein Windstoß, nur das Gewicht der Wolken, die so schwer herabzudrücken schienen, dass ein Mann davon Kopfschmerzen bekommen konnte. Sie ankerten vor der Nordwestspitze der kleinen Insel. Die Männer sprangen über die Bordwand und wateten an Land, die Gewehre hoch über dem Kopf erhoben. Sie teilten sich auf und verschwanden aus dem Blickfeld, wurden von der Nacht und dem Vorhang des sanften, warmen Regens verschluckt.

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Teil 2

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