Vorgeblättert

Leseprobe zu Götz Aly: Die Belasteten. Teil 1

28.02.2013.
Sterbehilfe, Idee einer säkularisierten Welt

»Darf der Arzt töten?« Das fragten sächsische Nervenärzte auf ihrer Jahresversammlung 1922. Den Anlass bot das kurz zuvor erschienene Manifest »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens - ihr Maß und ihre Form«, das zwei hochangesehene Gelehrte verfasst hatten, der Freiburger Psychiater Alfred Hoche und der Leipziger Strafrechtslehrer Karl Binding. Einer der debattierenden sächsischen Ärzte, der Geheime Medizinalrat Otto Hösel, verwies auf den seiner Meinung nach merkwürdigen Widersinn, »dass dieselben Leute für den Tod von Idioten« plädierten, die für »die Abschaffung der Todesstrafe bei Verbrechern« einträten.

Er sprach damit einen Zusammenhang an, der nach 1933 und auch 1945 vergessen gemacht wurde. Für Sterbehilfe, humanen Tod oder sanfte Erlösung warben in den 1920er-Jahren vielfach jene politisch Engagierten, die gegen Todesstrafe und Abtreibungsverbot auftraten, Frauenrechte forderten, den verpönten Selbstmord begrifflich zum individuell gewählten Freitod läutern, Ehescheidungen und überhaupt freiere Lebensformen erleichtern wollten. Nicht selten propagierten dieselben Reformer die Sterilisierung behinderter Menschen - allerdings in freiwilliger Form, wobei sie darunter auch das Einverständnis von Sorgeberechtigten und amtlich bestellten Vormündern verstanden. Für das Töten behinderter Kinder traten deutsche Sozialreformer in den 1920er-Jahren nur ausnahmsweise ein, wohl aber für Prävention im Sinne eugenisch indizierter Abtreibungen. Sie taten das im Namen des sozialen Fortschritts und eines nur mehr irdisch verstandenen Glücks. Solche Diskussionen und der damit einhergehende Wertewandel fanden nicht nur in Deutschland statt, doch führten sie nirgendwo sonst zu derart radikalen praktischen Konsequenzen.

In ihrer zivilen Vorgeschichte spiegeln selbst die Krematorien, die später zu Symbolen nationalsozialistischer Verbrechen wurden, die Ambivalenz dieses Fortschrittsdenkens. Von 1880 an ertrotzten liberale und sozialdemokratische Laizisten - über Jahrzehnte hinweg und von Großstadt zu Großstadt - die Möglichkeit der Feuerbestattung gegen die christlichen Kirchen, insbesondere gegen den katholischen Klerus. Ähnlich gebrochen erscheint der Begriff Fortschritt hinsichtlich der gesetzlichen Zwangssterilisierung von rund 350000 Menschen während der ersten sieben nationalsozialistischen Jahre: Jene Kliniken, deren (in der Regel katholische) Träger und Ärzte sich damals erfolgreich weigerten, Zwangssterilisierungen durchzuführen, waren im Großen und Ganzen dieselben, deren ärztliche Direktoren es in der späteren Bundesrepublik ablehnten, die 1974 gesetzlich straflos gestellten, medizinisch jedoch nicht gebotenen Abtreibungen vorzunehmen.

Zwischen 1939 und 1945 wurden die als Euthanasie bezeichneten Morde namens der deutschen Regierung an etwa 200000 Angehörigen deutscher Familien vollstreckt. Der Widerstand dagegen blieb insgesamt gering. Wo aber Protest aufbrach, speiste er sich kaum je aus den Prinzipien moderner Rechtsstaatlichkeit oder aus den Ideen eines säkularen Humanismus, sondern aus dem längst schon geschwächten Glauben an die Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen - sei dieser noch so verkrüppelt, idiotisch oder schwachsinnig, pflegebedürftig oder schwer leidend.

Wie wenig die meisten heutigen Deutschen die ethischen Grundlagen dieses Widerstands teilen, wird für jeden greifbar, der die vollständige Predigt liest, die Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941 hielt. Der Bischof von Münster brandmarkte die Morde an den Geisteskranken als Verbrechen und ermahnte im selben Atemzug seine Gemeinde, sich aus anderen Gründen vom gottlosen Nationalsozialismus abzuwenden: »Denkt an die Anwei sungen und Zusicherungen, die der berüchtigte Offene Brief des inzwischen verschwundenen Rudolf Hess, der in allen Zeitungen veröffentlicht wurde, über den freien Geschlechtsverkehr und die uneheliche Mutterschaft gegeben hat. (…) An welche Schamlosigkeit in der Kleidung hat die Jugend sich gewöhnen müssen. Vorbereitung späteren Ehebruchs! Denn es wird die Schamhaftigkeit zerstört, die Schutzmauer der Keuschheit.« Ähnlich predigte am 2. November 1941 der katholische Bischof von Berlin, Konrad Graf von Preysing, gegen die Euthanasiemorde. Er mahnte: Eine derartige »Tötung ist schwere Sünde, schwere Schuld, ob es sich um das Kind im Mutterleib handelt oder um alte, gebrechliche, geisteskranke Menschen, um sogenannte 'lebensunwerte' Existenzen«. Galen wie Preysing bezogen Mut und Kraft, Unbeirrbarkeit und Willensstärke aus Glaubensquellen, die vor 1945 vielen Deutschen fremd geworden waren und mehr noch heute fremd sind.

Umgekehrt stimmten nicht wenige laizistisch eingestellte Deutsche den Euthanasiemorden zu, die den Nationalsozialismus in anderer Hinsicht rundweg ablehnten. Zum Beispiel Wolf Goette (1909-1995), damals Jungschauspieler am Deutschen Theater in Prag, später in der DDR erfolgreich. Er berichtete in den Briefen an seine Familie immer wieder, dass er die deutsche Politik »zum Kotzen« finde, er verspürte das »Gefühl entsetzlicher Scham«, wenn er den »Gelbgezeichneten« begegnete. Doch empfand er den Film »Ich klage an«, mit dem im Herbst 1941 die Euthanasiemorde propagiert und legitimiert wurden, zunächst als Dokument einer »sauberen und anständigen Gesinnung«, als erschütterndes Kunstwerk, in dem die »Notwendigkeit« der Euthanasie »in bestimmten Fällen hoffnungslosen Siechtums (…) filmisch großartig demonstriert wird«. Später regten sich leise Zweifel, »wenn ein Willkürstaat diese Idee proklamiert«.

Mit dem 1933 erlassenen Gesetz zur Sterilisierung von Menschen, deren Nachwuchs als unerwünscht galt, und dann mit dem staatlich gelenkten Mord an körperlich und geistig behinderten Menschen schwächte die Regierung Hitler ihre politische Basis in den laizistisch geprägten Milieus nicht. Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, die sich an diesem Programm beteiligten, mussten keine überzeugten Nazis sein, und sie konnten - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nach 1945 als angesehene Bürger in ihren Berufen weiterarbeiten.

Teil 2