Vorgeblättert

Leseprobe zu Gabriele Weingartner: Die Hunde im Souterrain. Teil 1

18.08.2014.
Kapitel 1

     Ist Ironie männlich oder weiblich? Unsere Ironie war geschlechtsneutral, dachte Felice, die irgendwann am Ende ihrer Pubertät begonnen hatte, ihren wahren Vornamen zu verleugnen. Die Ironie war unser Heiratsversprechen. Wichtiger als Treue oder Loyalität. Und ohne dass wir dieses Wort zu häufig in den Mund genommen hätten. Klaus Manns Mephisto zum Beispiel verachteten wir. In der Präsenzbibliothek des Goethe-Instituts in Boston konnte man den Roman damals lesen, trotz des Verbots. Ulrich und ich aber vermissten die Ironie in diesem zerfledderten, offensichtlich durch viele Hände gegangenen Band eines Münchner Verlages. Wir merkten, dass Klaus Mann alles tat, um so etwas wie Ironie zu vermeiden. Wahrscheinlich hat er die distanzierte Attitüde seines Vaters gehasst, die uns so gefiel. Sie war eines der bevorzugten Gesprächsthemen unserer Frühzeit, als wir uns selbst noch einbeziehen konnten in diese kunstvoll gewahrte Entfernung von der übrigen Welt. Und nicht der Meinung waren, dass deren Unglück uns gleichzumachen begann.
     Wir delektierten uns an den Schälmesserchen, mit denen sich die Freundinnen von Potiphars Frau in die Finger schnitten, als sie ihnen den jungen und schönen Joseph zum ersten Mal präsentierte. Wir liebten die Art, wie der durchtriebene Zweitjüngste mit seinen groben Brüdern in Sinnbildern sprach und seinen Vater mit Schmeicheleien bei Laune hielt. Wir lasen uns die Stellen vor, die wir besonders schätzten. Abends im Bett. Sonntagnachmittags auf dem Balkon. Manchmal sogar an Werktagen, im Botanischen Garten, auf irgendeiner Bank in der Nähe des Palmenhauses, während uns die Kohlweißlinge umflatterten. Settembrinis Streitgespräche mit Naphta, die wir auf ihren Sinn und ihren Unsinn abzuklopfen wagten. Imma Spoelmanns spitzzüngige Dialoge mit Klaus Heinrich, dem - zugegeben - allzu hölzernen Prinzen aus Königliche Hoheit. So wie Imma, die ja nur vermeintlich kaltschnäuzige Kapitalistentochter, wären wir gerne gewesen, so waren wir bisweilen. Ironie ließ sich nicht steigern, damals. Sie war unser Lebensgefühl, solange wir uns liebten. Unser Pfeifen im Wald, als wir uns verloren gaben.
     Und nun hatte Felice es mit einer Spottdrossel zu tun. In der Kopie eines Mies-van-der-Rohe-Sessels sitzend, in Sues kleiner Wohnung in Brooklyn, vor knapp einer halben Stunde abgesetzt von einem Taxifahrer, der sie von Newark hergebracht hatte, mit ihrem Trinkgeld nicht zufrieden und wütend auf sie gewesen war, weil er im Stau auf der Verrazano-Bridge zu viel Zeit verloren hatte. Sue, wie sie schon seit Langem hieß, war so schlau gewesen, ihren Schlüssel bei Nachbarn abzugeben, die ihn erst herausrückten, als Felice das Codewort nannte: Library. Aber sie halfen ihr auch, ihren uralten Koffer, dessen Rollmechanismus klapperte, über die Straße und die Treppe hinaufzuschleppen, während sie ihr versicherten, wie liebenswürdig Sue doch sei. Wie selbstlos sie an Wochenenden die Kinder fremder Leute hüte und sie sogar in ihrem Pool planschen lasse.
     Ja, Amerikaner waren freundlich und aufgeschlossen, das hatte Felice schon vor vierzig Jahren so empfunden. Vor dem Frauenmörder, der damals, zur Zeit ihrer Ankunft in Cambridge, die Gegend unsicher machte, wurde sie sofort und in den folgenden Wochen immer wieder von den unterschiedlichsten Leuten gewarnt, telefonisch oder auch einfach über den Gartenzaun hinweg beim unverbindlichen Gespräch, sodass sie sich eine Zeitlang gar nicht mehr aus dem Haus traute. Neighbourhood funktionierte in der Neuen Welt besser als im alten Europa - über Klassenschranken hinweg. Wahrscheinlich hatte Sue sich also gar nicht groß anpassen müssen. Schon früher war sie der Inbegriff von Zielstrebigkeit und Diskretion gewesen, die klassische Einser-Kandidatin, die in beängstigender Schnelligkeit ihr Studium absolvierte, während ihre Kommilitonen lieber demonstrieren gingen. Als Felice sie in einem der sterbenslangweiligen Bibliografierkurse kennenlernte, die sie während ihrer Ausbildung über sich ergehen lassen musste, hatte sich Sue dem Gleichmaß und den bürokratischen Abläufen ihres staatlich reglementierten Studiums bereits vollständig unterworfen, sie wehrte sich nie. Selbst ihr Hasch-Konsum fand nur am Wochenende statt. Vermutlich aber mussten Bibliothekarinnen so ticken: Sie gehen kein Risiko ein, sie wollen den Überblick behalten. Wobei Sue es immerhin bis nach New York geschafft hatte.
     Die Schwüle war atemberaubend, nachdem der Regen endlich aufgehört hatte. An ihrem Haaransatz sammelte sich der Schweiß, vergeblich versuchte sie, den großen Ventilator an der Decke in Bewegung zu setzen. Dann holte sie sich ein Glas Orangensaft aus dem Kühlschrank - er war riesig und so vollgestellt mit Salatsaucen, Ketchup und Diet Coke, wie sie sich einen amerikanischen Kühlschrank vorstellte -, zog die Schuhe aus, legte die Beine auf den nicht zum Sessel passenden Hocker und hörte der Spottdrossel zu, einem mockingbird, nicht zu verwechseln mit der Nachtigall, die in der deutschen Übersetzung von Harper Lees Roman To Kill a Mockingbird fälschlicherweise im Titel auftauchte. Sue hatte ihn in ihren Mails bereits vorgestellt. Seit Monaten halte der Vogel die ganze Straße vom Schlafen ab, er beginne nachts um zehn, manchmal sogar schon früher, und halte bis in die Mittagsstunden des folgenden Tages durch ohne Pause. Es habe lange gedauert, bis man ihn identifiziert hatte, mockingbirds gebe es eigentlich nicht in Städten. Letztlich aber ersetze er ganze Populationen von Spatzen, Amseln, Schwalben und Tauben und imitiere problemlos alle nur denkbaren Geräusche seiner gefiederten Konkurrenz. Er war nicht ein Vogel, er war mehrere Vögel. All diejenigen, die gleichfalls die Kleingärten bevölkerten hinter den dreistöckigen Backsteinhäusern mit den typischen schmiedeeisernen Treppen zur ersten Etage, blieben stumm ob seiner sängerischen Omnipotenz. Zu tirilieren wie eine Nachtigall erledige er nebenbei, schrieb die systematische Sue und schickte einen Link zum einschlägigen Wikipedia-Artikel mit. Ganz abgesehen davon, dass er es locker mit Handy-Klingeln, Polizei-Sirenen, Wasserkesseln und Kinderlachen aufnehme; sogar mit singenden Walen, falls diese im Hudson aufgetaucht wären.
     Ohne Sues Aufklärung hätte Felice wohl geglaubt, die Gartenbesitzer hätten einen Kunst-Vogel installiert, zur lustvollen Abendunterhaltung mitten in Brooklyn, unterhalb der sich nähernden oder entfernenden Flugzeuge, die in und von Newark starteten und landeten und die Luft mit ihren Kerosinschwaden schwängerten. Ein Vogel mit einer Walze im Bauch. Ein Repetiervogel - falls es so etwas gab. Mit seinen so inbrünstig und in vielen Variationen zelebrierten Tonfolgen erinnerte er sie an die künstliche Nachtigall des chinesischen Kaisers aus dem Märchen, deren mechanisch erzeugter Gesang sich eines Tages unter so dramatischen Umständen totlief, dass darüber ein Hofstaat ins Wanken geriet. Oder an einen jener Vögel, wie sie früher auf Jahrmärkten gezeigt wurden, mit Augen aus Strass und einem auf weißen Ton gemalten bunten Gefieder.

     Als Kind habe ich diese Spielzeuge geliebt, sie waren lebendig für mich. Und die Melodien, die sie produzierten, während sie mit den Flügeln schwirrten, eigentlich aber mehr fiepten, wenn man sie mit der Wasserpfeife in Bewegung setzte, versuchte ich genauso nachzuahmen wie die der Amsel, wenn ich frühmorgens zum Schulbus ging. Denn ich war ein musikalisches Mädchen, eines, dem niemand den Hals umdrehen wollte. Im Gegenteil. Meine Mutter verglich mich und mein Organ mit Ilse Werner, der so bedrohlich aufgeräumten Brünetten, die mit ihrem Pfeifen in Nazifilmen für Stimmung gesorgt hatte. Wir machen Musik, da geht euch der Hut hoch, wir machen Musik, da geht euch der Knopf auf. Wir alle haben damals versucht zu pfeifen, sagte meine Mutter, dabei in unbestimmte Fernen blickend. Vielleicht weil wir so unglücklich vereint im Dunkeln saßen.
     Felice war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie sich freute auf Sue oder Susan, die frühere Susanne, deren wilde Haarmähne zumindest damals nichts ausgesagt hatte über sonst noch Ungezähmtes in ihrem Charakter. Ohne je Fotos ausgetauscht zu haben, waren sie sich über zwanzig Jahre nicht mehr begegnet, das Wiedersehen würde womöglich ein Schock. Wer weiß, wem sie heute Abend gegenüberstünde: einer dicken, einer dünnen, einer immer noch rötlich-blonden, einer braun oder schwarz gefärbten oder einer grau gewordenen Sue. Nur dass sie groß war, fast einen Kopf größer als sie selbst, das musste auch heute noch zutreffen. Jedes Mal, wenn sie wieder einmal eine Sammel-Mail erreichte, in der Sue ihre ehemaligen Kollegen über ihre Karriere instruierte, trat ihr eine große Person vor Augen. Zu den alljährlich anberaumten Treffen kam sie zwar nie, aber ihre Absagen - verfasst in einer Mischung aus alter Burschikosität und neuer Kühle - gefielen Felice so gut, dass es ihr ganz natürlich vorkam, Sue mitzuteilen, sie spiele mit dem Gedanken, in die Staaten zu kommen. Dass ihre Reise keinem touristischen Zweck diente, erwähnte sie nicht. Auch die Tatsache, dass sie - während ihres irgendwann abgebrochenen Studiums - in Cambridge gelebt hatte und Manhattan ganz gut kannte, verschwieg sie ihr. Falls Sue oder jemand anders wissen wollte, warum sie sich auf New York und Boston beschränke, würde sie fröhlich antworten, dass sie nur nach dem Grab ihres Mannes suche, sonst nichts, hatte Felice sich vorgenommen. Um weitere Fragen abzublocken, war das ausreichend genau und verklausuliert genug.
     Die immer persönlicher gewordenen Mails aus New York wurden jedenfalls geradezu übermütig, als Felices Vorhaben konkrete Gestalt annahm, der Flug gebucht war, sie endlich, wenngleich bis zum letzten Augenblick zögernd, Sues Angebot annahm, sich bei ihr und nicht in irgendeinem Apartment an der Upper East Side, in der Nähe der Museen, wie sie es ursprünglich geplant hatte, einzuquartieren. Wahrscheinlich fühlte sich Sue einsam nach ihrer erst kürzlich erfolgten Scheidung von Ron, einem Augenarzt, trotz ihrer Behauptung, froh darüber zu sein, nun nie mehr seine schmutzigen Socken vom Fußboden aufklauben zu müssen. Sonst hätte sie ihrer ehemaligen Kollegin nicht so eindringlich ihre Gastfreundschaft angeboten, aufgedrängt sogar, wie Felice im Nachhinein empfand. Die Eigentumswohnung, die ihr der Ex-Ehemann in Park Slope, einer der derzeit angesagten Gegenden Brooklyns gekauft hatte, konnte Sues früheres Dasein im East Village offenbar nicht kompensieren. An ihrer Stelle wohne dort jetzt eine jüngere Frau mit Ron zusammen, hatte sie Felice wissen lassen. Es war wie im Groschenroman. Auch dass die Neue ein Kind mit in die Beziehung brachte, obwohl Ron nie eines haben wollte, passte dazu.
     Vergeblich kämpfte Felice gegen die altbekannte Furcht, die sie befiel, wenn jemand versuchte, sich in ihr Leben zu mischen. Es war doch alles perfekt. Zwei Tage nach Felices Ankunft würde Sue ihren Urlaub antreten, den sie wie immer im Juni beim Shaw-Festival in Niagara-on-the-Lake verbrachte, und Felice hätte die Wohnung für sich, dieses Pseudo-Loft-Gehäuse, das nicht nur über eine mit Pflanzen und Blumen überwucherte Terrasse, sondern sogar über einen handtuchgroßen Garten verfügte, wo Ron den besagten Pool hatte einbauen lassen. Unfassbar, dass eine solche Behausung, die nur aus einer Wohnküche und einem über eine Hühnerleiter zu erreichenden Schlafzimmer bestand, fast anderthalb Millionen Dollar gekostet haben soll, dachte Felice, die in einer Altbauwohnung in Wilmersdorf wohnte, deren Miete seit Jahrzehnten nicht erhöht worden war. Wenn ich nachts aufs Klo muss, wird mir die Treppe garantiert zum Verhängnis. Treppenstürze sind meine Spezialität. Ich werde Sue davon überzeugen müssen, dass ich lieber hier, auf dem Sofa neben dem Kühlschrank, schlafen will. Auch wenn sie mir schon zugesagt hat, ihr Wasserbett für mich zu räumen.

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