Vorgeblättert

Leseprobe zu Francis Wyndham: Der andere Garten. Teil 3

02.08.2010.
Kay kehrte mit einem Arm voller Schallplatten zurück, und wir kauerten uns neben das Grammophon, während sie es aufzog. Schon der Anblick der Plattenetiketten genügte, um mich in Partystimmung zu versetzen: Elegante Parlophones in Dunkelblau und Weiß, festliche Vocalions in Hellrot und Gold, nüchterne Brunswicks in bewusst zurückhaltendem Schwarz. Es war unübersehbar, dass Kay Schnulzen bevorzugte, sie spielte für mich Connee Boswell mit "Say It Isn?t So", Ruth Etting mit "Lost - A Heart as good as New", Alice Faye mit "There?s a Lull in My Life" und Helen Morgan mit "Why Was I Born?" Aber die verzweifelten Texte und sinnlichen, getragenen Tempi kamen mir damals nicht deprimierend vor. Eher schienen sie mir auf verlockende Weise den Wesenskern einer fernen, erwachsenen Welt des Melodrams zu vermitteln - einer Welt, aus der sich Kay aus noch unerfindlichen Gründen für eine Weile absichtlich zurückgezogen hatte. Während wir der düsteren, pessimistischen Musik lauschten, gab ich mich Phantasien hin, in denen Kay gezwungen war, wie eine Gangsterbraut in Watermead "unterzutauchen", denn wie sie in diesem ungastlichen Haus wohnte, das hatte auf alle Fälle etwas Verstohlenes und Flüchtiges.
     "Warum dachten Sie, wir wären furchterregend, als wir uns im letzten Sommer kennengelernt haben?", fragte ich, bevor ich ging.
     "Oh, das war nicht persönlich gemeint. Ich hatte nur gehört, dass deine Eltern Freunde meiner Eltern sind, und solange ich denken kann, fühle ich mich in Gegenwart der Sorte Menschen, die von Daddy und Mummy gutgeheißen werden, hoffnungslos unzulänglich, und zwar so sehr, dass ich einfach nur stumm dasitze wie ein Idiot. Aber ich habe bald gemerkt, dass deine Familie überhaupt nicht so ist ? Apropos: Mummy kommt in ein, zwei Tagen zurück, und es sieht so aus, als würde diese herrliche, sonnige Periode noch ein bisschen anhalten. Würdest du mir noch einen großen Gefallen tun und deiner Mutter etwas ausrichten? Ob sie wohl so engelsgleich wäre und mir ein Eckchen in eurem Garten zur Verfügung stellen würde, damit ich mich dort sonnen kann? Ich würde nicht stören - niemand braucht zu wissen, dass ich da bin. Es ist nur so, ich bin ein Sonnenanbeter, aber Mummy geht es auf die Nerven, wenn sie mich den ganzen Tag halbnackt rumliegen sieht. Früher oder später wird sie sich garantiert bei Daddy beschweren, und dann ist der Teufel los, und mein Leben hier wird unerträglich."
     "Natürlich frage ich, und sie wird sich bestimmt freuen, wenn Sie unseren Garten nutzen, wann immer Sie wollen ? Aber wenn Sie Streit mit Ihren Eltern haben, wie Sie es gerade schilderten, ergreift da Ihr Bruder nicht für Sie Partei?"
     "Sandy? Ach, das arme Herzchen, den würde ich nie in diese grässlichen Szenen verwickeln wollen. Das würde ihn nur kreuzunglücklich machen. Außerdem ist er fast nie da."
     Also tauchte Kay, solange das schöne Wetter anhielt, regelmäßig um die Mittagszeit auf, in Shorts und Bluse und mit einer Decke, die sie in taktvoller Entfernung vom Haus auf einem Rasenfleck ausbreitete. Wenn sie die Bluse ausgezogen hatte, wickelte sie sich das Kopftuch um den Busen - dabei befreite sie ihre strubbelige kupferrote Mähne. Inmitten von Sonnenölflaschen, Zigarettenpackungen, Zündholzbriefchen, einer neuen Ausgabe des Picturegoer und einer Papiertüte mit Sandwichs und einem Schokoladenriegel lag sie neben einem knisternden, brummenden Kofferradio fast regungslos und mit geschlossenen Augen verzückt bis in die Abendkühle da. Wenn sie sich auf den Bauch drehte, band sie das Tuch los, und wenn sie ihre Lage wieder veränderte, wurden kurz ihre kleinen Brüste sichtbar, blasse, runde, ungeschützte Flecken im Dunkelbraun ihres Körpers.
     Kays intensives Sonnenanbeten hatte paradoxerweise etwas Ungesundes. Ihre Haut bekam, wenn sie tiefbraun wurde, eine unschön ledrige Struktur; die Anstrengung, sich so hingebungsvoll einer untätigen Regungslosigkeit zu unterwerfen, schien all ihre Lebenskraft aufzuzehren. Bisweilen kam sie am Ende des Tages noch auf einen Drink zu uns ins Haus, meistens aber schlich oder wankte sie nach Hause wie ein Nachtschwärmer am frühen Morgen, übersättigt und berauscht nach einer durchzechten Nacht. Sie schloss rasch Freundschaft mit meiner Mutter, die von ihr fast ebenso fasziniert war wie ich; nur mein Vater mochte sie nicht recht, obwohl er es nicht zeigte. Ihr Mangel an konventioneller feiner Lebensart berührte ihn unangenehm, er empfand ihre Selbstversonnenheit als Ärgernis und Störung. Ein Glück also, dass Kay instinktiv davon absah, sich für ihr Sonnenbad einen Platz im anderen Garten zu suchen.
     Schließlich kam das Treffen mit Sandy, das wir uns im vorigen Sommer so sehnlich gewünscht hatten, durch Kays Vermittlung auf ganz natürliche Weise zustande. Eines Augustnachmittags rief sie bei meiner Mutter an. "Mein Bruder ist auf eine Stippvisite hier und sagt, er hat so viel von Ihnen gehört, dass er Sie einfach kennenlernen muss. Meinen Sie, wir könnten jetzt gleich vorbeikommen?" Ich rannte mit der Neuigkeit hinunter zu Dodos Cottage, und sie kam sofort mit mir. Aber es fehlte die Aufregung vom Vorjahr, die Wartezeit war zu lang gewesen, und das Getue, das wir damals bereitwillig um Sandy gemacht hatten, kam uns inzwischen sogar ein wenig albern vor. So war sein Erscheinen am Ende zwar nicht gerade eine Enttäuschung, aber doch unvermeidlich ein Abstieg.
     Meine Mutter, Dodo und ich saßen auf dem Rasen vorm Haus (mein Vater war in den anderen Garten entschwunden), als Kay in die Auffahrt einbog, begleitet von einem großen, dunkelhaarigen Mann Ende zwanzig. Sie kam mit dem ordinären Gang auf uns zu, in den sie verfiel, wenn sie glücklich war, hüftenschwingend, schulternkreisend und mit langsamen, überlegt gesetzten Schritten. "Ich bin unfähig, euch anständig vorzustellen - ich habe so furchtbar lachen müssen!", sagte sie und ließ sich neben mir aufs Gras fallen. "Das ist jedenfalls Sandy!"

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Mit freundlicher Genehmigung des Dörlemann Verlages

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