Vorgeblättert

Leseprobe zu Esther Kinsky: Am Fluss. Teil 2

31.07.2014.
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Waschhalle


Nach den ersten Wochen in London machte ich mich auf Arbeitssuche. An Anzeigen herrschte kein Mangel, man las viel und eifrig Zeitung, überall standen Zeitungsverkäufer, die sich gegenseitig mit ihren laut ausgerufenen Schlagzeilen übertönten, was gar nicht nötig gewesen wäre, denn allen riß man gleichermaßen und zu allen Tageszeiten die frisch gedruckten Blätter aus der Hand und legte ihnen dafür ein silbriges Geldstück hinein. Die Mülleimer quollen über von hastig hineingestopftem Zeitungspapier, in der stürmischen Saison ergriffen unberechenbare Böen die Zeitungen an allen Ecken und trieben sie in Wellen durch die Straßen, wo sie sich in Hecken und Bäumen verfingen und, wenn der Wind keinen Ausweg fand, Fahrzeuge und sogar kleine Häuser unter sich begruben.
     Doch die Fülle der Anzeigen gab wenig her, ich stellte mich vor, sprach vor, zeigte mich, ließ meine Stimme hören und bot Kostproben meiner Fähigkeiten an, aber fand keine Anstellung. Ich bedauerte, keine praktiMunschen Fertigkeiten erworben zu haben, mit denen ich vielleicht mehr Eindruck hätte machen können. Mit dem blitzschnellen Verwandeln pastellfarbener Stoffservietten in militärisch anmutende Mützchen etwa, wie man sie in den unzähligen indischen Restaurants aufgebaut sah, die mit Vorliebe die Namen von Schlachtfeldern, Admiralen oder Viceroys und ihren Gattinnen trugen. Auch als erfahrene Serviettenverwandlerin jedoch wäre es mir schwergefallen, es mit den Kellnern in diesen Lokalen aufzunehmen, die man zu allen Tages- und Nachtzeiten durch die Fenster dabei beobachten konnte, wie sie benutzte Servietten der eben verabschiedeten Gäste mit schwindelerregender Geschicklichkeit wieder zu Mützchen falteten, die dem erwarteten neuen Gast einen blütenreinen Zipfel zeigten. Jahrelang hatte ich mich damit beschäftigt, Worte von der einen in die andere Sprache zu schieben, eine geheimnisvoll wirkende Tätigkeit, die einem immerwährenden Brettspiel glich, doch in London nicht gefragt war. Ich wußte nicht einmal mehr, ob mir diese Tätigkeit fehlte, sie lag im trüben Glanzder Ferne, jenseits eines Strichs, den ich durch das Wasser des Ärmelkanals gezogen hatte. Für diesen fernen Glanz jedoch konnte ich mir, wie man hier und da grob zu sagen pflegte, nichts kaufen, und drückte mich deshalb an Geschäften, Bürohäusern und öffentlichen Einrichtungen herum, stets in der Hoffnung, eine Arbeitslücke zu entdecken, die ich mit den einen oder anderen beiläufigen Fähigkeiten füllen könnte.
     Täglich kam ich an der öffentlichen Waschanstalt meines Stadtviertels vorbei, ein prächtiger Backsteinbau mit Giebeln, Erkern und Türmchen, erbaut am Anfang des Jahrhunderts, als Wasser in Mode kam. In einer großen Halle standen alte blaue Waschmaschinen, deren Bedienung nur in der Waschfrauenschule erlernt werden konnte. Die Waschfrauen waren alle große Weiber, die den Kunden die Wäsche vor Resolutheit aus den Händen rissen und gebündelt auf einer altmodischen Personenwaage wogen. In der Heißmangelecke war den meisten Geräten mit Kordel das handgemalte Pappschild »out of order« umgehängt, das aussah wie die schief bekritzelten Namensschilder landverschickter Arbeiterkinder in der Zwischenkriegszeit. Dort zwischen den defekten Mangeln ließen die Waschfrauen stillschweigend manierliche Obdachlose schlafen. Die Obdachlosen wichen tagelang nicht von der Stelle, sie schliefen, aßen und tranken leise zwischen den verdrossenen Heißmangeln und bekamen gelegentlich von ihren Wohltäterinnen sogar Benutzermarken für das Schwimmbad zugesteckt, das man von der Waschhalle durch eine Glastür betrat. Es war eine schöne alte Schwimmhalle mit gekachelten Wänden und einem kuppelartigen Dach, in dem sich die Glasluken allmählich mit Moos überzogen. Alles Zubehör, wie Wasserhähne, Handtuchhaken, Leitern, die Bänke an der Wand, stammte noch aus den sogenannten alten Zeiten, als das Schwimmbad erbaut worden war, und war von den vielen vergangenen Jahren so überhaucht, das es vor allem durch die leicht beschlagene Scheibe der Glastür kostbar schimmerte.
     Es gab auch Badekammern, die in unbeobachteten Momenten wahrscheinlich auch von den Obdachlosen genutzt wurden. Sie waren schon dem Untergang geweiht und wurden nicht mehr geschrubbt und von wandelndem Ungeziefer befreit. Die Kabinen mit Wannen aus emailliertem Eisenblech dämmerten dem Tag entgegen, an dem sie aus den Verankerungen gerissen und von den Rohren und Leitungen gesägt würden, grünlicher Kalk würde aus den Rohrstummeln auf den Steinboden fallen, die abmontierten Armaturen würden dumpf und dröhnend in den Wannen kollern. Dort oben in den Badekammern war es im Vergleich zur Waschhalle traurig und leer, ganz selten kamen magere ältere Herren mit wehendem weißen Haar, die bei den Waschfrauen Bademarken kauften, unter ächzendem Beugen der spitzigen Knie die schmale Treppe emporstiegen, um dann womöglich gar nicht zu baden, sondern ihrer Kinderkunst zu frönen, die darin bestand, auf den Eisenwannen Melodien aus der Kinderzeit zu spielen, die sie allein kannten. Für diese kleinen, wie aus einem anderen Land in die Waschhalle tönenden Darbietungen brachten sie kleine, lang erprobte Erinnerungsgegenstände mit - zerbrochenes Spielzeug, ramponierte Federkästen, eingedellte Schießgewehre aus buntem Blech - die die Wannenränder in Schwingung versetzten.
     Ich schlich mich ein-, zweimal hinter dem Rücken der Waschfrauen die Treppe hinauf, sah mich um und fand nichts außer einer verrosteten Zopfspange, in der ich bereit war, noch den Zeugen vergangener Familienbadetage zu sehen: strenge Reihenfolge der Badewannennutzung, der Vater als der schmutzigste zuerst, während die kleinen kichernden Mädchen, die als letzte in das lau und trüb gewordene Wasser stiegen, höchstens einen Marmeladestreifen hinterm Ohr und ein bisschen Dreck unter den Fingernägeln wegzuwaschen hatten und nach ein paar Minuten bibbernd und von Vaters Wochenschmutz erdunkelt aus der Wanne stiegen.
     Unten in der Waschhalle jedoch hätte ich gerne gearbeitet. Die Waschfrauen wechselten nicht viele Worte mit den Kunden, ihre Bewegungen waren abgezirkelt und beherrscht, begleitet von dem Zwitschern, Seufzen, Schleifen und vibrierenden Summen der Geräte und Maschinen, in hellem Licht, im frischen Wind, der zwischen den Pendeltüren der Ausgänge zu beiden Seiten entstand, immer in Bewegung: Kunde, Bündel, Waage, Abholmarke, Maschine. Zwischendurch die wortlosen kurzen Gespräche mit den Obdachlosen, den weißhaarigen Badewannennutzern, Tuscheln und Hellauflachen der Waschfrauen untereinander. Ich drückte mich zwischen den wäschebepackten Kunden herum, die fügsam Schlange standen, um ihre muffigen Bündel loszuwerden, und versuchte, mir die Routine der Waschfrauen einzuprägen, die Gesten und Gebärden, mit denen sie ihren Dienst versahen, so zu speichern, daß ich sie zu Hause üben konnte. Wer weiß, vielleicht würde ich sie eines Tages brauchen und erfolgreich vorführen können, etwa nach der auf den Bügelbrettern ausgerichteten Entlaßfeier für eine Waschfrau, die aufs Land heiratete und mit rosa glasiertem Crèmekuchen und einem dünnen Nelkenstrauß verabschiedet worden war. Noch würden die Kuchenreste unter den lüsternden Augen der Obdachlosen auf den Papptellern liegen, die Becher mit dem Satz des süßen Holunderschaumweins auf den Waschmaschinen stehen, da würde ich schon den günstigen Zeitpunkt der Erschöpfung der Waschfrauen nach Kuchen und Wein nutzen, und ihnen zeigen, was ich gelernt hatte. Aber dazu kam es natürlich nie, ich trieb mich solange dort beobachtend herum, bis man in mir einen Kandidaten für die Mangelecke vermutete. Nein, nein, ich schüttelte den Kopf, zeigte auf die billige Kamera, die ich umhängen hatte, gab mich damit als Fremde oder gar Touristin zu erkennen und erntete Blicke kalter Verständnislosigkeit. Das war das Ende des waghalsigen Traums, in dem ich mich als Waschfrau in einer schönen viktorianischen öffentlichen Bade- und Waschanstalt sah, und ich machte mich wieder auf die Suche, obwohl mir nach diesem Mißerfolg die Lust auf eine respektable Londoner Arbeit fast vergangen war.
     Kurz darauf stieß ich auf meinen Wegen wieder auf den Kunstreiter, den ich schon aus den Augen verloren geglaubt hatte. Er saß auf einer von dornigem Gestrüpp umwucherten Bank am Kanal und war so in sich zusammengesunken, daß ich meinte, unerkannt vorbeischleichen zu können. Doch kaum war ich auf der Höhe der Bank, ließ er seinen Stock blitzartig quer über den Pfad schnellen, daß ich fast darüber gestolpert wäre und erschrak. Ich bin ein kranker Mensch, sagte er unvermittelt und schlug sich die Hände kurz vors Gesicht. Sein schwarzer Mantelärmel rutschte zurück, auf dem Unterarm wurden rote Flecken sichtbar, die jede Spur von einer Tätowierung zunichte gemacht hatten. Ich erzählte ihm von meiner Suche, er hörte mit einem Lächeln auf den Lippen zu, das nach müdem Hohn aussah. Alles wie gehabt, alles wie gehabt, sagte er schließlich. Ich rate zur Großen Internationalen Radioschau. Vornübergebeugt, die Arme auf die Knie gestützt und den Blick auf das immergrüne Unkraut der Stadt gerichtet, das zwischen den geborstenen Gehsteigplatten des einstigen Treidelwegs hervorkroch, berichtete er in selbstgesprächlerischem Murmeln von der riesigen, unermüdlichen, schlaflosen Arbeit des Internationalen Radiosenders, der zu allen Tages- und Nachtzeiten in allen Sprachen indie ganze Welt Sendungen ausstrahlte. Er entwarf das Bild eines Universums der Stimmen, Stimmlagen, angeschlagenen Töne aus unzähligen Kehlen, ein sich ins Endlose webendes Netz der Sprachen, das sich, verborgen hinter einer Fassade erschlagender Pracht, um alle Menschen und Gegenstände in den Kammern und Sälen des Radiosenders spann.
     Nach der Schlappe in der Waschanstalt erschien mir die Vorstellung einer Arbeit in dämmrigen Räumen und Wolken unentwegten unverständlichen Gemurmels verlockend. Man würde, so stellte ich mir vor, eine Stimme sein, ungesehen, unerkannt, man würde eintreten in die Internationale Radiowelt, wo nur noch die Hörbarkeit zählte, und klein, übernächtigt, verschwindend blaß, aus ihr hinaustreten, sich in den dichten Verkehr fädeln und nach Hause tragen lassen, um sich bis zum nächsten Auftritt auszuschlafen. Nicht einmal an einem unbedacht laut auf der Straße ausgesprochenen Wort würde man mich erkennen oder beim Namen nennen können, denn die Internationale Radioschau war nicht für dieses Land bestimmt.

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