Vorgeblättert

Leseprobe zu Elisabeth Badinter: Der Konflikt. Teil 3

23.08.2010.
Die Philosophie der Fürsorge oder die Moral der Frauen

Im Jahr 1871 sagte Charles Darwin (den man nicht verdächtigen kann, Feminist gewesen zu sein): "In Bezug auf geistige Veranlagungen scheint sich das Weib vom Manne hauptsächlich durch größeres Zartgefühl und geringere Selbstsucht zu unterscheiden. [?] Infolge seiner mütterlichen Instinkte entfaltet das Weib diese Eigenschaften ganz besonders gegenüber seinen Kindern, und es ist daher wahrscheinlich, dass es sie oft auch auf andere Mitgeschöpfe ausdehnt." Hundert Jahre später entwickelte die feministische Philosophie der Fürsorge (care) Darwins Gedanken in einer ausgefeilteren Form weiter. Was für den Gelehrten des 19. Jahrhunderts nur eine Wahrscheinlichkeit gewesen war, wurde dabei allerdings zu einer unumstößlichen Wahrheit.
     Carol Gilligan legte die Fundamente dieser neuen Ethik, die seit dem Erscheinen ihres Buches In a Different Voice (dt.: Die andere Stimme) im Jahre 1982 viel von sich reden machte. Care - oft mit "Fürsorge" übersetzt und im Sinne einer prinzipiellen Sorge für das Wohl der anderen zu verstehen - sei ein Ergebnis der entscheidenden Erfahrung des Mutterseins. Frauen hätten ein spontanes Gespür für die Bedürfnisse von Babys, und deshalb hätten sie auch eine besondere Aufmerksamkeit für die Abhängigkeit und die Verwundbarkeit ihrer Mitmenschen entwickelt. Deshalb verkörperten sie eine andere Moral als die Männer.
     Gilligan stellt die weibliche Ethik der Fürsorge der männlichen Ethik der Gerechtigkeit gegenüber. Letztere beruft sich auf universelle Prinzipien, die Vorschriften und Rechte begründen, welche "unparteiisch" anzuwenden sind; die Moral der Fürsorge hingegen ist vor allem partikularistisch: "[Sie] geht von Alltagserfahrungen und moralischen Problemen aus, die sich für reale Personen in ihrem gewöhnlichen Leben stellen. [?] Im Mittelpunkt steht die Reaktionsfähigkeit (responsiveness) auf individuelle Situationen, deren ethische Merkmale präzise wahrgenommen werden. Die Fürsorge folgt einem ganz spezifischen Raisonnement: Sie begründet ihre Reaktionen nicht mit Prinzipien, sondern achtet auf die konkreten, spezifischen Details und deutet sie im Kontext des jeweiligen individuellen Lebens." Gilligan gießt damit Wasser auf die Mühlen Sigmund Freuds, auch wenn sie zu entgegengesetzten Schlußfolgerungen gelangt. Freud zog bekanntlich den Zorn von Generationen von Feministinnen auf sich, indem er verkündete, "[d]ass man dem Weib wenig Sinn für Gerechtigkeit zuerkennen muß [?]. Wir sagen auch von den Frauen aus, dass ihre [?] Fähigkeit zur Triebsublimierung geringer [ist] als die der Männer." Die Philosophie der Fürsorge stellt Freuds Verdikt nicht infrage, wohl aber dessen Gründe und Konsequenzen. Wie alle Moraltheoretiker habe Freud den Beitrag der Frauen zur Moral verkannt. Ihre besondere Sorge für ihre Mitmenschen sei eine andere Form der Moral, die der männlichen in nichts nachstehe. Im Gegenteil: Weil die Frauen sich stärker um das Leben und die konkreten Beziehungen zu anderen sorgten, besser kitten als trennen, besser beschützen als strafen könnten, schenkten sie der Menschheit eine Sanftheit und ein Mitgefühl, welche die gesellschaftliche Moral erneuerten. Folglich müsse die Mutterschaft - die man bis dahin für eine private Angelegenheit gehalten hatte - als eines von zwei Leitbildern des öffentlichen Lebens begriffen werden. Sie allein könne einen Gegenpol zur liberalen männlichen Welt mit ihrem Individualismus, ihrem Egoismus und ihrer Grausamkeit bilden.
      In Frankreich ging Antoinette Fouque weit über die differenzierten Ansichten von Gilligan hinaus. Sie behauptete, Frauen seien den Männern durch ihre Fähigkeit zur Schwangerschaft moralisch überlegen: "Die Schwangerschaft ist das einzige Naturereignis, bei dem der Körper und damit die Psyche einen fremden Körper akzeptiert. Sie ist das Urmodell jeder Transplantation." Dieser Äußerung fügte sie die folgenden, auf ewig unvergeßlichen Worte hinzu: "Die Schwangerschaft ist Erzeugung, Gebärde, Treuhandschaft und innere Erfahrung, eine Erfahrung von Intimität, aber auch Generosität, das Ingenium der Spezies, die Akzeptanz des fremden Körpers, Gastfreundlichkeit, Öffnung, der Wille zur re-generativen Transplantation; die integrative, konfliktfreie, Differenzen überwindende Schwangerschaft ist das Urmodell der menschlichen Kultur, die Matrix der Universalität des Menschengeschlechts, Prinzip und Ursprung der Ethik."
     Dieser Ansatz, der die Biologie zur Grundlage aller Tugenden macht, verdammt im gleichen Zug alle Männer und Frauen, welche die Mutterschaft mißachten. Solche Auswüchse eines extremen Naturalismus kann man nur mit einem Lachen kommentieren, doch sind sie keineswegs bedeutungslos. Denn es gäbe sie nicht, wenn der Naturalismus in unserer postmodernen Gesellschaft nicht wieder in gewisser Weise konsensfähig geworden wäre. Es ist ein loser, diffuser Konsens, der im Begriff steht, zur vorherrschenden Ideologie zu werden, ungeachtet der nicht nachlassenden Kritik des Maternalismus durch einschlägige französische Feministinnen.
     Natürlich macht sich nur eine kleine Minderheit die drei hier erwähnten Diskurse - den ökologischen, den humanwissenschaftlichen und den feministischen - in ihrer Radikalität zu eigen: Hauptsächlich sind es Intellektuelle und militante Aktivisten. Aber dass diese drei neuen Ideologien zeitgleich auftreten, ist kein Zufall, und zusammen üben sie gehörigen Einfluß aus. Wahrscheinlich würden sich die meisten jungen Mütter in keinem dieser Diskurse vollständig wiedererkennen, aber ihren Auswirkungen können sie sich doch zumindest nicht ganz entziehen. Heute fungiert die Natur als entscheidendes Argument, wenn Gesetze erlassen oder Ratschläge erteilt werden. Sie ist zu einer kaum angreifbaren ethischen Bezugsgröße geworden, die alle anderen Argumente blaß aussehen lässt. Sie, nur sie verkörpert das Gute, Schöne und Wahre, das Platon so teuer war.
     Vor allen Dingen verfügt die naturalistische Philosophie über die Macht, Schuldgefühle zu erzeugen, und ist so in der Lage, die Sitten zu verändern. Im 18. Jahrhundert verstanden Rousseau, die Mediziner und die Moralisten es, diese Saite anzuschlagen, um die Mütter davon zu überzeugen, sich ganz ihren Kindern zu widmen, sie zu stillen, zu versorgen und zu erziehen. Davon hing das Überleben der Kinder, das Glück der Familie und der Gesellschaft und schließlich die Stärke der Nation ab. Heute haben sich die Argumente etwas verändert. In unseren Gesellschaften, in denen die Kindersterblichkeit so niedrig ist wie nie zuvor, führt man nicht mehr das Überleben der Kinder ins Feld, sondern ihre körperliche und seelische Gesundheit, die ausschlaggebend für das künftige Wohl des Erwachsenen und die soziale Harmonie sei. Welche Mutter empfindet da nicht zumindest Gewissensbisse, wenn sie sich den Gesetzen der Natur verweigert?

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Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages

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