Vorgeblättert

Leseprobe zu Deborah Levy: Heim schwimmen. Teil 2

24.01.2013.
Nina warf den Kieselstein ins Meer, was Kitty offenbar ärgerte. Sie stand auf und riss auch Nina unsanft mit sich hoch.
     »Ich muss noch mehr Kieselsteine sammeln. Der, den du gerade weggeworfen hast, war perfekt.«
     »Für was brauchst du die?«
     »Ich will sie untersuchen.«
     Nina humpelte, weil ihre Turnschuhe an den Blasen an ihren Fersen rieben. »Die sind zu schwer«, stöhnte sie. »Lass uns fahren.«
     Kitty schwitzte, und ihr Atem roch süßlich.
     »Tja, also, tut mir leid, dass ich deine Zeit verschwende. Hast du jemals einen Boden gewischt, Nina? Bist du je mit einem Putzlappen auf Händen und Knien herumgekrochen, während deine Mutter dich angeschrien hat, du sollst die Ecken nicht vergessen? Hast du je die Treppe gesaugt und den Abfall rausgebracht?«
     Das verhätschelte Mädchen in den teuren Shorts (sie hatte das Etikett gesehen), bei der jede gespaltene Haarspitze sofort abgeschnitten wurde, hatte es offensichtlich geschafft, vierzehn Jahre alt zu werden, ohne einen Finger zu rühren.
     »Du brauchst ein paar echte Probleme, die du mit heimnehmen kannst, in euer nobles Haus in London.«
     Sie schleuderte den Rucksack voller Kieselsteine auf den Strand und marschierte in ihrem butterfarbenen Kleid, von dem sie sagte, es mache sie besonders fröhlich, ins Meer. Nina sah zu, wie sie sich kopfüber in eine Welle stürzte. Das Haus in London, von dem Kitty gesprochen hatte, war gar nicht so heimelig. Ihr Vater immerzu in seinem Arbeitszimmer. Ihre Mutter immerzu unterwegs, ihre Schuhe und Kleider im Schrank aufgereiht wie die einer Toten. Als sie sieben war und ständig Nissen in den Haaren hatte, da hatte das Haus nach den Zaubertränken gerochen, die sie aus den Gesichtscremes ihrer Mutter und dem Rasierschaum ihres Vaters mischte. Doch das große Haus im Londoner Westen roch auch noch nach anderen Dingen. Nach den Freundinnen ihres Vaters und ihren verschiedenen Shampoos. Und nach dem Parfum ihres Vaters, das eine Frau aus Zürich für ihn mischte, die einen Mann geheiratet hatte, der in Bulgarien zwei Turnierpferde besaß. Er sagte, ihre Parfums »öffneten ihm den Sinn«, vor allem sein Lieblingsparfum, das »Hungary Water« hieß. Das noble Haus roch nach seinem Sonderstatus und nach den Betttüchern, die er immer in die Waschmaschine steckte, wenn seine Freundinnen am Morgen gegangen waren. Und nach der Aprikosenmarmelade, die er direkt aus dem Glas löffelte. Die Marmelade lasse in ihm das Wetter umschlagen, sagte er, aber sie hatte keine Ahnung, wie das Wetter überhaupt gewesen war.

Mehr oder weniger wusste sie es schon. Manchmal, wenn sie in sein Arbeitszimmer kam, dachte sie, dass er irgendwie ein trauriges Bild abgab, in seinen Morgenmantel versunken, stumm und reglos, als drücke ihn etwas nieder. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass es Tage gab, an denen er gebeugt auf seinem Stuhl saß und sich nächtelang weigerte, sie anzuschauen oder auch nur aufzustehen. Sie machte dann die Tür zu seinem Arbeitszimmer zu und brachte ihm gelegentlich eine Tasse Tee, die er nie anrührte, denn wenn sie den Kopf durch die Tür steckte und ihn um Geld fürs Mittagessen bat oder um eine Unterschrift auf der Einverständniserklärung für eine Klassenfahrt, stand die Tasse (der Tee von einer schleimigen, beigen Haut überzogen) noch immer auf demselben Fleck. Am Ende unterschrieb sie alles selbst mit seinem Tintenfüller, deshalb wusste sie auch immer, wo er war, für gewöhnlich unter ihrem Bett oder auf dem Kopf stehend im Bad bei den Zahnbürsten. Sie hatte eine Unterschrift entwickelt, die sie jederzeit reproduzieren konnte, J.H.J mit einem Punkt zwischen den Buchstaben und einem Kringel am letzten J. Meistens besserte sich seine Laune nach einer gewissen Zeit, und er ging mit ihr ins Angus Steakhaus, wo sie sich auf dieselbe ausgebleichte rote Polsterbank setzten wie immer. Über seine eigene Kindheit oder seine Freundinnen sprachen sie nie ein Wort. Es war weniger eine unausgesprochene, geheime Vereinbarung, eher wie ein klitzekleiner Glassplitter in ihrer Fußsohle, immer da, ein wenig schmerzhaft, aber sie konnte damit leben.

Als Kitty mit tropfnassem Kleid zurückkam, sagte sie etwas, aber der Husky bellte gerade einer Möwe nach. Nina sah nur, dass sich Kittys Lippen bewegten, und ein dumpfer Schmerz in ihr sagte ihr, dass sie immer noch verärgert war oder irgendetwas nicht stimmte. Auf dem Weg zum Auto sagte Kitty: »Ich treffe mich morgen mit deinem Vater in Claudes Café. Er wird mit mir über mein Gedicht reden. Nina, ich bin so nervös. Ich hätte mir für den Sommer einen Job in einem Pub in London besorgen und mir das Ganze hier sparen sollen. Ich hab keine Ahnung, was passieren wird.«
     Nina hörte nicht hin. Sie hatte gerade einen Jungen in silbernen Shorts gesehen, der mit einem Netz Zitronen unter dem sonnengebräunten Arm auf Rollschuhen die Strandpromenade entlangfuhr. Er sah ein bisschen wie Claude aus, aber er war es nicht. Als sie das Kreischen eines Vogels hörte, das für sie nach großen Qualen klang, traute sie sich nicht zum Strand zurückzublicken. Vielleicht hatte der Husky oder Schneewolf die Möwe doch noch erwischt, dachte sie. Vielleicht geschah aber auch etwas ganz anderes, und außerdem hatte sie auf der Promenade gerade die alte Dame von nebenan entdeckt. Sie unterhielt sich mit Jürgen, der eine lila Sonnenbrille mit herzförmigen Gläsern trug. Nina rief ihnen zu und winkte.
     »Da ist Madeleine Sheridan, unsere Nachbarin.«
     Kitty blickte auf. »Ja, ich weiß. Die boshafte alte Hexe.«
     »Ist sie das?«
     »Ja. Sie nennt mich Katherine, und sie hätte mich fast umgebracht.«
     Nachdem sie das gesagt hatte, tat Kitty etwas so Gruseliges, dass Nina sich einredete, ihre Augen müssten ihr einen Streich gespielt haben. Sie beugte sich nach hinten, bis ihre kupferroten Locken bis zu ihren Kniekehlen reichten, und schüttelte mit unglaublicher Geschwindigkeit ihren Kopf hin und her, während ihre Arme zuckten und in der Luft herumfuchtelten. Nina konnte die Plomben in ihren Zähnen sehen. Und dann hob sie den Kopf und zeigte Madeleine Sheridan den Stinkefinger.
     Kitty Finch war verrückt.

Teil 3