Vorgeblättert

Leseprobe zu David van Reybrouck: Kongo. Eine Geschichte. Teil 3

05.04.2012.
Der Exodus der Belgier hatte auch gravierende ökonomische Folgen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1960 erlebte die Landwirtschaft, die auf den Export ausgerichtet war, einen starken Rückschlag. Baumwolle, Kaffee und Kautschuk, bereit zur Ernte, wurden nicht mehr ausgeführt. Die Gewächse verfaulten auf den Plantagen. Der Export von Kakao und Palmnüssen fiel um mehr als die Hälfte zurück. Auch andere Sektoren, die stark von europäischem Know-how abhängig waren, traf es empfindlich: Forstwirtschaft, Straßenbau, der Transportund der Dienstleistungssektor. Nur der Bergbau blieb mehr oder weniger stabil. Die Arbeitslosigkeit stieg stark an. Wer jahrelang Boy, Koch oder Putzfrau für eine weiße Familie gewesen war, stand plötzlich auf der Straße. Mehrere zehntausend Arbeiter auf den Plantagen, in den Zuckerraffinerien, Seifensiedereien und Bierbrauereien verloren ihre Jobs. Nach und nach wich die industrielle der traditionellen Landwirtschaft. Man baute wieder Maniok an, schälte Mais und sammelte Heuschrecken, man besuchte wieder Verwandte, wenn man Hunger hatte. Die Kleinfamilie, das Ideal des évolué, für das die Missionen unentwegt geworben hatten, wurde nach einiger Zeit wieder gegen das weitläufige Netz von Onkeln, Vettern und Cousinen eingetauscht, auf das man in schlechten Zeiten zurückgreifen konnte.

Die Unruhen vom Juli 1960 ruinierten nicht nur die Armee, die Verwaltung und die Wirtschaft, sondern führten auch zu einem bewaffneten Konflikt. In Elisabethville gab es am 9. Juli die ersten Toten: Fünf Europäer, darunter der italienische Konsul, wurden abgeschlachtet. So konnte es nicht weitergehen, entschied noch in derselben Nacht der belgische Verteidigungsminister Arthur Gilson. Entgegen dem Ratschlag von Außenminister Wigny und ohne den belgischen Botschafter in Léopoldville zu informieren, gab er grünes Licht für eine militärische Intervention. Das Leben von Landsleuten sei in Gefahr, lautete seine Begründung. Am frühen Morgen des 10. Juli stiegen vom Luftstützpunkt Kamina Maschinen der belgischen Luftwaffe mit Soldaten für Elisabethville auf. Über Luluabourg wurde an diesem Tag eine Gruppe Fallschirmspringer abgesetzt, um Belgier zu befreien.
     Es war eine in jeder Hinsicht verhängnisvolle Entscheidung.
     Die belgischen Soldaten waren bereits einige Wochen vor der Unabhängigkeit auf den Militärbasen Kitona und Kamina stationiert worden. Entsprechend dem "Freundschaftsvertrag", den beide Länder unterzeichnet hatten, sollte Belgien dem unabhängigen Kongo militärischen Beistand leisten, allerdings nur auf ausdrücklichen Wunsch Léopoldvilles, also auf Ersuchen von Verteidigungsminister Lumumba. Das war hier aber ganz und gar nicht der Fall. Brüssel schob das Argument vor, es ginge ihm lediglich darum, die Sicherheit der belgischen Staatsbürger zu gewährleisten, doch schon bald besetzte Belgien große Teile der ehemaligen Kolonie. Da die kongolesische Armee nahezu handlungsunfähig war, wollte Belgien selbst die Ordnung (und die Wirtschaft) aufrechterhalten, denn man wollte nicht zulassen, dass das, was in einem Dreivierteljahrhundert aufgebaut worden war, innerhalb von vier Wochen zerstört wurde. Das war begreiflich, aber äußerst unklug. Belgien hätte sich darauf beschränken müssen, seine Bürger zu beschützen. Für alles andere hätte es sich an die Vereinten Nationen wenden müssen. Nun lief sein eigenmächtiger Eingriff auf die militärische Invasion eines souveränen, unabhängigen Staates hinaus. In Katanga entwaffneten belgische Soldaten unter Zwang kongolesische Armeeangehörige, die nicht einmal meuterten! Zum ersten Mal seit 1830 unternahm das Königreich Belgien eine Offensive auf fremdem Boden, auch wenn es sich der Tragweite offenbar kaum bewusst war.
     Kasavubu und Lumumba waren anfangs geneigt, das Vorgehen Belgiens zu gestatten - es waren ja tatsächlich Belgier in Gefahr -, doch einen Tag später überlegten sie es sich anders und gaben ihre wohlwollende Haltung auf. Und das aus berechtigtem Grund: Am 11. Juli kam der wahre Sachverhalt ans Licht, sogar zweimal. Erstens beschossen an diesem Tag zwei Schiffe der belgischen Marine die Hafenstadt Matadi. Das hatte nichts mehr mit dem Schutz belgischer Bürger zu tun, denn die waren größtenteils evakuiert worden, sondern einzig und allein mit der Einnahme eines strategisch wichtigen Hafens. Zweitens, und das war noch sehr viel bedeutsamer, erklärte Tschombé an diesem Tag die Unabhängigkeit Katangas und wurde sofort von Belgien unterstützt. Kasavubu und Lumumba reisten in diesen Tagen durch das ganze Land, um Unruhen zu beschwichtigen. Sie waren über die Desintegration ihres Landes ebenso besorgt wie Belgien. In Bas-Congo gelang es Persönlichkeiten wie Gaston Diomi, einem der Bürgermeister der Hauptstadt, und Charles Kisolokele, einem der Söhne von Simon Kimbangu, die Meuterei durch ihren klugen und mutigen Einsatz einzudämmen. Es gab also einheimische, oft erfolgreiche Initiativen. Als der Präsident und der Premierminister von der Abspaltung Katangas erfuhren, flogen sie in die Provinz, doch der belgische Kommandant Weber erteilte ihnen keine Landeerlaubnis für den Flughafen von Elisabethville. Das schaffte selbstverständlich viel böses Blut: Den Nummern 1 und 2 der demokratisch gewählten Regierung wurde der Zugang zur zweitgrößten Stadt ihres Landes verwehrt! Noch dazu von einem ausländischen Offizier, der einen Tag zuvor in der Stadt eingetroffen war!
     Kasavubu und Lumumba zogen sofort die Schlussfolgerung, dass Belgien hinter der Sezession Katangas steckte. Begreiflich, aber nicht ganz richtig. Die Kontakte zwischen Belgiern und Katangesen waren schon seit langem ausgezeichnet, aber dass Staatsbeamte in Brüssel die Abspaltung Katangas mit geplant hätten, trifft nicht zu.20 In Wirklichkeit war die belgische Regierung von Tschombés verwegener Aktion unangenehm überrascht. Doch in der abtrünnigen Provinz entwickelte sich augenblicklich großes Einvernehmen zwischen den katangesischen Führern, den belgischen Militärs und der Leitung der Union Minière. Belgische Soldaten entwaffneten Lumumbas Truppen und standen mit an der Wiege einer neuen katangesischen Armee, der sogenannten Gendarmerie Katangaise. Brüssel erkannte den katangesischen Staat nie offiziell an, doch in der Praxis konnte Tschombé auf sehr viel belgische Unterstützung zählen. Die belgische Nationalbank half sogar dabei, die Zentralbank von Katanga aufzubauen.21 Auch das Königshaus hegte große Sympathien. König Baudouin schätzte Tschombé weitaus mehr als Lumumba. Er schrieb ihm: "Ein Bund von achtzig Jahren wie der, der unsere beiden Völker vereint, erschafft viel zu innige Gefühlsbande, um von der hassenswerten Politik eines einzigen Mannes aufgelöst zu werden." Das Wort "hassenswert" wurde in der endgültigen Fassung gestrichen. Dass es um Lumumba ging, war auch so mehr als deutlich.
     Durch sein militärisches Eingreifen wollte Belgien die Ordnung wiederherstellen, bewirkte aber eine totale Eskalation des Konflikts. Die Geschichte des Kongo zwischen 1955 und 1965 ist nichts anderes als eine Folge von Bemühungen verschiedener Regierungen, die Unruhe einzudämmen, Bemühungen, die jedes Mal in noch mehr Unruhe mündeten. Diesmal jedoch gossen die Belgier besonders viel Öl ins Feuer.
     Über dem turbulenten Bas-Congo patrouillierten im Juli 1960 vier Harvard-Kampfflugzeuge der belgischen Luftwaffe. Sie nahmen Bodenziele unter Beschuss und griffen mit Raketen an. Nach sechs Tagen war eines abgestürzt und eines abgeschossen worden. Die anderen beiden hatten Einschläge von Geschossen an den Tragflächen und am Rumpf. Der schwerverletzte Pilot der abgeschossenen Maschine wurde von kongolesischen Soldaten ermordet und in den Inkisi geworfen.
     Sogar Vize-Distriktverwalter André Ryckmans wurde erschossen, der Sohn des ehemaligen Generalgouverneurs. Er war einer der intelligentesten Köpfe in der ehemaligen Verwaltung gewesen, ein Mann, der sich in den Dörfern sehr wohl gefühlt hatte.24 Wer ihn Kikongo sprechen hörte, hätte geschworen, dass da ein Afrikaner redete. Niemand hatte so viel Verständnis für die kongolesische Perspektive wie er. Der alte Nkasi erinnerte sich an ihn als an einen der wenigen Weißen, die wirklich sympathisch waren. Aber als Ryckmans mit den Meuterern über die Freilassung einiger weißen Geiseln verhandelte, wurde er vor den Augen einer aufgestachelten Menschenmenge ermordet. Wie sehr musste das militärische Vorgehen der Belgier die Atmosphäre vergiftet haben, wenn sogar einer der brillantesten und empathischsten Männer aus der Verwaltung von einer wütenden Volksmenge gelyncht werden konnte.
     "Monsieur André, ja, den habe ich noch gekannt", lächelte der blinde Camille Mananga, mit dem ich mich in Boma unterhielt. "Der war fast ein richtiger Kongolese. Er betrachtete sich selbst auch als Kongolesen. Aber bei der Brücke über den Inkisi haben sie ihn damals ermordet." Ich fragte ihn, was er noch vom militärischen Eingreifen der Belgier wisse. Er brauchte nicht lange nachzudenken: "Ich war in Boma. Die belgischen Soldaten vom Stützpunkt Kitona waren gekommen, um die Armee zu entwaffnen. Auf dem Flughafen standen überall Panzer. Es war früh am Morgen, und ich ging zur Arbeit. Ich war damals Staatsbeamter im einfachen Dienst. In der Stadt wimmelte es von Soldaten. Ein Belgier sprach mich an. 'Wo willst du hin?' 'Ich arbeite in der Provinzverwaltung', sagte ich. 'Geh wieder nach Hause', sagte er, 'die Stadt ist von den Belgiern besetzt.' Aber ich ging weiter, ich war zu neugierig. Zum ersten Mal im Leben sah ich einen Panzer. Ich sah mir alles von Nahem an. Die Belgier sind nicht lange geblieben, aber es war eine Besetzung, nicht mehr und nicht weniger."
     Es kehrte also nicht wieder Friede ein. Im ganzen Land nahm die Gewalt gegen Belgier zu. Beamte und Plantagenbesitzer wurden mit Knüppeln, Peitschen und Hosengürteln geschlagen. Manche wurden gezwungen, Urin zu trinken oder verdorbene Nahrungsmittel zu essen. Katholische Nonnen mussten sich in der Öffentlichkeit ausziehen und wurden festgebunden. Soldaten fragten sie, warum sie nicht der Partei Lumumbas angehörten und ob sie es mit den Patres trieben. Andere schlugen vor, einer weißen Frau eine Granate in die Vagina zu stecken. Erniedrigung war ein Ziel an sich. In der Zeit zwischen dem 5. und dem 14. Juli wurden ungefähr hundert europäische Männer misshandelt, ebenso viele Frauen vergewaltigt und fünf Weiße ermordet. Belgien hatte den Kongo in die Unabhängigkeit entlassen, um einen Kolonialkrieg zu vermeiden, bekam ihn nun aber doch. Und das auch noch durch eigene Schuld.

Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages
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