Vorgeblättert

Leseprobe zu Daniyal Mueenuddin: Andere Räume, andere Träume. Teil 3

05.04.2010.
Die Bediensteten hatten ein Spiel, das sie gerne spielten, in das Rafik überraschenderweise nicht nur einwilligte, sondern dessen Anstifter er war. Oben in Rafiks heimatlichen Bergen gedieh überall Marihuana, an den Straßenrändern und am dichtesten am Rand der offenen Abwasserläufe, die durch die felsigen Kiefernwälder unterhalb der Dörfer flossen, wo die blühenden Pflanzen Ende des Sommers in Süße und Gestank mit dem Geruch des Abwassers wetteiferten. Haschischrauch hatte die spätnächtliche Luft in dem Teestand des kleinen Dorfes vernebelt, als er ein junger Mann gewesen war. Heute pflanzte Rafik jeden Frühling in einer Ecke des Gartens in Lahore eine Handvoll Samen, und im Herbst trocknete er die Pflanzen und zerstampfte die Blätter. Er spielte den anderen einen Streich, bereitete eine Paste namens bhang und gab sie heimlich dem einen oder anderen der Bediensteten ins Essen. Manchmal schmeckten sie es und hörten auf zu essen, häufig nicht.
     Ein paar Wochen nach dem Besuch auf der Harouni-Farm in Dunyapur begann Rafik, mit Saleemas Hilfe heimlich eine Portion dieser Mixtur zuzubereiten. Kamila Bibi war nach New York zurückgekehrt, doch Saleema hatte man auf Grund von Rafiks Eingreifen behalten. Der Hauptbuchhalter, Shah Sahib, hatte vorgehabt, dem Herrn zu erzählen, das Mädchen sei "korrupt" und habe einen "bad character" - diese Worte hatte er auf englisch sagen wollen -, um sie hinauszuwerfen. Doch jetzt hielt er den Mund, da er Rafik nicht gegen sich aufbringen wollte. Und Rafik legte eines Abends ein Wort für sie ein, als der alte Mann zu Bett ging und Rafik ihm die Beine massierte.
"Ich bitte um Entschuldigung, Herr, es geht um das Mädchen, Saleema, die Begum Kamila gedient hat. Sie ist ein armes Ding, und ihr Mann ist krank, und sie macht sich in der Küche nützlich. Sie bereitet die chapatis zu. Wenn Sie ihr eine Stelle geben könnten, wäre das ein Segen."
     Dem alten Mann ging nicht nur jedes Interesse für die Angelegenheiten der Dienerschaft ab - er war sich nicht bewußt, daß sie jenseits seines Wirkungsbereichs überhaupt ein Leben hatten.
     "Das ist in Ordnung."

Jetzt beobachtete Saleema in Rafiks Unterkunft, wie er die getrockneten Blätter auf einer Elektroplatte kochte.
     "He, Mädchen, mach die Tür zu, damit niemand etwas sieht."
     Sie setzte sich auf die Bettkante und baumelte mit den nackten Beinen, streifte die Sandalen ab, die neben der Tür zu Boden fielen. Rafik hockte da und rührte mit einem Holzlöffel in den Blättern und spähte in den Kessel. Sie hatten sich noch immer nicht geliebt, doch inzwischen legte er sich nachmittags, während der Siesta der Dienerschaft, zu ihr, die Hand auf ihren Brüsten. Er machte keinen Versuch, ihre Beziehung zu verbergen, und sämtliche Bediensteten glaubten, daß sie miteinander schliefen. Sie umschlang ihn dann mit ihrem Körper und strich ihm im Schlaf über das dünner werdende, hennagefärbte Haar.
     "Das ist eine komische Kocherei für einen alten Mann."
     "Du bist komisch, folgst wie ein kleines Schaf auf Schritt und Tritt einem alten Mann. Die meisten Schafhirten sind junge Burschen."
     "Bitte sag das nicht." Noch nie in ihrem Leben hatte sie in so sanftem Ton gesprochen.
     Er sah mit einem Lächeln in den Augen zu ihr auf und gestikulierte mit dem Löffel. "Sei vorsichtig, oder ich gebe dir davon zu kosten."
     "Nein, danke."
     "Nein, ich meine es ernst. Wenn Mian Sahib nach ?Pindi fährt, möchte ich, daß alle etwas davon nehmen. Ich werde auch davon nehmen."
     "Machst du Witze?"
     "Es wird Spaß machen. Und wir werden zusammen sein. Du kannst mir vertrauen."


Zwei Tage später flog K. K. Harouni nach Rawalpindi, um an einer Konferenz des Aufsichtsrats der Staatsbank teilzunehmen - eines der Ämter, die er immer noch innehatte, eine Sinekure - über die tatsächliche Politik wurde anderswo entschieden, und Harouni und weitere Eminenzen halfen ohne ihr Wissen mit, Manipulationen und die Selbstbereicherung anderer zu decken.
     Shah Sahib, der seinen Herrn zum Flughafen begleitet hatte, stand in einem grauen Anzug mit sehr breiten Aufschlägen an die Motorhaube gelehnt neben Samundar Khan auf dem Parkplatz.
     Ein Jet rollte heran, raste über die Startbahn und stieg dann elegant in den Dunst auf, Richtung Westen, nach Rawalpindi, und zog das Fahrgestell ein.
     "Gehen wir", sagte Shah Sahib.
     Als sie durch das Flughafentor fuhren, fragte Samundar Khan: "Darf ich Sie nach Hause bringen?"
     Shah Sahib warf ihm seitlich einen Blick zu. "Ich muß für meine Frau ein paar Dinge besorgen. Dann kannst du mich nach Hause bringen."

"Gut, Shah Sahib ist aus dem Weg", sagte Samundar Khan, als er die Küche betrat.
     Hassan stand am Herd vor einem riesigen Topf mit siedendem Öl, er garte die samosas, die Rafik und Saleema an einem Tisch mit Fleisch und bhang füllten. Rafik hatte der Dienerschaft erzählt, er werde samosas ausgeben, um gute Nachrichten von Zuhause zu feiern, doch das durchschaute jeder. Die Fahrer und ihre Truppe waren vollzählig an Bord und hatten Samundar Khan vorgeschickt, damit sie einen gut gefüllten Teller abbekamen. Der alte Gärtner war ausgegangen, doch der jüngere hatte sich in die Fahrerunterkunft geschlichen, um mit von der Partie zu sein. Der älteste Aufwischer, ein dünner, nahezu kahler Mann mit einem demütigen, servilen Gesichtsausdruck, saß draußen im Hof und hoffte, eingeladen zu werden. Wann immer er es sich leisten konnte, kaufte er sich eine Stange Haschisch, um es nach getaner Arbeit zu Hause zu rauchen.
     Das ganze bhang war aufgebraucht. Ein Berg samosas dampfte auf einer Platte.
     "Gut, jetzt sind wir an der Reihe", sagte Rafik.
     Hassan wandte ihnen den Rücken zu und hob den Deckel von einem Saucentopf. "Ich nicht."
     Doch es endete damit, daß er etwas davon aß.
     Saleema und Rafik saßen in Rafiks Zimmer und aßen samosas. Zuerst hatte sie abgelehnt, doch er drängte sie.
     "Und jetzt?" fragte sie.
     "Setz dich einfach hin und erzähl mir eine Geschichte. Erzähl mir davon, wie es war, als du ein Mädchen warst."
     Keiner von beiden hatte viel über die Vergangenheit oder sein Zuhause gesprochen. Sie wußte, daß er eine Frau und Kinder hatte, zwei Söhne, und daß er vor allem zurückschreckte, was ihn daran erinnerte.
     "Was soll ich dir sagen? Ich bin mit Ohrfeigen und harten Worten aufgewachsen. Wir hatten nichts, wir waren arm. Mein Vater hat von einem Karren herunter Gemüse verkauft, aber als er anfing, Heroin zu rauchen, hat er alles verkauft, den Karren, sein Fahrrad, das Radio, sogar das Geschirr aus der Küche. Einmal hat mir ein Mann - ein Junge - eine kleine Armbanduhr geschenkt - er hatte sie aus Multan mitgebracht -, und mein Vater hat mich zu Boden gestoßen und sie mir vom Handgelenk gerissen."
     "Armes Mädchen, kleines Mädchen, wie konnte er das tun?" Er rollte sie auf das Bett und küßte sie auf den Hals, unter das Kinn. Er hielt einen Augenblick inne, stand auf und sperrte die Tür ab.
     Das Schlimmste, weit schlimmere Dinge, erzählte sie ihm nicht. Nachts war ihr Vater in ihr Zimmer gekommen und hatte sie unter den Kleidern angefaßt.
     Zum ersten Mal berührte Rafik sie zwischen den Beinen. Sie öffnete das Band ihres shalvar, dann setzte sie sich auf dem Bett auf und zog das Hemd aus. Ihre kleinen Brüste standen hervor, ihre Rippen.
     Er machte das Licht aus, doch sie sagte: "Nein, ich möchte dich sehen."
     "Diesen alten Körper? Laß gut sein, da gibt es nichts zu sehen."
     "Für mich bist du nicht alt."
     Das bhang hatte zu wirken begonnen, und sie spürte die Größe des Zimmers, das Licht, den Kalender an der Wand, der ein Bild der Kaaba zeigte, das schwarze Tuch, das den Stein bedeckte, und die Menge, die ihn umrundete. Wie seltsam, sie hatte noch nie zuvor das Dach gesehen, aus Backsteinen und Metallstreben, das hochgelegene Fensterchen, um Luft hereinzulassen. Sie fühlte sich erregt, und doch wollte sie aufstehen, irgendwohin gehen. Sie zog ihm die Kleider aus, streifte seine braunen Socken ab. Beider Haut berührte sich. Sie stand auf und ging in die Ecke, wo sie sich absichtlich bückte, um ihr Hemd aufzuheben und ihn schauen zu lassen. In seinen Augen sah sie die Schönheit ihres jungen Körpers gespiegelt. Sie liebten sich, er kam beinahe sofort, dann lag er auf ihr.
     "Bleib in mir", sagte sie.
     Ihre Gedanken rasten von Idee zu Idee. Oh, würde er sie doch heiraten, und sie wußte, er würde es nicht tun. So viele Männer hatten sie genommen; ihm hätte sie sich so viel reiner hingeben können.
     "Nun mach das Licht aus", sagte sie.
     "Nein, laß uns hinausgehen. Laß uns in den Garten gehen und die Blumen anschauen."
     Im Garten hielt er sogar ihre Hand. "Hab keine Angst", sagte er. "Wenn du komische Gedanken hast, denk daran, das ist das bhang. Sei glücklich."
     "Es ist warm", sagte sie. Die Sonne brannte, der Staub auf den Rosen schien schwer, unter dem Banyanbaum wuchs kein Gras. Sie schleuderte ihre Schuhe von den Füßen und spürte die kühle Erde.
     "Leg dich hierhin", sagte sie, "neben mich, und halte mich fest."
     Und obwohl man sie hätte sehen können, tat er es.


Den ganzen Nachmittag über spazierten sie miteinander herum, sogar im Haus, und betrachteten die Bilder, die Möbel. Rafik wollte sich zu den Fahrern setzen, aber sie sagte nein, sie wollte mit ihm allein sein. Hassan lärmte in der Küche herum, er hatte zu viele samosas gegessen.
     An diesem Abend sagte sie zu Rafik: "In einer halben Stunde bin ich wieder zurück."
     Sie ging in ihr eigenes Zimmer. Ihr Mann lag auf dem Bett, er hatte von seinen Pillen genommen, seine Finger zuckten.
     "Schau", sagte sie und baute sich vor ihm auf. "Du bist völlig verkommen. Du bist seit zwei Jahren völlig verkommen. Von jetzt an werde ich nie mehr in deinem Bett schlafen."
     Er fing an zu weinen, sein ausgemergeltes Gesicht, seine langen gelben Zähne. Das hatte sie nicht erwartet. Er schluchzte, echte Tränen. Sie setzte sich auf den kaputten Stuhl in der Ecke und betrachtete das Regal, auf dem sie ihre wenigen Habseligkeiten verwahrte, eine Metalldose mit Eyeliner, eine Blechschachtel, die Kamila weggeworfen hatte und die einmal Schokolade enthalten hatte.
     "Werde ich weiter mein Geld bekommen?"
     Sie stand wieder auf. "Ja, aber wenn du auch nur ein dummes Wort sagst, ist es aus."
     Sie nahm ein paar Kleider mit, und als sie sie in Rafiks Zimmer an einen Nagel hängte, sagte er nichts. Sie hielt ihn die ganze Nacht, sein Gesicht an ihrer Brust.
     Nur einmal, als sie erwachte, dachte sie: Das war unser Hochzeitsmahl, gedopte samosas, und sie fühlte sich traurig und erschöpft und verängstigt.


Nun schlief sie jede Nacht in Rafiks Bett und überließ ihren Mann seiner Sucht. Herbst und Winter kamen, die Blätter fielen, nachts schliefen sie unter einem schweren Quilt, den die Leiter der Farm Rafik als Geschenk geschickt hatten. Sie schlief nackt, was ihm auch nach fünf Monaten noch unangenehm war. Rafik wachte auf, bevor es hell wurde, um seine Gebete zu sprechen, dann ging er in die Küche und trank mit Hassan Tee. Der Sahib wachte früh auf, und Rafik hatte bis weit in den Vormittag hinein Pflichten. Wenn er kam, um sie zu wecken, tat sie, als schliefe sie fest, das Gesicht unter dem Quilt vergraben - sie schlief immer mit bedecktem Kopf. Er brachte ihr eine Tasse Tee und Toast.
     "Schlüpf zu mir herein", sagte sie dann und rutschte im Bett zur Seite, eine warme Stelle hinterlassend, und manchmal tat er es. Ihr langes Haar hing herab, und sie bürstete es, während er ihr von den Gästen erzählte, die zum Bridge gekommen waren, oder von irgendeinem Zwist in der Küche. In der Morgensonne sitzend, eine altmodische Brille mit dicken Gläsern auf der Nase, las er die in Urdu erscheinende Zeitung New Times. Sie kaufte ihm eine warme wollene Mütze und wusch und flickte sorgfältig seine Kleider. Sie wollte, daß jeder sah, wie gut sie für ihn sorgte. Sie sagte: "Du trägst mich auf dem Rücken, und ich trage dich im Gesicht." Ihr Gesicht war weicher geworden.
     Ihre Periode blieb einmal aus, ein zweites Mal, aber sie erzählte Rafik nichts davon.
     Eines Nachmittags hatten sie aufgehört, sich zu lieben, und unterhielten sich, ihr Gesicht lag an seiner Schulter.
     Er streichelte ihren Bauch.
     "Ich kann es dir genauso gut sagen. Siehst du, daß ich dicker werde? Ich bin schwanger."
     Er schob ihren Kopf zur Seite und setzte sich auf. "Das ist schlecht."
     "Wenn du das findest, gehe ich in mein Dorf und lasse es wegmachen."
     "Ich bin verheiratet. Ich habe einen Sohn in deinem Alter."
     Sie stand auf, zog sich an und ging hinaus, an der Tür wandte sie sich einen Augenblick um. "Ich werde nie vergessen, was du gesagt hast, als ich es dir erzählt habe."
     Wohin? Sie ging durch das Tor in Richtung Lawrence Gardens, ein paar Häuserblocks entfernt. Den Blick hoch hinauf in die wogenden Äste eines riesigen Malabar-Lackbaumes gerichtet, dachte sie: Gott, ich bin nichts, sieh, wie klein ich bin neben diesem Baum. Er muß Hunderte von Jahre alt sein. Aber ich werde das Baby nicht aufgeben. Ich will lieber das Baby als Rafik.
     In dieser Nacht hatte sie keinen anderen Ort, an dem sie schlafen konnte, und kehrte deshalb in Rafiks Unterkunft zurück - sie konnte es nicht ertragen, mit ihrem Mann zusammen zu sein, der mehr und mehr von seinen Aufputschpillen zu sich nahm und die ganze Nacht aufblieb und Zigaretten rauchte.
     "Verzeih mir", sagte Rafik.
     "Ich werde es bekommen, du kannst mich hierbehalten oder mich hinauswerfen. Auf jeden Fall werde ich es in meinem Dorf bekommen, hier gibt es keine Frauen, die mir helfen könnten."
     Am nächsten Tag ging er morgens zum Basar, und als sie zur Siesta in sein Zimmer kam, gab er ihr einen winzigen Anzug, blaue Strickhose, ein blaues Hemd, mit Handschuhen und einer Bommelmütze, die mit kleinen weißen Kaninchen bedruckt war.
     Damit akzeptierte er ihren Zustand und strich mit den Händen über ihren wachsenden Bauch und redete mit dem Leben darin. Wenn es sich bewegte, führte sie seine Hand an die Stelle, um es ihm zu zeigen. Keiner der anderen Diener sagte offen etwas, obwohl beide es erwartet hatten; und natürlich hätte sie behaupten können, es sei das Kind ihres Ehemanns. Hassan gratulierte ihr einmal scherzhaft, doch sie reagierte so sanft, daß auch er verstummte.
     Rafik erreichte, daß sie einen Monat weggehen konnte.
     Bevor sie zu ihrem Dorf aufbrach, gab er ihr viel Geld, zehntausend Rupien, die er über die Jahre gespart hatte, obwohl er seiner Familie Unterhalt geschickt hatte.
     "Das kann ich nicht annehmen."
     "Für mich, für unser Baby - falls du einen Arzt brauchst."


Sie erreichte ihr Dorf in der Dämmerung, nahm vom Busbahnhof eine Rikscha. Das offene Feld vor dem Dorf war zu einem Sammelbecken für das Abwasser aus der Stadt geworden, das Wasser schwarz.
     "Schau, Saleema ist gekommen", sagten die Nachbarn, als sie mit zwei Plastiktüten voller Lebensmittel, Fleisch und Zucker, Tee, Möhren, Kartoffeln durch die schmale Gasse auf das Haus ihrer Mutter zuging. Der von einer Mauer umschlossene Hof hatte keine Tür, nur einen schmutzigen Jutefetzen aus zwei zusammengenähten Säcken. Kinder rannten hinter ihr her und spähten herein.
     Ihre Mutter saß auf dem charpoy und schälte Kartoffeln, das lange dünne Haar zu einem Zopf geflochten und mit Henna rot gefärbt.
     Sie stand nicht einmal auf, schälte weiter Kartoffeln.
     "Ich bin wieder da."
     "Steckst du in Schwierigkeiten? Du bist schwanger."
     "Nein", log sie.
     "Ich habe eine Ziege gekauft von dem Geld, das du geschickt hast."
     "Das sehe ich." Die Ziege, an einem Pfahl gebunden, knabberte an einer Handvoll Gras.
     Der einzige Raum war beinahe völlig leer, es gab nicht einmal ein Radio.
     Saleema, neben den kleinen Herd gekauert, bereitete auf einem Feuer aus Zweigen ein Curry.
     Als sie zum Essen auf dem Bett saßen, fragte Saleema: "Wo ist mein Bruder?"
     "Bholu kommt nicht oft hierher. Ich gebe ihm kein Geld."
     "Woher bekommst du Geld außer dem, das ich dir schicke?"
     "Es ist nicht mehr einfach, das kann ich dir sagen. Eines Tages wirst du herausfinden, was es heißt, alt zu sein. Ich putze im Haus der Chaudreys, ich verkaufe die Milch von der Ziege."
     Am nächsten Tag erzählte sie ihrer Mutter von Rafik und dem Baby.
     "Hat dein Mann dich hinausgeworfen?"
     "Ihn habe ich schon vor langer Zeit vergessen."
     Sie wollte erklären, daß sie eine respektable Frau geworden sei, wußte jedoch, ihre Mutter würde das nie verstehen.
     Ihre Mutter fand die Sache mit dem Geld heraus und beschwatzte sie Tag und Nacht. Saleema bewahrte das Geld in einem Beutel auf, den sie unter dem Hemd trug. Eines Nachts, spät wachte sie auf und stellte fest, daß ihre Mutter mit dünnen, geübten Händen verstohlen den Beutel aufknotete.
     Als Saleema sich aufsetzte, sagte ihre Mutter zunächst: "Ich dachte, ich hätte einen Skorpion gesehen." Dann: "Du schuldest es mir, du trächtige Hure, kommst nach deiner Hurerei mit einem dicken Bauch hierher. Dies ist kein Hotel."
     "Es ist nicht mein Geld. Ich habe das ganze Essen gekauft."
     "Sieht sehr wohl aus wie dein Geld."
     Ihre Mutter lag in ihrem Bett und hustete.
     Die alte Hebamme aus dem Dorf mit den schmutzigen Händen und dem gierigen Herzen brachte das Baby zur Welt, einen winzigen Jungen.


Rafik gewann sofort eine Beziehung zu seinem Sohn. Er war in Lahore gewesen, als seine anderen Kinder, gezeugt während zehntägiger Urlaube, geboren wurden und aufwuchsen. Er nannte das Kind Allah Baksh, Gottesgeschenk.
     Saleema saß im Zimmer an die Wand gelehnt, während Rafik mit dem kleinen Baby spielte, das mit seiner winzigen Hand seinen Finger festhielt. Er klatschte und machte leise summende Geräusche, bis das Baby lachte und seine zahnlosen roten Kiefer zeigte.
     "Seine Zähne sind wie deine. Außerdem denkt ihr ähnlich." Sie sah, daß Rafik wirklich wie das Baby dachte, er saß den ganzen Nachmittag da und spielte mit ihm, ging auf es ein und betrachtete die Welt mit seinen Augen, bis es müde wurde. Wenn sie ihre Bluse aufknöpfte, um das Baby zu stillen, schaute Rafik verlegen weg und zündete sich zur Ablenkung eine Hookah an, während das Kind schmatzte und saugte, der winzige Hals sich bewegte.
     Glückliche Monate vergingen, dann ein Jahr, Saleema wurde rundlicher, ihre merkwürdige, langgesichtige Schönheit war auf dem Höhepunkt, ihre Brüste milchschwer.
     Rafik saß eines Morgens im Schneidersitz auf dem Rasen und hielt das Baby. Er hörte, wie die Fliegengittertür, die zu Harounis Zimmer führte, geöffnet wurde, und der Herr trat heraus. Rafik stand eilig auf.
     "Salaam, Sir."
     "Hallo, Rafik." Er war guter Laune. "Ist das Saleemas Baby?"
Der Herr berührte das Baby mit der flachen Hand. Das Baby, das geschlafen hatte, schmatzte mit den Lippen. Rafik zog es immer zu warm an, ein gestrickter Strampelanzug, eine weiche Mütze.
     "Ich muß sagen, er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten", sagte Harouni scherzhaft.
     Auf Rafiks Gesicht erschien unwillkürlich ein breites Lächeln. "Was soll ich sagen, Hazoor, das Leben geht seltsame Wege. Dies alles sind die Wohltaten von Euer Ehren."
     Harouni brüllte vor Lachen. "Es gibt Wohltaten, die solltest du nicht mir zuschreiben."
     Das sanfte Gesicht des alten Dieners lief rot an.

*

Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages

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