Vorgeblättert

Leseprobe zu Claudia Pineiro: Ein Kommunist in Unterhosen. Teil 1

30.06.2014.
Im Sommer nach dem Sommer, in dem er entlassen worden war, hielt mein Vater uns als Turboventilatorenvertreter über Wasser. Im Großraum Buenos Aires waren Turboventilatoren damals das Modernste, was es gab, um die drückende Sommerhitze halbwegs erträglich zu machen. Und in diesem Sommer, dem Sommer 1976, war es in Buenos Aires und Umgebung sehr
heiß. Wir gehörten zu den Leuten "aus der Umgebung". "Gott sei Dank ist es heiß", sagte mein Vater, der an keinerlei Götter glaubte. Ich schon, wenigstens damals noch. Abends betete ich beim Zubettgehen, dass die Temperaturen am nächsten Tag noch höher klettern würden. Und ich bat Gott, es nicht regnen zu lassen. Wenn es regnet, kühlt es ab, das wusste ich mit meinen dreizehn Jahren schon. Ebenso wusste ich, dass mein Vater viele "Turbos" verkaufte - so nannten wir die Apparate bei uns zu Hause -, wenn es heiß war. Und wenn er viele Turbos verkauft hatte, kam er abends gut gelaunt zurück. Und wenn er gut gelaunt war, ging es friedlich bei uns zu.
     "Die Turboventilatoren machen dem Volk das Leben leichter." So drückte mein Vater es aus. Und ich glaubte ihm. Damals besaß niemand, den ich kannte, eine Klimaanlage; die herkömmlichen Ventilatoren jedoch wirkten im Vergleich zu den neuen Geräten ziemlich veraltet. Die neuen waren viereckig und ließen sich auf alle möglichen Arten verstellen, manche Modelle waren so raffiniert, dass sich die vordere Plastikdrehscheibe in Gegenrichtung zu den dahinter angebrachten Flügeln bewegte, was für eine bessere Luftverteilung sorgte. Oder vielmehr für eine "gleichmäßige Verwirbelung", wie mein Vater es formulierte, wenn er potenziellen Käufern die Vorteile der teureren Turboventilatoren anpries. Das mit der Erleichterung für das Volk sagte er nur zu Hause, und dazu mit verstellter Stimme, als wollte er einen Politiker nachahmen. Jeden Morgen machte er sich mit einer ganzen Kofferraumladung Turboventilatoren auf den Weg. Die Straßen, die er sich für den Tag vorgenommen hatte, hatte er am Abend zuvor mit rotem Filzstift auf einem fotokopierten Ausschnitt seines Filcar-Stadtplans markiert. Er ging von Tür zu Tür, klingelte und bot seine Produkte an. Es gab weiße, beigefarbene, graue und Holzimitat-Turboventilatoren. Ob sie schön waren, weiß ich nicht, mir kamen sie jedenfalls schön vor. Allerdings ist bekanntlich nichts vollkommen. Nicht einmal Turboventilatoren. Deren größter Nachteil war nicht, dass sie so laut waren, wenn man sie in Betrieb nahm, sondern dass sich zwischen den Stäbchen der vorderen Plastikdrehscheibe so schnell Staub und Schmutz ansammelten. Über die Nachteile sprach mein Vater allerdings nie. Weder über den Lärm noch über den Schmutz. Ich wischte täglich mit einem Staubtuch Stäbchen für Stäbchen unseres eigenen Turboventilators sauber, damit mein Vater von dem Schmutz nichts mitbekam.
     Genau genommen war er nie richtig entlassen worden. Er und mehrere Kollegen hatten sich jedoch eines Tages als entlassen betrachtet und daraufhin ihre Firma verklagt. Mein Vater war Gewerkschaftsvertreter in einem Unternehmen gewesen, das sich mit der Aufzucht, Schlachtung und dem Verkauf von Hühnern befasste. Lange hatte man versucht, ihn mit allen möglichen Tricks dazu zu bringen, etwas zu tun, was eine Entlassung gerechtfertigt hätte, oder aber selbst zu kündigen, weil er genug von den Schikanen hatte. Als entlassen betrachtete er sich schließlich, als er eines Tages auf seinem monatlichen Gehaltszettel entdeckte, dass man ihm den Lohn gekürzt hatte. Man hatte einfach das Prämiensystem geändert, mit der Folge, dass er automatisch weniger verdiente. Die Anwälte empfahlen ihm und seinen Kollegen, in aller Ruhe zu kündigen, den Prozess würden sie "über kurz oder lang" auf jeden Fall gewinnen. Mein Vater vertrat zwar die Ansicht, sie sollten sich lieber nicht alle vom selben Anwalt vertreten lassen, denn das würde es der Firma nur erleichtern, die Sache zu "regeln", zuletzt fügte er sich aber dem Willen der Mehrheit. Wie er vermutet hatte, "regelte" der Anwalt die Sache tatsächlich, aber eine Abfindung wurde nie ausbezahlt. Was mein Vater jedoch nicht mitbekam: Als der Prozess, viele Jahre nach diesem Sommer, endgültig entschieden wurde, war er längst tot.
     Dass mein Papa Hühner verkaufte, erzählte ich niemandem. Ich teilte seine Ansicht, er sei eigentlich zu anderem berufen und habe eine bessere Arbeit verdient. Schließlich hatte er erfolgreich das erste Studienjahr in Jura absolviert und damit mehr erreicht als die Väter aller meiner Freundinnen. Und trotzdem verdienten diese mehr Geld und waren in sichereren Stellungen als er. Davon abgesehen, verbesserte sich mein Vater nie, wenn er die Arbeit wechselte, im Gegenteil. Als er meine Mama heiratete, leitete er eine Bankfiliale und hatte schon die nächste Stufe auf der Karriereleiter vor Augen. Doch einige Jahre später gab er diese Stelle für ein angeblich grandioses Geschäft auf, das ein Freund ihm vorgeschlagen hatte. Das Geschäft erwies sich als ein einziger Reinfall, woraufhin mein Vater, um nicht vor seinen Freunden, Bekannten und Verwandten schlecht dazustehen, mit unseren wenigen Ersparnissen für die gesamten Kosten aufkam. Anschließend versuchte er sein Glück mit allen möglichen Beschäftigungen. Einmal bewarb er sich sogar um eine Stelle als Sportlehrer, wie sich jedoch herausstellte, hatte er die für Anfänger festgelegte Altersgrenze bereits überschritten. Bis er sich irgendwann der Einsicht fügte, dass das Schicksal sich gegen ihn verschworen hatte, woraufhin er die Stelle bei der Firma San Sebastián annahm - "Keiner versteht mehr von Hühnern", lautete deren Werbespruch -, sehr zur Beruhigung meiner Mutter, denn das bedeutete, dass künftig nicht nur mit einem regelmäßigen Haushaltseinkommen zu rechnen war. Darüber hinaus sorgte es dafür, dass mein Vater endlich gezähmt wurde und sich in die Rolle des Ernährers schickte, der sich um die Bedürfnisse seiner Familie kümmert, auch wenn die eigenen darüber zu kurz kommen. Außerhalb unserer vier Wände sprach ich nie über die Firma San Sebastián und ebenso wenig über Hühner. Wenn mich jemand fragte, was mein Vater beruflich mache, antwortete ich, er sei Verkäufer. Damals glaubte ich noch, lügen sei eine Todsünde und werde mit ewiger Verdammnis bestraft. Was genau er verkaufte, verriet ich nicht. Nur wenn sich jemand mit der Antwort nicht zufrieden gab,fügte ich hinzu: "Er verkauft Lebensmittel." "Hühner" sagte ich jedoch nie. Als wären Hühner etwas, wofür man sich schämen musste. Obwohl ich nicht einmal wusste, warum - so war es eben.
     Die Hühner, die mein Vater verkaufte, kamen bei uns zu Hause nicht auf den Tisch. Mein Vater selbst verschmähte sie, so wie er die Art verschmähte, wie sie aufgezogen wurden: In ihren Ställen brannte die ganze Nacht hindurch das Licht, nur damit sie unaufhörlich fraßen und entsprechend schnell vermarktet werden konnten, in viel kürzerer Zeit als Hühner, die nachts schlafen durften. "Der Kapitalismus ist so was von am Ende", sagte mein Vater ständig. Er war Kommunist. Oder bezeichnete sich wenigstens so. Meinen Freundinnen verriet ich nie, dass mein Papa Kommunist war. Ebenso wenig, dass er zu Hause meistens in Unterhosen herumlief. Und auch nicht, dass meine Großmutter mütterlicherseits, die gleich neben uns wohnte, auf dem Hof hinter ihrem Haus Hühner hielt. Nur diese Hühner wurden bei uns gegessen, goldbraun gebraten kamen sie aus dem Ofen, hatten eine knusprige Haut und "schmeckten auch nach Huhn". Nur die Hühner, die auf dem Hinterhof meiner Großmutter ausgebrütet und aufgezogen wurden. Das Schlachten übernahm sie selbst. Dafür hob sie zunächst ein Loch aus, in dem später der Kopf und die Federn des getöteten Tieres landeten. Wenn sie mit dem Graben fertig war, wählte sie ein Huhn aus, schnappte es sich und trug es zu dem Loch, wo schon das Messer bereitlag. Sie schlitzte dem Tier jedoch nicht die Kehle auf. Sie klemmte es sich vielmehr unter die linke Achsel, ergriff mit der Rechten seinen Kopf und drehte ihn um einhundertachtzig Grad, bis die Wirbel knackten und das Huhn seinen Rücken betrachten konnte. Erst jetzt schnitt sie den Kopf ab, den sie anschließend in die Grube warf, über der sie das tote Tier auch ausbluten ließ. Dazu sagte sie: "Bei mir gibts so was nicht, dass die Hühner ohne Kopf im Hof rumrennen." Das Rupfen sparte sie sich für später auf, das erledigte sie in der Küche, wo sie ihr Opfer zunächst in einen Topf mit heißem Wasser tauchte, damit die Federn sich lockerten. Anschließend saß sie breitbeinig auf einem Bänkchen und riss dem kopflosen Huhn, das auf der Schürze in ihrem Schoß lag, die Federn aus und warf diese in einen Blecheimer, der irgendwann randvoll war. Zuletzt machte sich der Geruch nach versengten Federkielen breit, denn dann fackelte meine Großmutter alles, was sich nicht hatte herausreißen lassen, über der Flamme des Gasherds ab.
     Dass meine Großmutter beziehungsweise seine Schwiegermutter eigenhändig Hühner tötete, gefiel meinem Vater nicht, und erst recht nicht, dass sie deren Köpfe und Federn auf dem Hof vergrub. Zu sagen brauchte er das allerdings nicht. Die Art, wie er sie ansah, wenn er sie grüßte und anschließend die wenigen paar Worte mit ihr wechselte, die er für sie übrig hatte, bewies mehr als deutlich, dass ihre Anwesenheit ein Unbehagen in ihm auslöste, das ich nur mit Mühe genauer hätte beschreiben können. Ich weiß nicht, ob ihn noch andere Dinge an ihr störten, jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, woran es sonst hätte liegen können, dass mein Vater und meine Großmutter mütterlicherseits so großen Abstand hielten. Ich gab also dem Hühnerschlachten die alleinige Schuld. Trotzdem ging mir gelegentlich der Gedanke durch den Kopf, dass mein Vater sie womöglich deshalb nicht mochte, weil sie einst eine Tochter zur Welt gebracht hatte, die wiederum der Grund dafür war, dass er heute als verheirateter Mann in einem Haus in Burzaco gefangen saß, wo er mit einer Frau zusammenlebte, die er zwar liebte, mit der er sich jedoch in regelmäßigen Abständen auch die Teller um die Ohren warf, zwei Kinder großzog und Turboventilatoren verkaufte. Er, mein Vater, der so viel mehr hätte erreichen können. Diesen Gedanken verdrängte ich allerdings jedes Mal sofort: Der Schmerz, den er hervorrief, war zu groß. Obwohl Schmerz vielleicht nicht das richtige Wort ist, Enttäuschung oder Verzweiflung trifft es möglicherweise besser. Oder auch Schuldgefühl, denn irgendwie konnte ich ihn ja verstehen. Der Gedanke, mein Vater möge meine Großmutter nicht, weil sie Hühner tötete, indem sie ihnen den Kopf umdrehte wie bei einem Schraubverschluss, war jedenfalls harmloser, leichter zu ertragen als die Schlussfolgerung, tatsächlich mache es ihm zu schaffen, dass er meine Mutter geheiratet und mit ihr diese Familie gegründet hatte. Meine Familie. In diesem Sommer begann auch die Geschichte mit dem Fahnendenkmal und dem Bürgerkomitee zur Bewahrung des kulturellen Erbes von Burzaco. Obwohl die Väter aller meiner Freundinnen an den dazugehörigen Versammlungen teilnahmen, weigerte mein Vater sich, hinzugehen. Dazu kam der Streit mit der Stadt Rosario um die offizielle Anerkennung der Tatsache, dass unser Fahnendenkmal, also das von Burzaco, das erste im Lande gewesen war, was endlich in angemessener Weise zu würdigen sei. Ein Streit, von dem die Stadt Rosario wahrscheinlich nie etwas mitbekam. In einem Sommer, in dem Tag für Tag vom ersten Sonnenstrahl bis tief in die Nacht die Zikaden lärmten. Und in dem mein Vater - der stets der Überzeugung war, er könne viel wichtigere Dinge erreichen, wenn die Welt sich nicht gegen ihn verschworen hätte - seine Pflicht, so gut er konnte, erfüllte, indem er von Haus zu Haus ging, klingelte und seine Produkte anbot.

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