Vorgeblättert

Leseprobe zu Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah. Teil 2

07.04.2014.
Eines Tages sagte Nneoma: "Ich kenne diesen sehr reichen Mann, Chief. Er ist seit langem hinter mir her, aber ich sage immer nein. Er hat ein ernstes Problem mit Frauen, und er kann einen mit Aids anstecken. Aber du kennst die Männer ja, die Frau, die nein zu ihnen sagt, vergessen sie nicht. Jetzt ruft er mich ab und zu an, und ich gehe manchmal zu ihm, um ihm Respekt zu bezeugen. Er hat mir sogar mit Geld geholfen, um neu anzufangen, als diese Satanskinder mir letztes Jahr mein Geld gestohlen haben. Er glaubt noch immer, dass ich eines Tages ja sagen werde. Hah, o di egwu, wozu? Ich bringe dich zu ihm. Wenn er gutgelaunt ist, kann der Mann sehr großzügig sein. Er kennt jeden in diesem Land. Vielleicht gibt er uns eine Empfehlung für irgendeinen Generaldirektor."
     Ein Butler ließ sie ein; Chief saß auf einem vergoldeten Stuhl, der wie ein Thron aussah, nippte Cognac und war von Gästen umgeben. Er sprang auf, ein eher kleiner Mann, erfreut und überschwänglich. "Nneoma! Bist du es wirklich? Du hast heute also an mich gedacht!", sagte er. Er umarmte Nneoma, trat einen Schritt zurück, um unverhohlen ihre Hüften zu betrachten, die in einem maßgeschneiderten Rock steckten, ihre verlängerten Haare, die ihr bis auf die Schulter reichten. "Du willst wohl, dass ich einen Herzinfarkt habe, was?"
     "Wie kann ich so was wollen? Was würde ich ohne dich tun?", sagte Nneoma kokett.
     "Du weißt genau, was du tust", sagte Chief, und seine Gäste, drei verständnisvolle Männer, lachten schallend.
     "Chief, das ist mein Cousin, Obinze. Seine Mutter ist die Schwester meines Vaters, die Professorin", sagte Nneoma. "Sie hat meine Schulgebühren bezahlt, vom ersten bis zum letzten Jahr. Wenn sie nicht gewesen wäre, wüsste ich nicht, wo ich heute wäre."
     "Wunderbar, wunderbar!", sagte Chief und sah Obinze an, als wäre er irgendwie für diese Großzügigkeit verantwortlich.
     "Guten Abend, Sir", sagte Obinze. Er war überrascht, dass Chief ein penibel gepflegter Geck war: manikürte, glänzende Fingernägel, schwarze Samtslipper an den Füßen, ein diamentenbesetztes Kreuz um den Hals. Er hatte einen größeren Mann mit einem weniger schmucken Äußeren erwartet.
     "Setzt euch. Was kann ich euch anbieten?"
     Bedeutende Männer und bedeutende Frauen, das lernte Obinze später, sprachen nicht mit den Leuten, sie hielten ihnen vielmehr Ansprachen, und an diesem Abend redete Chief und redete, hielt hochtrabende Vorträge über Politik, während seine Gäste riefen: "Genau! Sie haben ja so recht, Chief! Danke!" Sie trugen die Uniform der jungen, wohlhabenden Leute von Lagos - Lederslipper, Jeans, enge Hemden mit offenem Kragen, überall bekannte Designerlogos -, doch ihr Verhalten war bestimmt von dem beflissenen Eifer von Männern in Bedrängnis.
     Nachdem seine Gäste gegangen waren, wandte sich Chief an Nneoma. "Kennst du das Lied 'Niemand weiß, was morgen ist'?" Dann sang er das Lied mit kindlicher Begeisterung. Niemand weiß, was morgen ist! Mo-orgen! Niemand weiß, was morgen ist! Anschließend goss er einen weiteren großzügigen Schuss Cognac in sein Glas. "Das ist das Prinzip, auf dem dieses Land beruht. Das wichtigste Prinzip. Niemand weiß, was morgen ist. Erinnert ihr euch noch an diese großen Banker während Abachas Regierungszeit? Sie haben geglaubt, dass ihnen das Land gehört, und als Nächstes saßen sie im Gefängnis. Und der arme Mann, der seine Miete nicht zahlen konnte? Babangida hat ihm eine Ölquelle geschenkt, und jetzt hat er einen Privatjet!" Chief sprach triumphierend, verkaufte alltägliche Beobachtungen als großartige Erkenntnisse, während Nneoma zuhörte und lächelte und ihm recht gab. Ihre Lebhaftigkeit war übertrieben, als ob ein breiteres Lächeln und ein rascheres Lachen - sie polierte sein Ego auf Hochglanz - garantieren würden, dass Chief ihnen half. Es amüsierte Obinze, wie unverhohlen sie war, wie schamlos sie flirtete. Aber Chief schenkte ihnen nur eine Kiste Rotwein und sagte nebenbei zu Obinze: "Komm mich nächste Woche besuchen."
     Obinze besuchte ihn in der nächsten Woche und in der übernächsten; Nneoma riet ihm, so lange hinzugehen, bis Chief etwas für ihn tat. Chiefs Butler servierte immer frische Pfeffersuppe, gut gewürzte Fischstücke in einer Brühe, die Obinzes Nase zum Laufen brachte, seine Gedanken klärte, irgendwie seine Zukunft entwirrte und ihn mit Hoffnung erfüllte, so dass er zufrieden dasaß und Chief und seinen Gästen zuhörte. Sie faszinierten ihn, das plumpe Schwanzeinziehen der Beinahe-Reichen in Gegenwart der tatsächlich Reichen und der tatsächlich Reichen in Gegenwart der Superreichen; Geld zu haben bedeutete anscheinend, vom Geld verzehrt zu werden. Obinze empfand Widerwillen und Sehnsucht; er bedauerte sie und stellte sich vor, wie sie zu sein. Eines Tages trank Chief mehr Cognac als üblich und sprach ins Blaue hinein über Leute, die einem ein Messer in den Rücken rammten, und kleine Jungs, die sich in die Hose machten, und undankbare Dummköpfe, die sich plötzlich für schlau hielten. Obinze wusste nicht, was genau passiert war, aber irgendjemand hatte Chief verärgert, ein Abgrund hatte sich aufgetan, und kaum waren sie allein, sagte er: "Chief, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann sagen Sie es. Sie können sich auf mich verlassen." Er war über seine eigenen Worte überrascht. Er war aus sich selbst herausgetreten. Die Pfeffersuppe hatte ihn berauscht. Er war in Lagos, und er musste sich ins Zeug legen.
     Chief sah ihn an, es war ein langer durchtriebener Blick. "Wir brauchen mehr Leute wie dich in diesem Land. Leute aus guten Familien, die zu Hause gut erzogen wurden. Du bist ein Gentleman, ich sehe es deinen Augen an. Und deine Mutter ist Professorin. Das ist nicht leicht."
     Obinze lächelte ein wenig, um angesichts dieses merkwürdigen Kompliments bescheiden zu wirken.
     "Du bist hungrig und ehrlich, das ist sehr selten in diesem Land. Ist es nicht so?", fragte Chief.
     "Ja", sagte Obinze, obwohl er nicht sicher war, dass er zustimmte, weil er glaubte, diese Eigenschaften zu besitzen, oder weil er glaubte, dass sie selten waren. Doch es war gleichgültig, denn Chief war von beidem überzeugt.
     "Alle sind hungrig in diesem Land, sogar die reichen Männer sind hungrig, aber niemand ist ehrlich."
     Obinze nickte, und Chief sah ihn noch einmal lange an, bevor er sich wortlos erneut seinem Cognac zuwandte. Bei seinem nächsten Besuch war Chief wieder redselig wie immer.
     "Ich war Babangidas Freund. Ich war Abachas Freund. Jetzt, wo das Militär weg ist, bin ich Obasanjos Freund", sagte er. "Weißt du warum? Weil ich dumm bin?"
     "Natürlich nicht, Chief", sagte Obinze.
     "Es heißt, dass die Staatliche Gesellschaft zur Förderung der Landwirtschaft bankrott ist und privatisiert werden soll. Wusstest du das? Nein. Warum weiß ich es? Weil ich Freunde habe. Bis du es erfährst, habe ich mich entschieden und von der Arbitrage profitiert. So funktioniert unser freier Markt!" Chief lachte. "Die Gesellschaft wurde in den sechziger Jahren gegründet und besitzt überall Land. Die Häuser sind heruntergekommen, und die Termiten fressen die Dächer. Aber sie werden verkauft. Ich werde sieben Grundstücke für jeweils fünf Millionen kaufen. Weißt du, mit wie viel sie in den Büchern stehen? Mit je einer Million. Weißt du, wie viel sie tatsächlich wert sind? Fünfzig Millionen." Chief hielt inne und starrte auf ein klingelndes Handy - vier Handys lagen auf dem Tisch neben ihm -, ignorierte es und lehnte sich auf dem Sofa zurück. "Ich brauche einen Strohmann."
     "Ja, Sir, das kann ich machen", sagte Obinze.
     Nneoma saß später auf ihrem Bett, aufgeregt für ihn, und gab ihm Ratschläge, während sie sich hin und wieder auf den Kopf schlug; unter den Attachments juckte ihre Kopfhaut, und kratzen konnte sie sich nicht.
     "Das ist deine Chance! Zed, wach auf! Die Sache hat einen großen Namen, Evaluierungsberatung, aber es ist nicht schwierig. Man unterbewertet die Immobilie und sorgt dafür, dass es so aussieht, als ginge alles mit rechten Dingen zu. Du kaufst die Immobilie und verkaufst die Hälfte davon, um den Kaufpreis wieder reinzukriegen, und schon bist du im Geschäft! Du meldest dein eigenes Unternehmen an. Und als Nächstes baust du dir ein Haus in Lekki und legst dir ein paar Autos zu und bittest deine Heimatstadt, dir ein paar Titel zu verleihen, und deine Freunde, Glückwunschanzeigen für dich in die Zeitungen zu setzen, und bevor du dich umsiehst, gibt dir jede Bank, in die du einen Fuß setzt, sofort einen günstigen Kredit, weil sie glauben, dass du das Geld gar nicht mehr brauchst! Und nachdem du deine Firma angemeldet hast, brauchst du einen Weißen. Frag einen deiner Freunde in England. Erzähl allen, dass er dein Generaldirektor ist. Du wirst sehen, dass dir alle Türen offenstehen, nur weil du einen oyinbo Generaldirektor hast. Sogar Chief hat ein paar weiße Männer, die er wenn nötig zur Schau stellt. So funktioniert Nigeria, glaub mir."
     Und so funktionierte es, und so funktionierte es noch immer für Obinze. Die Leichtigkeit hatte ihn ganz benommen gemacht. Als er zum ersten Mal mit seinem Angebotsschreiben zur Bank ging, war er sich surreal vorgekommen, als er "fünfzig" und "fünfundfünfzig" sagte und "Millionen" wegließ, weil es nicht erforderlich war, das Offensichtliche auszusprechen. Es erstaunte ihn zudem, wie einfach manche andere Dinge wurden, wie auch nur der Anschein von Reichtum ihm den Weg ebnete. Er musste lediglich in seinem BMW vorfahren, und der Pförtner salutierte und öffnete ihm das Tor, ohne Fragen zu stellen. Sogar in der amerikanischen Botschaft wurde er anders behandelt. Jahre zuvor, nach dem Studium und voller ehrgeiziger Träume von Amerika, war ihm ein Visum verweigert worden, doch mit den neuen Kontoauszügen bekam er es sofort. Bei seiner ersten Reise plauderte der Passbeamte im Flughafen von Atlanta mit ihm und fragte ihn freundlich: "Wie viel Bargeld haben Sie dabei?" Als Obinze antwortete, dass es nicht viel war, schien der Mann überrascht. "Nigerianer wie Sie erklären regelmäßig Tausende von Dollar."
     Das war er jetzt, ein Nigerianer, von dem erwartet wurde, dass er bei der Einreise jede Menge Bargeld deklarierte. Er empfand eine verwirrende Fremdheit, weil sein Geist mit der rasanten Veränderung seiner Lebensumstände nicht mithalten konnte, und er spürte einen leeren Raum zwischen sich selbst und der Person, die er angeblich war.
     Er verstand noch immer nicht, warum Chief beschlossen hatte, ihm zu helfen, ihn zu benutzen, während er die beiderseitigen Vorteile überwachte und beförderte. Schließlich wurde Chiefs Haus von ergebenen Besuchern überrannt, von Verwandten und Freunden, die Verwandte und Freunde mitbrachten, mit Taschen voller Anfragen und Gesuchen. Manchmal fragte er sich, ob Chief ihn eines Tages um etwas bitten würde, den hungrigen und ehrlichen Jungen, den er groß gemacht hatte, und in seinen melodramatischeren Augenblicken stellte er sich vor, dass Chief ihn bat, einen Mord zu organisieren.

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