Vorgeblättert

Leseprobe zu Carl-Henning Wijkmark: Nahende Nacht. Teil 3

06.08.2009.
Montezuma bekam zu meiner Linken keinen Nachfolger. Das war in gewisser Weise ganz in Ordnung, machte mich aber auch wütend, da ich monatelang hatte warten müssen, bis ich aufgenommen und operiert wurde, wegen Platzmangel, wie man mir mitgeteilt hatte. Ich fragte einen der Ärzte danach, aber auf Fragen dieser Art bekommt man hier keine ehrlichen Antworten.
Ich weiß noch, wie ich mich fühlte, als ich aus der Arztpraxis am Sveavägen trat, nachdem ich den entscheidenden Befund bekommen hatte. Lange stand ich auf dem Bürgersteig vor dem Hauseingang und sah den Verkehr vorüberziehen und all die ausdruckslosen Gesichter und begriff nicht, dass dies mir widerfahren war. Eine andere Gefahr war erst kürzlich vorbeigezogen und die kleinen Sorgen hatten wieder ihren Platz eingenommen, als wäre nichts passiert oder fast passiert. Da, genau in diesem Moment, schlug die Katastrophe aus einer völlig anderen Richtung kommend zu, aus der ich nicht mit ihr gerechnet hatte. Anschließend begann mein Warten auf die Operation, und erst als sich mein Zustand deutlich verschlechtert hatte, ja schon hoffnungslos geworden war, wurde ich in diese Klinik aufgenommen. Doktor Hansson operierte: schnitt auf, warf einen Blick hinein und nähte wieder zu. Es war nichts zu machen, das konnte ich mir denken, auch wenn Hansson es nicht ausdrücklich sagte. Er tat das Richtige, finde ich. Und geriet unverzüglich in einen Konflikt mit Möller, dem Stationsarzt, der anderer Ansicht war und meinte, der Patient habe auch in hoffnungslosen Situationen "das Recht auf", wie er sagte, "alle zugänglichen Informationen". Er kam zu mir, als ich aus der Narkose erwacht war, und begann, buchstäblich stehenden Fußes, mir einen Vortrag zu halten. Ich stoppte ihn. Ich will keine Prognosen hören, erklärte ich, die angeben, wie viel Zeit mir statistisch gesehen bleibt. Als ich noch gerettet werden konnte, hatte das Krankenhaus keinen Platz oder keine Zeit für mich. Jetzt will ich mit meinem Sterben in Frieden gelassen werden und so lange es eben geht von dem kleinen positiven Zweifel leben, den es trotz allem gibt. Das mag irrational sein, ist aber gut für die Seele. Geben Sie mir nur Morphium, wenn ich darum bitte, dann bin ich zufrieden. Ich werde nicht unnötig darum bitten.
Ich meinte, was ich sagte, und war froh, noch zu leben. Eine postnarkotische Euphorie, falls man das so nennt, spielte sicher auch eine Rolle und legte mir die trotzigen Worte in den Mund. Aber vor allem hatte sich mir beim Aufwachen ein wundervoller Anblick geboten; ich werde auf ihn zurückkommen.
Möller sah ein bisschen enttäuscht aus, und verärgert. In seiner ärztlichen Autorität beschädigt. Seit er den Raum betreten hatte, war er meinem Blick nicht begegnet, auch jetzt nicht. Er schaute hartnäckig auf sein Notebook, als er erwiderte, dass ich es sicher so empfand, weil ich mitgenommen war. Meine Meinung höchstwahrscheinlich jedoch ändern würde. Seine Art reizte mich, aber nach wie vor heiter und bestimmt bat ich ihn, bis auf weiteres alles, was ich "empfand", als eine Tatsache zu betrachten und zu respektieren. Er schlug sein Notebook mit einem Knall zu und verließ schnellen Schrittes den Raum. Ich hatte mir einen Feind gemacht, den letzten, wie sich zeigen sollte. Es entging mir nicht, dass mein Standpunkt als die Furcht betrachtet werden konnte, der Wahrheit ins Auge zu sehen, der Wahrheit über den größeren Feind. Es war die unsensible Art des Mannes, die mich provoziert hatte, seine Verachtung für den kleinen Menschen, der nur "Gefühle" hatte und "informiert" werden musste. Nicht zu seinem eigenen Besten, sondern um das Pflegepersonal zu entlasten und damit er nicht mit irgendwelchen besonderen Anstrengungen rechnete, die über die normale Standardbehandlung hinausgingen.
Doch wie ich schon sagte, nicht einmal Möller konnte ernsthaft ein bleibendes Glücksgefühl stören. Eine ganze Weile vor seinem Kommen, als ich aus meinem Dämmerzustand erwachend zum ersten Mal die Augen öffnete, bot sich mir ein hinreißend schöner Anblick; ich bezweifelte, dass er wirklich war. Dicht über mich gebeugt saß eine dunkle Frau, dunkeläugig, dunkelhaarig. Ich konnte sie anfangs nicht als Krankenschwester oder Ärztin identifizieren, sie trug nicht den üblichen weißen Kittel, sondern etwas Dünneres, Körperbetonteres. Meinen trüben Augen fielen ihre Schultern auf; sie drehte den Körper ein wenig, als wollte sie eine bequemere Sitzposition finden - keineswegs verführerisch, aber dennoch so, dass deren ergreifende Zerbrechlichkeit betont wurde. Ich hätte nicht schöner erwachen können, aber war ich wirklich wach und lebte? Wahrscheinlich, denn sie begann, sich um mich zu kümmern, zupfte das Kissen zurecht, nahm meine Hand und lächelte mit freundlichen Augen.
"Angela", sagte sie. "Entschuldigen Sie, dass ich nicht angeklopft habe."
Das war natürlich ein Scherz. Sie lächelte noch mehr.
"Wenn man wie Sie ist, braucht man das nicht." Die Worte kamen ganz von selbst und erstaunten mich. Leider klang meine Stimme etwas belegt, die Vokale waren nicht, wie sie sein sollten.
Sie hob die Augenbrauen und lachte. "Schlafen Sie noch etwas", sagte sie. "Der Arzt schaute dann später vorbei."
"Angela", murmelte ich. Aber sie war schon aufgestanden und aus meinem Blickfeld verschwunden, das sich erneut trübte. Ich schlummerte ein.
Das war im Aufwachraum gewesen, in dem ich alleine lag. Am nächsten Tag wurde ich auf Zimmer 5 verlegt.


Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Matthes & Seitz

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