Vorgeblättert

Leseprobe zu Carl-Henning Wijkmark: Nahende Nacht. Teil 2

06.08.2009.
Das Eigenartige an Monte war, dass er solch eine starke Präsenz hatte, obwohl wir ihn weder sehen noch hören konnten. Aber vielleicht war das auch gar nicht so eigenartig. In unserem todgeweihten Zustand waren wir besonders empfänglich dafür, was sich auf der anderen Seite des Vorhangs verbarg, und die Autorität seines Schweigens wurde durch unsere Furcht vor dem endgültigen Schweigen verstärkt. Es entstand ein Spannungsfeld um die abgeschirmte Ecke, und Monte bekam unausgesprochen die Rolle einer verborgenen, einer abgewandten Gottheit. Es lag in der Luft; ich merkte zudem, dass die Sache für keinen von uns nur ein Spiel war. Vor allem Börje war tief berührt. Der diskrete Kult bekam darüber hinaus eine Art Vermittler oder Propheten, als sich zweimal ein Besucher - offenbar ein Landsmann - einstellte. Es war ein hagerer, recht großer, junger Mann, der in unseren Augen indianisch aussah. Er hatte einen großen Rucksack aus braunem Leder dabei, dem er etwas entnahm, was mir kleine Holzfiguren zu sein schienen. Er verschwand mit ihnen hinter dem Vorhang, kehrte jedoch augenblicklich wieder zurück, trat rückwärts heraus, als wollte er dem Kranken nicht den Rücken zukehren, und seine Hände waren leer. Daraufhin stellte er sich unmittelbar vor den schmalen Spalt zwischen Fenster und Vorhang, die Arme vor der Brust verschränkt und die Füße eng zusammen in einer gleichsam ehrerbietigen Haltung, und sprach in die Ecke hinein zu seinem Landsmann. Ziemlich lange redete er in einer Sprache, die keiner von uns kannte, bekam jedoch, so weit wir hören konnten, keine Antwort. Als der Mann gegangen war, unterhielten wir uns, respektvoll flüsternd, über das Ganze, und damals, nach dem ersten Besuch seines Kameraden, spürte ich, dass Montes Gegenwart uns drei in einer unbestimmten, aber großen Ergriffenheit zusammenführte. Er war, auch wenn wir es nicht explizit dachten, ein Erlöser, ein Katalysator für unsere Situation. In unseren Gefühlen für ihn konnten wir einander begegnen, und so blieb es auch, nachdem er uns verlassen hatte.
Eine Woche verging, zwei Wochen: Monte schwieg und blieb unsichtbar. Nicht einmal Birgit und Angela, die wir mehrmals täglich sahen, wollten oder konnten uns erzählen, wer er war und woran er litt, außer, dass es ihm sehr schlecht ging. Wenn wir mehr wissen wollten, schüttelten sie nur den Kopf. Schließlich offenbarte er sich uns trotz allem, auf denkbar überraschendste Art.
Es war ein Abend, an dem wir in den zwei kleinen Apparaten, die an der Decke hingen, Eurosport guckten, einer für jedes Bettenpaar, aber vernetzt; was der eine Fernseher zeigte, das zeigte auch der andere. Börje schaute am meisten und bestimmte normalerweise das Programm. Das bedeutete sehr viel Sport, weniger um des Sports willen, sondern weil sich daraus die Möglichkeit ergab, Tipps abzugeben und mit uns anderen zu wetten. An diesem Abend hatten wir jedoch keine Lust und weigerten uns, Tipps für ein paar Eishockeyspiele abzugeben, die über den Bildschirm flimmerten. Er zappte ziellos weiter. Ich wollte gerade zum Schutz gegen den Fernseher und das grelle Septemberlicht meine Schlafmaske aufziehen, als ich sah, dass Börje zu einer der seltenen Kricketpartien umgeschaltet hatte. Das konnte durchaus amüsant sein, mir gefiel das gemächliche Trotten zwischen den Toren, also sah ich hin. Genau wie die anderen - für eine Minute. Börje hob die Fernbedienung, um weiterzuschalten, stellte stattdessen jedoch versehentlich lauter, woraufhin wir den Reporter rufen hörten: "Gordon Hart forty-nine, not out!" Anschließend verschwand das Kricketspiel und wir wurden zu einem Dressurreiten in Deutschland versetzt, das niemand sehen wollte. Stattdessen versuchten wir, den Bescheid des Kricketreporters zu deuten. Seine Worte mussten wohl bedeuten, dass sie gewonnen hatten, dass ihr Typ namens Hart nicht rausgeflogen war, schlug Harry vor. Börje und ich murmelten unsicher irgendetwas, womit sich das Thema erledigt zu haben schien. Doch da geschah es. Das Orakel murmelte.
"Hart still batting to-morrow." Eine leise, aber deutliche Stimme aus dem Inneren des grünen Zelts. Gefolgt von einem kurzen Glucksen, als hätte er etwas Lustiges gesagt. Das hatte er ja auch. Im Grunde waren wir erschüttert, aber das Wortspiel dämpfte den Schock ein wenig. Im nächsten Moment wurde uns bewusst, dass Monte nicht aus Lateinamerika stammen konnte, da dort kein Kricket gespielt wurde. So wenig, wie man dort Englisch mit indischem Akzent sprach. Ich machte ein paar unbeholfene Versuche, mit dem Unsichtbaren ins Gespräch zu kommen, die jedoch unbeantwortet blieben. Monte sprach nie mehr zu seiner Umgebung. Ein paar Tage später starb er.
Nach seinem Tod erzählte Angela uns, dass er von den Nikobaren stammte, einer indischen Inselgruppe, die seit zweitausend Jahren von mongolischen Kolonisten bevölkert wurde und vom Tsunami 2004 weitgehend zerstört worden war. Als größten Kenner ihrer fortgespülten Kult- und Kulturgegenstände hatte man Monte mit einem Assistenten nach Europa geschickt, um die von den Nikobaren stammenden Ausstellungsstücke, die in europäischen Museen eingelagert waren, zurückzufordern oder doch wenigstens zu fotografieren. Auf der Reise von Wien nach Stockholm hatte ihn eine tödliche Krankheit ereilt, man wusste nicht welche; daher das Getuschel um den weitgereisten Patienten.
Er starb nachts, und am Morgen, als Doktor Jan Möller der unsympathischste unserer selten gesehenen Ärzte - gerufen wurde, um den Tod festzustellen, spielte sich eine Szene ab, die großen Eindruck machte, vielleicht nicht unbedingt auf den Doktor, aber auf mich und die übrigen Anwesenden. Ein Krankenpfleger, den wir den Hulk nannten, rollte den toten Monte, der unter seinem Laken verborgen lag, hinaus. Möller blieb am Fenster stehen nd sah den beiden mit seinem teilnahmslosen, "professionellen Blick hinterher. Als das Gespann zwischen Harry und mir passieren wollte, tat Harry etwas Verblüffendes. Er versuchte sich aufzurichten, um dem Toten am Kopfende des Betts stehend die letzte Ehre zu erweisen. Er schaffte es nicht ganz, er wankte und musste sich hinsetzen. ber alle hatten seine Geste wahrgenommen, die in unserem tristen Zimmer doch sehr schön war. Der Doktor wirkte zunächst verblüfft, zog dann jedoch eine kleine professionelle Grimasse. Der Hulk blieb, ebenfalls verblüfft, einen Moment vor Harrys Bett stehen, begriff aber zumindest, dass etwas Bemerkenswertes vorging, das sah ich ihm an. Ich hätte gerne die gleiche Eingebung gehabt wie Harry, aber das war leider nicht der Fall. Der verlebte alte Penner erfüllte die Anforderungen an einen Gentleman; der Doktor und wir anderen nicht.
Seine schlichte, jedoch so mühsame Geste freute und rührte mich zutiefst. Es freute mich nicht zuletzt, dass mich die Krankheit noch nicht zu egozentrisch gemacht hatte, um mich von ihr rühren zu lassen. Aber im Grunde überraschte mich, was ich gesehen hatte, nicht, es passte zu Harry. Es gab etwas anderes an ihm, das mich umso mehr überrumpelte, aber es war so schnell vorüber, dass ich es zunächst nicht begriff. Als er sich mit einer Bewegung, die ihm schwer zugesetzt haben musste, in sitzende Position drehte, glitt ein Ärmel seines Nachthemds über den Ellbogen hoch und entblößte eine große, blaurote Narbe in der Armbeuge, wie von einer Brandwunde, vielleicht war es auch nur ein Muttermal. Sie bedeckte die Beuge und etwa zehn Zentimeter um sie herum, und als Harry reflexartig den Arm einknickte, um sie zu verbergen, wurde die verfärbte Haut wie eine Ziehharmonika in Falten gelegt. Es war ein heftiger visueller Schock. Ich dachte nichts, es ging direkt in den Körper: ein Vorbote
der Auslöschung, die uns erwartete, der Vernichtung durch Feuer.
Diese Szene, in der so viel geschah, war binnen weniger Sekunden vorüber. Der Tote mit seinem rätselhaften Charisma war fort, der Doktor schlich wortlos zu seinem Computer. Und Börje? Er verzog keine Miene, aber die Tränen liefen. Er hatte verstanden, und ich selbst verstand endlich, dass er nicht irgendwer war. Sein unscheinbares Äußeres und den etwas flapsigen Jargon hatte ich als Konformität gedeutet, meine Vorurteile hatten mich irregeleitet. Unter der Spieler- und Biertrinkerfassade war er womöglich der sensibelste und - wie ich später erkannte - mit Sicherheit der Unglücklichste von uns dreien in Zimmer 5.

Teil 3
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