Vorgeblättert

Leseprobe zu Beliban zu Stolberg: Zweistromland

IX.

Das Video ist nur wenige Sekunden lang. Es ist Januar, und eine Mutter in Diyarbakır sucht seit Monaten nach ihrer Tochter. Sie vermutet, die Tochter sei bei einer Explosion in der Altstadt gestorben, ihr Körper liege unter den Trümmern. Doch die Gassen sind abgeriegelt, und niemand darf hinein. Die Mutter hat Briefe geschrieben und sich an die Medien gewandt. Sie glaubt nicht, dass ihre Tochter noch lebt, aber sie will ihren Körper bergen lassen.
     Ihr Klagelied hallt durch die Gassen. Die Aufnahme ist verwackelt. Ton und Bild sind nicht synchron. Ihr Lied erklingt schon, bevor die verpixelte Mutter ihren Mund öffnet. Es endet, während ihre Lippen noch geöffnet sind.


X.

Wir sind bereits seit sechs Stunden unterwegs, und es ist spät in der Nacht, als es zum ersten Mal passiert. Der Bus hält, das Licht geht an. Ich habe gedöst, es dauert einen Moment, bis ich mich orientiere. Das Aufwachen geht durch die Reihen, Menschen gähnen und strecken sich. Der Fahrer öffnet die zischende Tür, und zwei Soldaten in voller Montur treten ein. Um ihre Schultern baumeln Maschinengewehre. Sie wechseln vorne ein paar Worte mit dem Fahrer, ich recke den Kopf. Einer der Soldaten geht durch den Bus und sammelt die Ausweise ein. Als er vor mir steht, gebe ich ihm meinen deutschen Personalausweis. Der Soldat nimmt den Ausweis und hält ihn gegen die Deckenlampe, als ob er ihn auf seine Echtheit prüft. Dann steckt er ihn ein und geht weiter. Als er alle Ausweise an sich genommen hat, stößt er zu seinem Kollegen, der stumm vorne gewartet hat, die beiden steigen aus und werden von der Dunkelheit verschluckt. Wir warten. Der Platz neben mir ist frei, auf dem Sitz mir gegenüber sitzt eine Frau in meinem Alter, die ihr Kind auf dem Arm trägt. Es wimmert leise vor sich hin, die Soldaten haben es geweckt, und die Frau wiegt das Kind zurück in den Schlaf. Ich rutsche auf den leeren Platz neben mir und beuge mich zu ihr vor.
     »Was ist los?«, frage ich.
     Sie schaut zu mir hoch, und im Zwielicht des Busses sind ihre Augen schwarz. Als sie antwortet, spricht sie so leise, dass ich es kaum verstehen kann.
     »Routinekontrollen«, sagt sie.
     Sie sieht aus wie eine Frau vom Land. Das, was ich von ihrem Gesicht erkennen kann, wirkt jung und sanft und weich und vielleicht etwas einfach. Ich vertraue ihr sofort und hinterfrage das Vertrauen doch, denn ich spüre schon, ich bin auf unbekanntem Terrain. Ich habe kein Koordinatensystem für das, was hier passiert, und vielleicht ist mein Vertrauen gefährlich. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in eine Militärkontrolle gerate.
     »Ist das wegen der Anschläge?«, frage ich.
     Ihre schwarzen Augen springen zur Seite und dann wieder zurück zu mir, und sie nickt kurz. Sie streicht dem Kind über den Kopf, wie um sich seiner zu versichern. Meine Hand fährt über den Bauch. Ruhe bewahren, die Ruhe in meiner Brust halten, wie man einen Kern in der flachen Hand hält. Die Frau dreht sich von mir weg und legt den Kopf an die dunkle Scheibe. Die Soldaten schlendern wieder herein. Sofort richte ich meinen Rücken auf, es knackt in meinem Nacken. Der eine bleibt wieder vorne stehen, während der andere durch den Bus bis ans Ende geht und beginnt, die Ausweise wortlos ihren Besitzern auszuhändigen. Als er bei mir ankommt, hält er an. »Mitkommen«, sagt er. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie die Frau sich zu mir dreht. Sie drückt die Hand auf den Kopf des Kindes, und ich spüre, sie verfolgt jede meiner Bewegungen, als ich aufstehe.
     »Haben Sie noch ein anderes Dokument?«, fragt der Soldat.
     Ich krame den Reisepass aus der Tasche und halte ihn dem Soldaten hin. Er dreht sich um und geht vor, und ich folge ihm nach draußen. Niemand außer mir wird rausgezogen. Er geht voraus, es ist dunkel, ich achte auf meine Schritte. In der Ferne kann ich die Umrisse der Bergketten erkennen, sie säumen die Straße, die wie eine Schneise in den Stein eingelassen ist. Der Soldat führt mich zu einer Art Lager. Ein paar elektronische Leuchten sind darum herum verteilt, die eine Ansammlung von Sandsäcken erhellen. Die Sandsäcke sind in einem Viereck aufgestapelt und verbergen die Sicht auf das, was dahinter ist. Sie erinnern mich an ein Iglu. Für einen Moment erlaube ich mir diesen absurden Gedanken, ein Iglu in der Hitze des Ostens, und wie schnell es schmelzen würde unter der Sonne. Vor dem Eingang des improvisierten Lagers steht zu jeder Seite ein Soldat mit Gewehr. Ein paar Schritte hinter dem Eingang gibt es noch mehr Lampen. Riesige Motten flattern um sie herum, sie landen gierig auf den Glühbirnen, und dann zerreißt ein widerliches Geräusch von versengendem Haar und Fleisch die Luft. Die Härchen auf meinem Arm stellen sich auf, die Motten fliegen nach oben, um sich gleich darauf wieder herunterzustürzen und ihre Leiber zu verbrennen. Das Kind in mir ist still. Der Raum zwischen den Sandsäcken ist größer, als ich erwartet habe. Ein Zimmer ohne Dach. Die Einrichtung des Zimmers besteht aus Staub und Steinen und einem Schreibtisch in der Ecke. Ein richtiger Schreibtisch aus Nussbaum. Darauf ist eine Leselampe geklemmt. Ein aufgeklappter Laptop steht darauf, daneben sind ordentlich gestapelte Dokumente und Akten. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein Mann in Uniform, sein spitzes Gesicht wirkt streng, aber da ist noch etwas anderes in seinem Ausdruck. Als ich näherkomme und das Licht über ihn fließt und er den Kopf hebt, sehe ich, dass es Häme ist. Abzeichen auf seinen Schultern. Ich kenne mich mit militärischen Rängen nicht aus, aber er scheint in seiner Laufbahn viele Auszeichnungen gesammelt zu haben, also nenne ich ihn einen General. Der General greift meinen Pass, ohne mich anzusehen oder mit mir zu sprechen. Er starrt in den Laptop, das blaue Licht mischt sich auf seinem Gesicht mit dem Weiß der Leuchten. Er sieht müde aus, und ich frage mich, wie lange die Soldaten hier schon ausharren, hinter den Sandsäcken. Der General schlägt meinen Reisepass auf, er tippt etwas in den Laptop. Ohne den Blick zu heben, beginnt er, meine Daten vorzulesen. Meinen Namen, Geburtstag, Wohnort, er liest so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann.
     »Gemeldet bin ich in Deutschland, aber ich wohne in İstanbul«, sage ich.
     Das interessiert ihn, denn er schaut auf, und sein Ausdruck ist hämisch.
     »Warum wohnen Sie in İstanbul?«, fragt der General.
     »Ich arbeite dort. Ich arbeite in einer Kanzlei für internationales Wirtschaftsrecht«, sage ich.
     Er kräuselt die Nase und es dauert einen Moment, bis ich verstehe, dass es ein Lächeln sein soll.
     »Und was macht eine studierte Deutsche auf dem Weg in den Osten?«, fragt er und benutzt das Wort Almancı und meint damit, dass ich hier nichts zu suchen habe. Ich habe nicht damit gerechnet, befragt zu werden, das war naiv, das merke ich jetzt, aber es ist zu spät, ich hätte mir vorher eine Geschichte zurechtlegen und eine Antwort ausdenken sollen. Weil meine Hände zittern, lege ich sie auf dem Bauch ab, und das Kind windet sich etwas, und mir wird schwindelig.
     »Meine Mutter liegt dort begraben. Und ich wollte ihr Grab sehen, bevor mein Kind auf die Welt kommt«, sage ich.
     Der General zieht eine Augenbraue hoch, sein Blick gleitet über meinen Körper und bleibt bei meinem Bauch hängen, er bleibt dort einen Moment zu lange, aber ich gönne ihm nicht die Genugtuung, meine Scham zu sehen, und als er mich wieder ansieht, versuche ich, ernst und fest zurückzublicken, so wie mein Vater früher geschaut hat. Ob ich es hinbekomme wie er, weiß ich nicht.
     »So, so«, sagt der General. Meine Wangen sind feucht. Die prüfende Hand auf meinem Gesicht bestätigt meine Vermutung; ich weine. Die Nässe der Tränen auf meinen Fingerspitzen glänzt im Licht der Leuchten. Der General betrachtet meine feuchten Finger mit dem gleichen Interesse. Es ist das erste Mal seit dem Tod meiner Mutter, dass ich weine. Mein Körper hat sich den denkbar schlechtesten Moment dafür ausgesucht.
     »Sie ist noch nicht lange tot«, sage ich als Erklärung. Der General räuspert sich. Er schaut zurück in seinen Laptop und dann auf meinen Ausweis.
     »War ihre Mutter Kurdin?«, fragt er.
     »Wir haben in Deutschland gelebt. Ich weiß nur, dass sie dort begraben ist«, sage ich.
     »Aber Sie haben einen kurdischen Vornamen«, sagt er.
     »Ja, nach irgendwem aus der Familie«, sage ich.
     »Sprechen Sie Kurdisch?«, fragt er.
     Beinahe muss ich lachen, aber ich beherrsche mich, und außerdem fließen immer noch Tränen, und ich weiß nicht, ob man lachen und weinen gleichzeitig kann. Vielleicht kann man es hier, im Osten dieses Landes.
     »Nein«, antworte ich wahrheitsgemäß.
     »Und Ihre Eltern, haben die Kurdisch gesprochen?«, fragt er.
     »Bei uns wurde Türkisch gesprochen. Oder Deutsch«, sage ich.
     »So, so«, sagt der General.
     Auf dem Holz im Schreibtisch des Generals sind ein paar Schnitzer. Vielleicht ist er mit einem Brieföffner darauf abgerutscht. Ich würde ihn gern fragen, wie sie den Schreibtisch hergebracht haben. Ob jemand mit einem Laster gekommen und ihn aus seinem Büro in der Stadt abgeholt, ihn eingeladen und hierher gekarrt hat, in die Wildnis zwischen den Bergen, ein paar Stunden vor Diyarbakır. Ob zwei Männer ihn in diese Ecke getragen haben, und der General hat gesagt, nein, etwas mehr nach links. Jetzt steht der Schreibtisch hier, versteckt hinter Sandsäcken. Ich würde auch gerne fragen, ob es ratsam ist, sich hinter einem Lager aus Sandsäcken zu verstecken, weil man sich damit doch so klar als Teil des Militärs markiert. Aber ich weiß zu wenig über das Militär und über Kriegsführung, als dass ich das bewerten könnte. Hinter mir steht noch immer der Soldat, der mich aus dem Bus geholt hat, und um seine Schultern ist das Maschinengewehr geschlungen.
     »Eine Frau allein in Diyarbakır zu dieser Zeit, das ist nicht gut«, sagt der General.
     Er sieht zu dem Soldaten.
     »Austreten«, bellt der General. Ich schaue zurück, der Soldat dreht sich mit einem Ruck um und verlässt das Lager. Der General und ich sind allein. Wir lauschen den knirschenden Schritten auf dem Kies. Dann winkt er mich zu sich heran. Ich stehe schon vor dem Schreibtisch, also kann er nur meinen, dass ich mich zu ihm vorbeugen soll. Sein Gesicht ist nah vor meinem.
     »Hören Sie. Wenn Sie nicht unbedingt müssen, fahren Sie nicht dorthin. Kehren Sie um. Es ist gefährlich«, sagt er.
     »Wieso ist es gefährlich?«, frage ich.
     Er schnalzt genervt mit der Zunge, und ich muss an meine Mutter denken und wie verärgert sie war, wenn ich als Kind zu viele Fragen gestellt habe.
     »Sehen Sie keine Nachrichten?«, fragt er.
     »Es scheint alles unter Kontrolle zu sein«, sage ich. Ich denke an mein Handy in der Tasche im Bus, nur ein paar Meter entfernt, und ich bin froh, dass ich gewissenhaft meinen Browserverlauf gelöscht habe, obwohl mir das in einem Ernstfall auch nicht helfen würde.
     Der General starrt mir direkt in die Augen, und dann erkenne ich, dass er sich wirklich wünscht, dass ich umkehre. Vielleicht hat er in seinem Leben Dinge getan, die er bereut, und sieht in mir die Chance, etwas wieder gutzumachen. Leider kann ich ihm nicht dabei helfen, sein Gewissen zu erleichtern.
     »Ich muss einmal ihr Grab sehen. Wer weiß, wie lange das noch geht, wenn es so ist, wie Sie sagen. Wissen Sie, ich habe es ihr versprochen, dass ich mein Kind dort hinbringe, und ich kann dieses Versprechen einfach nicht brechen«, sage ich.
     Meine Stimme ist jetzt hoch und sanft, weil ich mir denke, dass er das weiblich findet, und vielleicht weicht ihn das etwas auf. Seine Finger trommeln auf dem Schreibtisch herum. Wenn er will, hat er sicherlich seine Mittel, um mir den Weg in die Stadt mit dem rollenden Klang zu versperren. Ich wische mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und richte meinen Rücken auf. Zwischen dem General und mir ist wieder eine angemessene Distanz. Er mustert mich noch einmal, dann zuckt er mit den Schultern.
     »Als meine Mutter gestorben ist, musste ich ihr versprechen, niemals aus unserem Haus auszuziehen. Sterbende kommen auf seltsame Ideen«, sagt er. Ich nicke und stimme ihm wirklich zu. Er händigt mir meinen Reisepass und meinen Ausweis wieder aus.
     »Gehen Sie in ein teures Hotel. Aber nicht das teuerste. Vier Sterne«, sagt er.
     Dann reckt er den Hals und schreit an mir vorbei: »Zurückbringen!«
     Der Soldat erscheint hinter den Sandsäcken und stellt sich neben mich. Ich nicke dem General zu. Der Soldat geht voraus, ich folge ihm ein paar Schritte, bevor ich mich noch einmal umdrehe.
     »Und, leben Sie noch in dem Haus?«, frage ich.
     »Nein. Hab’s verkauft«, sagt der General.
     Ein letzter Blick zwischen ihm und mir, und für einen Moment bin ich mir sicher, dass er mich durchschaut hat, aber jetzt drehe ich mich zum Ausgang aus dem Zimmer im Nichts. Der Soldat geht vorund gäbe es Wind, würde sein breites Kreuz mich davor schützen. Er bringt mich zurück zum Bus, wo er an die Scheibe klopft, und der Fahrer öffnet. Ich setze mich auf meinen Platz, die Frau neben mir blickt mich an, aber ich schaue nicht zurück, mein Blick geht raus, in die Dunkelheit. Meine Hände zittern noch eine halbe Stunde später. Bis wir Diyarbakır endlich erreichen, kommen wir in vier weitere Kontrollen. Bei jeder werde ich in Ruhe gelassen. Trotzdem schnellt mein Puls in die Höhe, sobald die Soldaten in den Bus kommen, und jedes Mal denke ich an den Blick zwischen dem General und mir, und ich habe Angst, dass er in der letzten Sekunde doch alles verstanden hat. Dass er mich durchschaut hat.


XI.

Die Luft in Diyarbakır flirrt. Kleine, silberne Partikel schwirren herum, sie glänzen in der Sonne. Als ich aus dem Taxi steige und aufs Hotel zugehe, sehe ich sie zum ersten Mal. Meine Handflächen sind nach außen gekehrt, so wie bei meinem Vater vor vielen Jahren in einer Nacht im Sommer. Winzige Flocken rieseln herab, setzen sich auf meine Haut. Ein geräuschloser, grauer Regen. Er fällt auf Dächer, auf Straßen.
     Das Hotel, vier Sterne, so wie vom General empfohlen, befindet sich zwischen Bürogebäuden und Einkaufsläden. Die Pension trägt den Namen »New Tigris Hotel«. Ausgerechnet. Die Altstadt von Sur, in der es bis in den März Kämpfe gab, ist einige Kilometer entfernt. Obwohl nicht mehr geschossen wird, habe ich mich nicht getraut, ein Hotel in der Altstadt zu nehmen.
     An der Rezeption begrüßen mich misstrauische Augen. Anstatt auf die Fragen zu warten, wieso sind Sie hier, kommen Sie aus Deutschland, sind Sie allein, werfe ich das Geld auf den Tresen und reiße den Schlüssel an mich. Mein Zimmer ist zur Straße ausgerichtet und daher laut. Die Konya-Ruhe ist vorbei. Das Kind ist aufgeregt und neugierig. Seit wir in der Stadt angekommen sind, bewegt es sich mehr. Das Kind will hinaus, will nach Sur, in die Altstadt, und ich folge seinem Ruf, obwohl ich ängstlich bin und mich haltlos fühle. Mit dem Dolmuş, dem Sammeltaxi, würde es nur eine Viertelstunde dauern, aber das Kind will, dass ich zu Fuß gehe. Es will, dass ich alles ansehe.
     Die Hauptstraße führt vorbei an Hochhäusern, endlosen Fluchten, an Simit-Bäckern und Frühstückshäusern, an Möbelgeschäften, Elektronikhändlern und Cafés, vorbei an vermüllten Brachen, an Parks und Moscheen. Die Hitze ist gnadenloser als in İstanbul, und nach, wenigen Minuten rinnt mir der Schweiß. Auf meinem Weg in Richtung der Altstadt sehe ich zwischen den Familien, Männergruppen und Frauen mit ihren Kindern häufiger Menschen in kurdischer Kleidung, den weiten Hosen und breiten Taillengürteln. Ab und zu tauchte jemand in solchen Kleidern in den İstanbuler Straßen auf, nur um direkt wieder zu verschwinden. Hier gehört diese Kleidung zum Stadtbild. Das Kind und ich lauschen. Kurmancî dringt in Gesprächsfetzen von vorüberziehenden Grüppchen heran, hallt als Ruf durch die Straße, es wird viel hier gesprochen. Irgendwann jedoch wird es von einem Donnern überdeckt. Zwei  Militärhubschrauber durchkreuzen den Himmel, sie fliegen dröhnend über die Stadt hinweg.

Nah an der Altstadt zweigt eine Gasse von der Hauptstraße ab. Sie öffnet sich eng und schattig, ich biege hinein und stehe vor einem großen Gebäude. Das Haus ist aus weißem Stein und schwarzem Basalt gebaut, im Stil, für den Diyarbakır bekannt ist. Seit Jahrtausenden wird der Basalt, hergestellt aus der Lava des Schildvulkans Karacadağ, in der Region benutzt. Ich habe über dieses Material gelesen, nachdem ich auf die Dokumentation der zerstörten Altstadt gestoßen bin. Auf den Bildern, die ich im Schutz der Wohnung in İstanbul verfolgt habe, war der Basaltstein aufgerissen von Einschusslöchern. Die Fassade des Hauses, vor dem ich jetzt stehe, ist unversehrt.
     Da sehe ich sie wieder. Die Partikel, die in der Luft schweben. Die Hitze hat meine Haut geöffnet, die Partikel dringen in meine Poren. Zwischen den Fingern zerstäuben sie schwarz und klebrig. Es ist Asche. Asche, die vom Himmel herabrieselt. Wieder sind Militärhubschrauber im Himmel, sie bringen die Luft zum Beben mit ihren insektenartigen Bewegungen. Die Asche scheint aus ihnen zu fallen, oder sie wird von ihnen aufgewirbelt, irgendeine Verbindung muss es geben. Sie fällt auf die Gesichter der Menschen, die an mir vorüberziehen, einem Mädchen zerschmilzt sie auf der Iris, es kümmert sie nicht. Niemand außer mir scheint sie zu bemerken, oder die Menschen sind schon lange an sie gewöhnt.
     Die Hubschrauber donnern über die Dächer hinweg, sie ziehen wohl in die Berge, wo sich die Kämpfer noch immer verstecken. Der Lärm der Rotoren jagt grelle Nervosität durch meinen Körper. Alles ist neu. Sogar die Farben erscheinen mir in einer Schattierung, die ich nicht kenne. Braun, Khaki, Schwarz, gedämpft und warm. Über den Läden blinken neonfarbene Leuchtreklamen. Alles kommt mir unwirklich vor, weil ich es bis jetzt nur auf Bildschirmen gesehen habe. Die Aufregung zieht meine Beine hinauf, strahlt durch meine Wirbelsäule. Mein Körper spürt, dass er sich in einer neuen, unsicheren Situation befindet, für die er keine Erfahrungen hat. Ohne Orientierung und fremd an einem Ort, an dem mich niemand kennt. Ich würde gern mit jemandem sprechen. Mit meinem Vater. Hätte ihn gern an meiner Seite, denn er kennt diese Stadt, auch wenn er lange nicht hier war.
     Durch die Altstadt führt eine lange Straße, von der links und rechts kleine Gassen abzweigen. Buntes Plastik, Schüsseln, Eimer, Möbel sprudeln aus den Geschäften auf den Gehweg. Taschen- und Schuhläden reihen sich aneinander, und dazwischen sind Essensstände, auf deren Grills Maiskolben und Fleisch gebraten werden. Menschen drängen sich, ihre Einkaufstaschen schlagen gegeneinander. Die Salep- und Eisverkäufer rufen, um Kundschaft anzulocken. Von überallher dringen Stimmen, Türkisch, Kurdisch, etwas Arabisch, nur Englisch höre ich nicht. Bis auf die Plastikabsperrungen, die man in einigen Gassen erspähen kann, deutet nichts darauf hin, dass noch vor einigen Monaten Blut durch eben diese Gassen geflossen ist. Die Absperrungen verdecken notdürftig die Spuren des Krieges.
     Niemand sieht mir ins Gesicht. Die Menschen senken den Blick, sobald sie einander begegnen. Vielleicht empfinde auch nur ich es so, vielleicht weiß ich nicht, wie lange man den Blick der anderen in dieser Stadt hält, vielleicht verraten meine Augenbewegungen mich als Fremde. So war es am Anfang in İstanbul, als eine Arbeitskollegin mir den Rat gegeben hatte, die Kellner bei Geschäftsessen nicht so intensiv anzusehen, am besten solle ich sie ignorieren, das würde Stärke ausstrahlen.

Ein Panzer rollt an mir vorbei, gefolgt von einem zweiten. Es werden mehr, sie bevölkern das ganze Zentrum. Wer sie fährt, sieht man nicht, die Männer darin sind verborgen von dickem Metall, dunkelgrün bemalt, und so wirkt es, als führen die Panzer von allein, als seien sie eigenständige Wesen, die stumm neben den Menschen leben. Sie fügen sich ins Stadtbild ein wie der schwarze Basaltstein.
     Sie sind keine Ausnahme. Die anderen schenken ihnen keine Beachtung, navigieren um sie herum. Ich habe noch nie Panzer gesehen, nicht so nah, nicht mitten auf der Straße. Sie verstärken das Gefühl von dumpfer Panik, das ich spüre, seit ich in der Stadt bin. Mein Körper zieht zurück ins Hotel. Er will weg aus dieser Unsicherheit. Ich zwinge mich, weiterzugehen. Auf der Erde die Panzer, in der Luft die Hubschrauber, in den Gassen Soldaten. Ihre Maschinengewehre um die Schultern geschlungen, patrouillieren sie vor Geschäften und vor Sehenswürdigkeiten, vor dem vierbeinigen Minarett, der alten Karawanserei, vor den Moscheen, der armenischen Kirche. Die jungen Militärs gehen zu zweit oder zu dritt, schnauzbärtig und schwarzhaarig und Arm in Arm. Ihr Gang ist aufrecht. Ihre Blicke ernst und stolz. Die undurchdringliche Maske der staatlichen Macht verdeckt ihre Gesichter. Ihre Namen, Wünsche, Zweifel, Erinnerungen verschwinden hinter der Uniform, und ihre Schritte lassen keine Fragen zu, schließlich marschieren sie im Namen des Staates durch die Stadt. Einige sind erst knapp über achtzehn. Sie sehen mich nicht an. Als schwangere Frau bin ich wohl unsichtbar für sie. Ich frage mich, was der General über sie denkt, der nun sicherlich zu Hause ist, vielleicht lebt er auch hier, zwischen den Halbstarken in Uniformen und Panzern.
     Mir fällt die Karte ein, die ich in den Nachrichten gesehen habe, als ich noch in İstanbul war, darauf waren Diyarbakır und die umliegende Region rot gekennzeichnet, das unbegehbare Gebiet, der Fremdkörper, das Geschwür an einem sonst gesunden Körper.

Von der Hauptstraße zweigen Bazare ab, ich schlüpfe in einen hinein, um zu überprüfen, ob sie anders sind als die in İstanbul. Das sind sie. Sie folgen einer anderen Ordnung. Nach einer Weile habe ich die Orientierung verloren und muss eine Verkäuferin nach dem Ausgang fragen.
Sie lacht und erklärt ihn mir, und als ich wieder auf die Hauptstraße komme, erinnere ich mich daran, wieso Umwege gefährlich sind. Aber ich spüre, dass dieses Prinzip in mir zu verblassen beginnt.
     Draußen rieselt mir die graue Asche aus den Haaren. Sie segelt auf den Pflasterstein, der längst von ihr bedeckt sein müsste, doch er ist es nicht. Die Asche scheint auf dem Boden zu schmelzen wie Schnee.

Die Touristen gehen in die ehemalige Karawanserei, Hasan Paşa Hanı, also folge ich ihnen. Auf zwei Etagen erstreckt sich die Serei, sie ist ein offenes Forum, über das weiße, zerschlissene Planen gespannt wurden. Drinnen ist es kühler, die Steinwände halten die Hitze ab. Früher sind hier Händler auf ihrem Weg nach Syrien oder Europa eingekehrt. Unten gibt es Cafés mit Holzschemeln, die überall verteilt sind, oben auf der Galerie kann man frühstücken, und das tun viele Menschen. Familien, Paare, Geschäftspartner. Das Kind will, dass ich mich an einen der Tische setze und etwas zu essen bestelle, es hat Hunger, und es hat Sehnsucht danach, dass ich mit jemandem spreche, aber ich schaffe es einfach nicht nach oben, dafür habe ich keine Kraft. Die Schemel unten sind gut, ihr dunkles Holz fest und sicher. Hier sitze ich und trinke Tee. Es ist der erste Moment, in dem ich zur Ruhe komme, seit ich in Diyarbakır angekommen bin. Jetzt erst merke ich, dass ich die ganze Zeit flach und schnell geatmet habe, und die Luft nicht bis in den Bauch kam, daher atme ich tief ein und fülle meine Lungen.
     Ab und zu höre ich Kurdisch. Es rollt mühelos aus den Mündern der Menschen, die Sprache gehört ihnen, wie sie meinen Eltern gehört hat, und während die nächste Stunde anbricht und neue Menschen in das Café spült, sitze ich und lausche.
     Es kommen Touristen, aber auch Stadtbewohner. Keiner bleibt so lange wie ich, und allein ist auch kaum jemand, vor allem keine Frau, vor allem keine Schwangere. Ich bin hierhergekommen, um nicht aufzufallen, aber mir wird bewusst, dass ich überall in der Stadt auffallen werde, sogar an den touristischsten Orten. Der Kellner bemerkt,dass ich nicht hierhergehöre. Er sieht es, aber er lässt es ungesagt und bringt mir einfach weiter Tee, der immer dünner wird. Ich weiß nicht, ob es ein Zeichen der Akzeptanz ist oder eine Aufforderung zu gehen.

Trotz des Stimmengewirrs liegt über uns eine Decke, und selten hört man ein Lachen. Die Menschen vermeiden es, einander in die Augen zu sehen.
     Die Karawanserei ist eine Bühne. Was bleibt nach der Angst, wenn nicht die Wiederaufnahme des ältesten Repertoirstückes: Weitermachen.


Mit freundlicher Genehmigung des Kanon Verlags.

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