Vorgeblättert

Leseprobe zu Andrew Miller: Friedhof der Unschuldigen. Teil 3

15.07.2013.
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In der Kirche fällt das Licht eines Pariser Morgens in dünnen, grauen Strängen aus hohen Fenstern, ohne jedoch viel gegen die immerwährende Dämmerung im Gebäude auszurichten. Schwarze oder nahezu schwarze Pfeiler erheben sich wie die Überreste eines versteinerten Waldes, ihr oberes Ende verliert sich in Baldachinen aus Schatten. In den Seitenkapellen, wo seit fünf Jahren keine Kerze mehr entzündet worden ist, hat sich die Dunkelheit gleichsam zu Wächten angehäuft. Heilige, Madonnen, Christkinder, sämtliche großen, zweitrangigen Gemälde von Märtyrertod, von Tauben, die auf wohlfrisierten, italienisch anmutenden Köpfen landen, die verschlossenen Reliquiare mit ihren Knöchelchen oder Splittern vom heiligen Kreuz, das alles könnte genausogut nie existiert haben, so gründlich ist es jetzt verborgen.
     Die Orgel (drei Manuale, vierzig Register), von einem Deutschen gebaut und sehr alt, befindet sich am Nordschiff, an der Seite der Kirche, die entlang der Rue aux Fers liegt, wo diese in die Rue Saint-Denis übergeht. Die Tür zur Empore - ungefähr ein Drittel so hoch wie eine normale Haustür - steht offen, und aus ihr kommt, von Husten und Räuspern angekündigt, der Kopf eines Mannes. Er hält dort inne, genau wie ein Hund zögern würde, bevor er ein unsicheres Stück offenen Raum durchquert, dann verschwindet er wieder in der Empore, um einen Moment später von zwei langen Beinen ohne Stiefel abgelöst zu werden, denen ein ausladendes, in eine Hose gezwängtes Hinterteil, dann der Oberkörper und schließlich abermals der zerzauste Kopf folgen.
     Es gibt keine Leiter - irgendwer hat sie als Feuerholz verwendet -, und der Mann rutscht herab, lässt sich von der Tür der Empore heruntergleiten, bis seine Zehen eine behelfsmäßige Stufe aus Gebetbüchern, Bibeln mit rissigen Einbänden und Heiligenleben berühren (er hat Freunden gegenüber schon viele abgeschmackte Witze darüber gemacht, dass er auf der Leiter der Religion in den Himmel der Musik klettere). Auf den Steinplatten des Bodens angelangt - seine Füße stehen auf dem Grab eines Barons Soundso, dessen Frau und mehrerer dahingeschiedener Kinder -, klopft er sich ab, spuckt Ruß in ein Taschentuch, zieht seinen Rock an und setzt sich an den Spieltisch. Er lässt die Knöchel knacken; unterm Dach wird ein fahler Vogel aufgeschreckt und flattert los. Selbst bei diesem Licht zeigt das Haar des Mannes einen leichten Kupferschimmer. Er zieht Register. Trompette, tierce, cromorne, voix humaine. Auf dem Notenpult hat er Gigaults Livre de Musique und daneben ein Heft mit Kantaten von Clérambault, aber um Noten lesen zu können, brauchte er Kerzen, und er macht sich nicht die Mühe, welche anzuzünden. Er hat eine Kerze im Kopf, mehr Licht braucht er nicht, und er beginnt aus dem Gedächtnis ein Trio von Couperin zu spielen, Rückgrat und Hals leicht nach hinten gebogen, als wäre die Orgel eine sechsspännige Kutsche und er preschte mitten durch Les Halles, dass Gänse, Kohlköpfe und alte Frauen auseinanderstieben.
     Es ist kein Geräusch zu hören, nichts als das dumpfe Klacken der Tasten und das Trapsen der Pedale. Er hat keine Luft, obwohl es für Couperin mehr als Luft brauchte - die alte Orgel ist dem wirklich nicht mehr gewachsen. Für andere Stücke, die verzogenes Metall und altes Leder weniger beanspruchen, nimmt er sich ab und zu einen Träger vom Markt, damit er den Blasebalg betätigt, oder den großen, stummen Jungen, der sich in der Rue Saint-Denis herumtreibt. Dann wird Les Innocents fast in den Wahnsinn getrieben, die Messingadler, die zerschlissenen Fahnen, die Millionen von Gebeinen in den Krypten, das alles bekommt ein paar Minuten lang gewaltsam so etwas wie Leben eingehaucht. Das ist seine Aufgabe - es gibt keinen anderen Grund zu spielen: Es kommt keine Gemeinde zusammen, es werden keine Messen gelesen, keine Trauungen gefeiert und schon gar keine Beerdigungen abgehalten. Aber solange er spielt und solange der Priester, dieser abgezehrte alte Soldat Christi, hier herumgeistern darf, so lange behält Mutter Kirche ihren Anspruch auf Les Innocents, einen Anspruch, den sie, wie Ansprüche überall, gegen einen handfesten Vorteil eintauschen kann.
     Er spielt Oktavsprünge, moduliert wie rasend, die kreideweißen Finger tanzen auf der Jagd nach Couperins Hirschkalb über die Tasten, als er hört - das kann doch nicht sein! -, wie die Tür in der Nordwand geöffnet wird. Der Priester, wenn er die Kirche überhaupt einmal verlässt, kommt und geht auf andere Weise, aber wenn es nicht Père Colbert ist, wer dann?
     Er dreht sich auf der Bank herum, schaut mit zusammengekniffenen Augen bis zu der Stelle, wo in der offenen Tür zur Rue aux Fers ein Mann steht. Ein Mann, ja, ein junger Mann, aber der Organist, der die meisten Gesichter im Viertel kennt, kennt ihn nicht.
     "Kann ich Ihnen helfen, Monsieur?"
     Der Eindringling verhält mitten in der Gehbewegung. Er dreht den Kopf, will sehen, woher die Stimme kommt.
     "Sehen Sie die Pfeifen? Gehen Sie darauf zu. Gleich sehen Sie mich … Ein Stückchen noch … Noch ein Stückchen … Da! Ein Wesen aus Fleisch und Blut, genau wie Sie. Ich bin Armand de Saint-Méard. Organist an der Kirche der Unschuldigen."
     "Ein Organist? Hier?"
     "Da ist die Orgel. Da ist der Organist. Es gibt wirklich keinen Grund, sich zu wundern."
     "Ich wollte Sie nicht -"
     "Und Sie, Monsieur? Mit wem habe ich die Ehre?"
     "Baratte."
     "Baratte?"
     "Ich bin der Ingenieur."
     "Ah! Sie sind gekommen, um die Orgel zu reparieren."
     "Zu reparieren?"
     "Sie hinkt, musikalisch gesprochen. Ich tue, was ich kann, aber …"
     "Ich bedaure, Monsieur … Ich verstehe nichts von Orgeln."
     "Nein? Dabei ist es die einzige Maschine, die wir haben. Ich würde meinen, Sie sind am falschen Ort, aber wie ich sehe, haben Sie einen Schlüssel in der Hand. Hat der Bischof Sie geschickt?"
     "Der Bischof? Nein."
     "Wer dann?"
     Nach kurzem Zögern nennt Jean-Baptiste mit leiser Stimme den Namen des Ministers.
     "Man hat also endlich doch etwas mit uns vor", sagt der Organist.
     "Ich bin hier, um -"
     "Pst!"
     Hoch über ihnen, auf dem schmalen Laufgang des Triforiums, das Geräusch schlurfender Füße. Der Organist zieht Jean-Baptiste in den Schutz eines Pfeilers. Sie warten. Nach kurzer Zeit verklingt das Geräusch. "Père Colbert", flüstert der Organist. "Unwahrscheinlich, dass er einem Ingenieur, den der Minister schickt, mit Wohlwollen begegnet. Eigentlich auch unwahrscheinlich, dass er überhaupt jemandem mit Wohlwollen begegnet."
     "Ein Priester?"
     "Alt, aber kräftig wie ein Ochse. Er war schon Missionar in China, als Sie und ich noch gar nicht auf der Welt waren. Ich habe sogar gehört, er sei dort gefoltert worden. Man habe etwas mit seinen Augen gemacht. Das Licht bereitet ihm Schmerzen. Er trägt eine getönte Brille. Sieht durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort. Ein aufbrausendes Temperament …"
     Jean-Baptiste nickt und sagt nach einem kurzen Blick auf den rötlichen Schimmer im Haar seines Gegenübers: "Waren Sie das, der bei den Monnards gewohnt hat?"
     "Bei den Monnards? Und woher, Monsieur, wollen Sie so etwas wissen?"
     "Man spricht dort noch von Ihnen."
     "Sie sind jetzt dort? In dem kleinen Zimmer mit Blick auf den Friedhof?"
     "Ja."
     "Sieh an, sieh an. Ha! Ich würde sagen, dort oben ist es jetzt kalt."
     "Ganz recht."
     "Ein kleiner Rat. Wenn Sie im Bett liegen, schauen Sie an die Decke. Sie werden dort ein kleines - Oh, oh. Ob-acht, mein Lieber. Ist Ihnen nicht wohl?"
     Während Jean-Baptiste dem Trommeln seines Herzens lauscht, geht ihm auf, dass er seit Betreten der Kirche versucht hat, den Atem anzuhalten. Er lässt sich von dem Organisten zur Orgelbank führen, hört ihn wie von der anderen Seite der Wand aus sagen, auch ihm sei es anfangs so ergangen und er habe die Kirche nur mit einem in Eau de Cologne getränkten und vor das Gesicht gedrückten Tuch betreten können.
     "Ich habe mich darüber verwundert, wie Menschen weniger als einen halben Tagesritt von diesem Ort entfernt leben können. Und dennoch tun sie es, wie Sie sehen. So zahlreich wie die Bienen. Man gewöhnt sich daran. Versuchen Sie, durch den Mund zu atmen. Der Geschmack ist leichter zu ertragen als der Geruch."
     "Ich bin auf der Suche nach Manetti", sagt Jean-Baptiste.
     "Dem Totengräber? Sie haben ja wirklich etwas vor. Aber keine Sorge. Manetti ist der am einfachsten zu findende Mann von ganz Paris. Lassen Sie uns an die Luft gehen. Sie können uns beiden ein Glas von etwas Stärkendem kaufen."
     Auf den Arm des Organisten gestützt - es geht wirklich nicht anders -, kehrt Jean-Baptiste zu der Tür in der Nordwand zurück. Nicht, dass er der Kirche die ganze Schuld zuschieben kann. Es war eine wenig erquickliche Nacht, das ganze Haus war in Unruhe, als bliese ein stürmischer Wind, obwohl das nicht der Fall war. Er hat sich eingebildet, weiteres Kratzen an der Tür und zu irgendeiner unchristlichen Zeit sogar ein Kratzen am Fenster zu hören. Und dann, in aller Frühe, stand im Wohn-zimmer der Monnards Lafosse mit den Schlüsseln zur Kirche in der Hand. Und jenes Gesicht bot auch keinen Trost …
     Als sie draußen auf der Straße stehen, die Tür geschlossen und versperrt ist und Jean-Baptiste seinen Füßen, seiner Kraft wieder trauen kann, wenden sie sich nach links in Richtung Rue de la Lingerie, dann nach rechts in Richtung Markt. Etwa alle zehn Schritte wird der Organist von irgendwem, meist einer Frau, gegrüßt. Bei jeder Begegnung streift das jeweilige Augenpaar kurz den jungen Mann neben ihm, den neuen Begleiter.
     "Dort drüben", sagt der Organist und deutet mit dem Arm darauf, "können Sie gut und billig essen. Da an der Ecke flickt man Ihnen die Kleider, ohne sie zu stehlen. Und das da ist Gaudets Laden. Rasiert einen gut, kennt jeden. Und hier … hier ist die Rue de la Fromagerie, wo man hingeht, wenn man etwas anderes einatmen möchte als den Duft von Gräbern. Nur zu. Füllen Sie sich die Lunge."
     Sie haben das eine Ende einer merkwürdigen, verstopften Ader von einer Straße betreten, die eher Gasse als Straße, eher Gosse als Gasse ist. Die oberen Stockwerke der Gebäude neigen sich zueinander hin, so dass zwischen ihnen nur ein schmaler Streifen weißer Himmel bleibt. Auf beiden Seiten der Straße ist jedes zweite Haus ein Laden, und jeder Laden verkauft Käse. Manchmal auch Eier, manchmal auch Milch und Butter, immer jedoch Käse. Käse in den Fenstern, auf Tischen und Handkarren ausgelegter Käse, auf Stroh getürmter Käse, an Schnüren hängender oder in Bottichen mit Salzlake schwimmender Käse. Käse, der mit einem Messer geschnitten werden muss, das groß genug ist, um einen Stier zu schlachten, Käse, der mit geschnitzten Holzlöffeln geschöpft werden muss. Rot, grün, grau, rosa, reinstes Weiß. Jean-Baptiste weiß bei den meisten nicht, um was für Sorten es sich handelt oder woher sie kommen, doch einen erkennt er sofort, und ihm geht das Herz auf, als hätte er ein ihm teures Gesicht von zu Hause erblickt. Pont-l'Evêque! Normannisches Gras! Normannische Luft!
     "Möchten Sie kosten?" fragt die junge Verkäuferin, aber sein Interesse hat sich schon dem Stand nebenan zugewandt, wo eine Frau im roten Umhang gerade ein rundes Stück Ziegenkäse mit in Asche gewälzter Rinde kauft.
     "Das", sagt der Organist und beugt sich über Jean-Baptistes Schulter, "ist die Österreicherin. So genannt wegen ihrer Ähnlichkeit mit unserer geliebten Königin. Und ich spreche nicht nur von ihren blonden Haaren. He, Héloïse! Darf ich Ihnen meinen Freund hier vorstellen, dessen Namen ich leider vergessen habe und der von Gott weiß wo gekommen ist, um unser aller Leben auf den Kopf zu stellen."
Sie zählt gerade kleine Münzen für den Käse ab. Sie schaut zu ihnen herüber, zuerst auf Armand, dann auf Jean-Baptiste. Errötet er? Ihm ist, als hätte er sie stirnrunzelnd gemustert. Dann wendet sie den Blick ab, nimmt ihren Einkauf und entfernt sich durch die Menge.

                                                        *

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Zsolnay Verlages
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