Vorgeblättert

Leseprobe zu Andre Schiffrin: Paris, New York und zurück. Teil 1

10.05.2010.
Das verlorene Paradies


Familienalben können verräterisch sein. Jahrelang ruhen sie im Verborgenen und warten darauf, dass man sie gelangweilten Enkelkindern und anderen Verwandten zeigt. Doch wie Poes entwendeter Brief enthalten sie ungeahnte Wahrheiten über ihre arglosen Besitzer, die nur der erfahrene Detektiv zu erkennen vermag.
     Viele Jahre habe ich mit Michael Lesy zusammengearbeitet, einem amerikanischen Fotohistoriker, der in den frühen 1970er Jahren bekannt wurde, als ich seine Dissertation unter dem Titel Wisconsin Death Trip publizierte. Lesy hatte einen Stoß Glasnegative aufgespürt, die ein Kleinstadtfotograf am Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommen hatte, und eine brillante Mentalitätsgeschichte über die Zeit dieses vergessenen Fundes verfasst. Das Buch wurde ein Riesenerfolg und begründete Lesys Ruf; es gelang ihm jedoch nicht, einen zweiten Bestseller zu schreiben. Eines Tages unterhielten wir uns über Familienalben, in denen er ähnlich interessantes und bislang unbeachtetes Material vermutete. Ich erwähnte mein eigenes Familienalbum und weckte damit sein Interesse.
     Bald darauf untersuchte er neben mir auf dem Sofa unseres Wohnzimmers sitzend eingehend den fleckigen roten Einband, der von Zigarettenspuren übersät war, die meine Mutter mit Fotos von Charlie Chaplin als Hitler in "Der große Diktator" überklebt hatte. Das Album, das ich Dutzende Male gedankenlos betrachtet hatte, war in zwei Abschnitte unterteilt.
     Der erste, der meine ersten sechs Lebensjahre umfasste, stammte aus Frankreich und schien eine unglaublich idyllische Zeit wiederzugeben. Unsere große, sonnige Pariser Wohnung mit meinem spielzeugübersäten Zimmer; Ferienaufnahmen aus Belgien mit Aldous Huxley und seiner Familie; ein Tag am Strand von Royan mit meiner Mutter Simone, ihren Freunden und mir als kleiner Junge. Zuletzt kam eine Serie glanzvoller Bilder, die meine Mutter liebte, und die, wie man mir gesagt hatte, von einem Modefotografen gemacht worden waren. So sahen sie auch aus.1 Dieser erste Teil des Albums zeigte also jenes sorgenfreie Leben, an das ich mich dunkel erinnerte - Abbildungen einer glücklichen, angenehmen und finanziell abgesicherten Kindheit, einer klassischen Pariser Kindheit. Häufige Fahrten an die Strände der Normandie, Karusselle in den Tuilerien, das kleine Segelbootbecken im Jardin de Luxembourg ? Eine Zeit, die auch meinen Eltern im Rückblick nicht weniger idyllisch vorkommen musste. Mein Vater, der seit kurzem von den finanziellen Sorgen eines eigenen Verlagshauses befreit war und nun bei Gallimard, dem größten französischen Verlag, arbeitete, wo er die von ihm begründete Klassikerreihe "La Pleiade", für - wie er meinte -, den Rest des Lebens leitete; meine Mutter, die mit ihrem einzigen Kind und ihrer Großfamilie beschäftigt war. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je eine traurige Begebenheit in dieser Vorkriegszeit erwähnten. Das Album schien ein genaues Spiegelbild unseres Lebens darzustellen.
     Der zweite Teil des Albums bestand aus Aufnahmen, die im Herbst 1941 in New York aufgenommen worden waren. Die ersten zeigen unsere kleine Wohnung am Riverside Drive, wo wir nach unserer Ankunft lebten. Die übrigen stammen aus unserer erstaunlich billigen Mietwohnung, die meine Eltern danach an der Park Avenue Ecke 75th Street gefunden hatten. Es war eines der wenigen niedrigen Apartmenthäuser an der Avenue und ist es bis heute noch. Wann immer ich an dem Haus vorbeigehe, sehe ich seine herausragende Feuertreppe, wie ein anachronistisches Andenken aus einer anderen Ära. Als ich die Fotos mit Michael Lesy betrachtete, bemerkte ich, wie kahl diese beiden Räume aussahen, abgesehen von dem großen Arbeitstisch, an dem meine Mutter Tag und Nacht mit ihrem Schmuck beschäftigt war. Vor diesem Hintergrund bin ich auf meinen ersten eigenen Portraits zu sehen, auf denen ich in einer Militäruniform oder mit meinen Soldaten spielte. Offenbar hatte ich beschlossen, keinem Feind mehr unbewaffnet entgegenzutreten. Durch die Vertrautheit dieser Aufnahmen war mir bis dahin die Armseligkeit und traurige Atmosphäre der Wohnungen entgangen, ebenso wie sehr sie sich von den Bildern unseres Lebens im Vorkriegsfrankreich unterschieden. Lesy schien von allem fasziniert, doch war ich erleichtert, als er sich später entschied, keines dieser Fotos in sein Buch aufzunehmen.

Im Nachhinein verblüffte mich, dass mir die Geschichte, die dieses Album erzählt, nicht früher aufgefallen war, dass ich die Kargheit unseres New Yorker Lebens und den Gegensatz zu dem davor übersehen hatte. Während wir unzählige Male diese Seiten durchgeblättert hatten, hatten weder ich noch meine Eltern, meine Kinder oder andere Verwandte oder Freunde darüber je ein Wort verloren.
     Noch etwas anderes an diesem Album, das mir heute klar auf der Hand zu liegen scheint, erstaunte mich ebenso: Es enthielt nur sehr wenig Aufnahmen vom Leben meiner Eltern vor ihrer Heirat. Offenbar hatten beide ihr früheres Leben hinter sich gelassen, nachdem sie einander begegnet waren. Mein Vater Jacques wurde 1892 in Russland geboren, in der Erdölstadt Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans am Kaspischen Meer. Sein Vater war dorthin gegangen, um als Hafenarbeiter zu arbeiten. Er wunderte sich darüber, dass das Kaspische Meer vor Baku immer in Flammen stand; die Ölabfälle, die täglich ins Wasser gekippt wurden, schienen nicht weiter verwendet werden zu können. Er traf den jungen schwedischen Chemiker Alfred Nobel, den der Ölrausch nach Baku gelockt hatte, und lernte von ihm die Grundkenntnisse der Chemie. Mein Großvater entdeckte, dass aus den Ölrückständen petrochemische Stoffe gewonnen werden konnten, und bat nun die Ölproduzenten, diese Rückstände kaufen zu dürfen. Sie wunderten sich über seine Dummheit, stimmten aber bereitwillig zu. Dank der zuverlässigen Lieferungen billigen Rohmaterials begann das Schiffrinsche petrochemische Unternehmen bald zu florieren und lieferte Teer und andere Produkte in weite Teile Russlands. Mein Onkel Simon Schiffrin erzählte, er habe bei einer Reise in die Sowjetunion in den fünfziger Jahren im Hafen von Leningrad Fässer gefunden, die noch immer den Namen seiner Familie trugen.
     Mein Vater wuchs also in einem sorgenfreien Umfeld auf. Die spärlichen Familienfotos aus dieser Zeit zeigen Menschen, die das Leben sehr reicher Leute führten. In den Sommerferien fuhren sie mit dem Zug in die Schweiz. Ihre Bediensteten füllten die Zugabteile mit Kissen und Leinendecken, wie sie für eine dreitägige Reise benötigt wurden. In den kürzeren Ferien begaben sie sich auf die Familiendatscha in Finnland, das dem Russischen Reich unterstand.
     Meine älteste Tochter Anya, die sich sehr für unsere Familiengeschichte interessiert, überredete mich im Jahr 2003 zu einer Reise nach Baku. Wir fanden die ehemaligen Herrenhäuser Nobels und Rockefellers, die aus der Zeit des Goldrausches am Ende des neunzehnten Jahrhunderts stammen. Auch entdeckten wir das frühere Familienhaus der Schiffrins im Stadtzentrum. Es umschloss einen großzügigen Innenhof, und man konnte noch immer die hohen, sonnendurchfluteten Räume einsehen, zu denen einst auch ein Ballsaal und andere Gesellschaftsräume gezählt hatten. Das schöne Gebäude, das Anya und ich inspizierten, hatte sich in eine sehr geschäftige Abtreibungsklinik verwandelt.
     Die Familie zog später nach St. Petersburg, und vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschloss mein Vater, in Genf Jura zu studieren und auch, wie ich vermute, der Einberufung in die zaristische Armee zu entkommen. Diese Jahre in der Schweiz scheinen sehr glücklich gewesen zu sein. Er hatte Geld, er hatte Freunde, darunter den Schweizer Psychologen Jean Piaget, und vermutlich auch zahlreiche Frauen. Er sah gut aus, war ein begabter Eisläufer und führte offensichtlich ein sorgloses Studentenleben. Ich weiß allerdings etwas mehr über diese Zeit und manche dieser Erinnerungen verblüffen mich. Etwa eine Bibel, die mein Vater von dem indischen Philosophen Rabindranath Tagore bekam; sie trägt eine lange geistvolle Widmung Tagores aus dem Jahre 1918. Die beiden mussten gute Freunde gewesen sein. Wie es dazu kam, weiß ich allerdings nicht.
     Nach dem Krieg änderte sich die Lage meines Vaters. Die russische Revolutionsregierung verstaatlichte den Familienbesitz, wodurch er nahezu völlig mittellos wurde. Das einzige Geld, das der Familie blieb, stammte ironischerweise aus Beteiligungen an Alfred Nobels Dynamit-Unternehmen, die sie im Tausch gegen Aktien des nun verstaatlichten Schiffrin-Erdölunternehmens erhalten hatte. (Der arme Nobel war schlechter weggekommen, doch schien er trotzdem überlebt zu haben.) Mein Vater ging von Genf nach Monte Carlo und versuchte sein Glück im Kasino. Wie eine Figur aus einem Roman Dostojewskis (den er später übersetzen sollte) setzte er einen großen Teil seines bescheidenen Kapitals auf eine einzige Zahl beim Roulette und gewann unglaublicherweise. Statt glücklich nach Hause zu gehen, setzte er sein Geld erneut auf dieselbe Zahl - ein waghalsiger Zug, zu dem ich niemals imstande gewesen wäre. Doch allen geringen Chancen zum Trotz kam die Zahl noch einmal und mein Vater stand mit einer hübschen Summe da, von der er einige Jahre zehren konnte.
     Er beschloss, von Genf nach Florenz zu gehen und nahm eine Stelle als Sekretär bei Bernard Berenson an. Dort blieb er einige Jahre, und als Folge dieser Zusammenarbeit verlegte mein Vater später Berensons Italian Painters of the Renaissance. In Florenz stellte ihn Peggy Guggenheim als Russischlehrer ein. Als sich herausstellte, dass er zu mehr nicht bereit war, feuerte sie ihn. (In ihren Memoiren beschreibt sie dies ohne Groll, später enthüllt sie allerdings einen weniger sympathischen Charakterzug, wenn sie ihre Freude über den günstigen Erwerb zahlreicher Bilder jüdischer Künstler beschreibt, die in der Kriegszeit verzweifelt versuchten, aus Hitlers Europa zu fliehen.)

Teil 2