Vorgeblättert

Leseprobe zu Alastair Brotchie: Alfred Jarry. Teil 3

04.08.2014.
(Seite 367 ff)


1900-1904

Jarry muss bewusst gewesen sein, dass die Ernte, die er in den vergangenen drei Jahren aus seiner literarischen Arbeit eingefahren hatte, sehr mager gewesen war, sowohl im Hinblick auf die Finanzen als auch auf die Kritik. Das traf zwar auf keinen Text mehr zu als auf L" amour absolu, aber kein einziges Buch, bei dem er auf den Kommerz geschielt hatte, ganz zu schweigen von einem seiner unkommerziellen Texte, hatte ihm ein Einkommen beschert, das der Rede wert gewesen wäre. Und doch verschwendete Jarry niemals auch nur einen Gedanken an die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt auf irgendeine andere Weise zu verdienen. Soweit seine Einnahmen aus den Vorjahren bekannt sind, lassen sie sich wirklich nur als spärlich bezeichnen: ein Vorschuss auf L" Amour en visites, Tantiemen aus den verschiedenen Editionen von Ubu Roi, ein kurzzeitiger Lohn für seine Arbeit am Théâtre des Pantins - das ist alles, was mit einiger Sicherheit vermerkt werden kann.


     Doch nun begann Jarry eine neue literarische Richtung einzuschlagen, wenngleich auch sie nicht unbedingt das Ergebnis von praktischen Erwägungen war: Seinen beiden nächsten Romanen fehlen alle bis dahin so auffällig vorhandenen autobiografischen Momente. Der neuer Kurs war unpersönlicher und "technischer", wie Rachilde in ihrer Rezension von L" Amour en visites feststellte. Vermutlich meinte sie damit "konventioneller" und ergo heterosexueller. In La Frette hatte Jarry mit der Arbeit an seinem Roman Messaline begonnen, was einiger historischer Recherchen in den Pariser Bibliotheken bedurfte. Damit war er im Winter 1899 und ersten Halbjahr 1900 beschäftigt. Ansonsten gibt es kaum etwas, das sich mit Sicherheit in diesen Monaten ansiedeln lässt. Selbst Briefe, die irgendwelche Hinweise liefern könnten, gibt es kaum. Zweifellos war er auch während dieser Zeit in den üblichen Cafés aufgetaucht und hatte an den Dienstagssoireen teilgenommen, aber mehr lässt sich über seinen Alltag bis zum Sommer 1900 kaum sagen. Man kann höchstens noch feststellen, dass auch die literarischen Projekte, an denen er in dieser Zeit arbeitete, nicht viel einbrachten. Im Juli aber wendete sich das Blatt.
     Der Zugang zum Mercure war ihm bereits versperrt. Die naheliegende Alternative war der Verlag Revue Blanche. Und da Ubu enchaîné ein gewisses kommerzielles Potenzial versprach, dürfte Jarry diesen Text genutzt haben, um sich an Natanson oder Fénéon zu wenden, in der Hoffnung, sie als neue regelmäßige Abnehmer seiner literarischen Texte zu gewinnen. Im Januar veröffentlichte deren Zeitschrift Auszüge aus der Grabbe-Übersetzung, die Jarry ursprünglich für das Théâtre des Pantins an gefertigt hatte und auf die er vermutlich wieder gestoßen war, als er im Vorjahr seine alten Manuskripte durchgesehen hatte. Ebenfalls im Januar versuchte Terrasse erfolglos, mithilfe des einflussreichen Gémier die Spielleiter diverser Theater für Pantagruel zu begeistern.(1)
     Anfang Februar öffneten Jarry und Terrasse die Kiste mit den Marionetten aus dem Théâtre des Pantins, stellten fest, dass sie in gutem Zustand waren, und beschlossen, eine letzte Aufführung mit ihnen zu veranstalten: Jarrys Revue des Pantins, die schließlich am 10. März gespielt wurde. Das Textbuch hat nicht überlebt, doch wir wissen, dass der Abend ein Erfolg gewesen war: Terrasse notierte in sein Tagebuch, dass sich die Premierenfeier bis um halb sieben Uhr morgens hinzog. Ebenfalls im März publizierte Revue Blanche in kleiner Auflage - nur tausend Exemplare - Ubu enchaîné, eingeleitet mit dem leicht revidierten Text von Ubu Roi.(2)
     Da tauchte das Thema Pantagruel wieder auf. Anfang des Jahres 1900 wurden Willy und Gémier von Terrasse gebeten, ihm bei der Umarbeitung des Stückes in eine Fassung zu helfen, die besser geeignet war für die große Bühne. Jarry scheint bei diesem Schlachtfest kaum eine Rolle gespielt zu haben, muss aber sein Einverständnis dazu gegeben haben, da Terrasse ihn am 24. Mai schriftlich von dem Vorhaben informierte. Diese Fassung wurde dann zu gleichen Teilen Jarry und Willy zugeschrieben - Willys Hauptbeitrag hatte daraus bestanden, die Sprache zu modernisieren - und unter den Spielleitern diverser Theater herumgereicht, konnte aber deren Interesse ebenfalls nicht wecken. Willy schlug erneut vor, den Text als Buch zu publizieren, wieder ergebnislos. Terrasses Karriere war mittlerweile derart in Schwung gekommen und er ein so gefragter Operettenkomponist geworden, dass er sich letztlich nur noch mit solchen Aufträgen befasste. Pantagruel wurde wieder einmal ad acta gelegt.(3)
     Dass Jarry nicht an den Arbeitsgesprächen für Pantagruel teilgenommen hatte, lässt sich erklären: Er schrieb gerade an der Revue des Pantins, im März/April zudem mit Berthe Danville am Libretto für eine andere Operette von Terrasse, Leda, der dann allerdings dasselbe Schicksal beschieden sein sollte wie Pantagruel: Sie wurde weder aufgeführt, obwohl sie bereits für Mitte Mai auf dem Spielplan gestanden hatte, noch in Druck gegeben ( jedenfalls nicht vor 1981).(4)
     Inzwischen hatte auch Trochons Gerichtsvollzieher wieder einmal zur Feder gegriffen. Am 5. Juni 1900 traf ein Schreiben ein, wonach Jarry noch immer die Summe von 553 Franc und 75 Centimes für das Fahrrad schuldete. Es werde ihm nunmehr "zum letzten Mal mitgeteilt, dass Monsieur Trochon absolut entschlossen ist, extremere Maßnahmen zu ergreifen, um eine Zahlung zu bewirken. Ihre Arglist in dieser Angelegenheit ist nicht länger tolerierbar." Trochon glaubte ihn allerdings noch wohnhaft am Boulevard Saint-Germain, weshalb Jarry diesen Brief nie erhielt: Dieses und noch vier weitere Schreiben wurden allesamt mit dem Stempel "Adressat unbekannt verzogen" zurückgeschickt.(5)

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Am 22. Juni fuhr Jarry gemeinsam mit Rachilde und Stuart Merrill in die Nähe von Pressis-Chenet, ein paar Kilometer flussaufwärts von Corbeil, um Demolder in seinem großen Herrenhaus an der Seine einen Besuch abzustatten. Nicht nur Merrill, auch Franc-Nohain hatte jüngst ein Anwesen in Corbeil gemietet, doch hier, hinter der Flussschleife, waren die Ufer noch unbesiedelt. Bald sollte eine Eisenbahntrasse zu den neu erbauten Häusern auf dieser Seite der Seine führen, im Moment gab es jedoch nur ein einziges Anwesen hinter der Flussbiegung an einer Les Bas-Vignon genannten Stelle, und das hatten Vallette und Rachilde für den Sommer 1900 gemietet (1904 sollten sie es schließlich kaufen). Jarry war aber nicht nur gekommen, um Demolder zu sehen, er war selbst auf der Suche nach einer Unterkunft am Fluss, da die Vallettes ihm klargemacht hatten, dass sie nicht beabsichtigten, ein neues Phalanstère zu gründen.(6)
     Flussaufwärts konnte man vom Haus der Vallettes aus das Wehr, le barrage, von Le Coudray sehen. Es war eines von vielen, die in den 1880er Jahren erbaut worden waren, um Frankreichs Kanalsystem durch große Schleusen von einheitlichen Abmessungen für die kommerzielle Flussfahrt befahrbar zu machen. Zwischen dem Wehr und der rund einen Kilometer davon entfernten "Villa Vallette" standen nur zwei Gebäude am Westufer: ein verlassener Kalkmeiler und eine heruntergekommene Kaffeebar. Auch am Wehr selbst standen nur drei Häuser: das des Schleusenwärters und ein Gasthaus samt kleinem Laden, in dem die Kahnführer Rast machten, während ihre Boote durch das Wehr geschleust wurden oder in einer Schlange darauf warteten, an die Reihe zu kommen. Gleich daneben stand eine zweige teilte, gipsverputzte Holzhütte. Die linke Seite war einmal eine Stallung gewesen, wie anhand der Beschriftung über den breiten Toren ersichtlich war, die rechte diente vermutlich als Warenlager und wurde seit Kurzem auch zur Kaninchenzucht benutzt. Die Hütte gehörte zum Gasthaus, und Jarry überzeugte den Wirt nun, diesen Teil an ihn zu vermieten, einen einzigen Raum, der aber wenigstens den Vorteil eines Fensters hatte.
     Es war kein idyllisch stilles Fleckchen am Fluss, das zu schöpferischen Tagträumereien hätte anregen können. Unmittelbar vor dem Stall befand sich die Schleuse, durch die eine ständige Prozession von großen Kähnen zog. Einzelne Boote wurden mit Maultieren oder Pferden vom Treidelpfad aus durchgezogen, in Rachildes Album gibt es sogar Fotos von den Tieren. Meist aber wurden lange Schlangen von Kähnen miteinander vertäut und von großen dampfgetriebenen Kettenschleppern, deren Schlote hohe, dicke Rauchschwaden ausstießen, stromauf- und abwärts gezogen. Dieselmotoren und leistungsstarke Schiffsschrauben waren noch Zukunftsmusik. Diese Schleppkähne zogen sich selbst, indem sie sich über Führungsrollen an einer im Flussbett ausgelegten Kette voranarbeiteten, die in diesem Abschnitt flussaufwärts bis nach Montereau und flussabwärts bis nach Paris verlegt war, also eine Reichweite von rund hundert Kilometern hatte. Aber Lärm machten nicht nur die Kähne, auch das Wasser, das ununterbrochen das Wehr herabrauschte, sorgte für ständiges Getöse im Hintergrund. In der Villa Vallette, die von Jarrys Fenster aus gerade noch zu sehen war, herrschte hingegen beschauliche Ruhe.(7)

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Jarrys Hütte war nicht gerade ein Bau, den viele für bewohnbar gehalten hätten. Es gab darin nicht die geringsten Annehmlichkeiten, abgesehen von einem Ofen, jedenfalls legt das der vorhandene Schornstein nahe. Kein Strom, kein fließendes Wasser, keine Toilette. Man betrat die Hütte durch ein einfaches Scheunentor und bewegte sich darin auf rohem Stampflehmboden. Als Rachilde sich mit einer Freundin zu Besuch ankündigte, schüttete Jarry Wasser über den Boden, um auszuwischen, weichte ihn damit aber natürlich nur auf. Die Damen mussten für die Dauer des Besuchs die Röcke schürzen. Dennoch, in genau dieser Bruchbude sollte Jarry sich in den kommenden vier Jahren nicht nur hingebungsvoll seinen publizistischen Texten widmen und dabei jene rund sechshundert Seiten produzieren, die später gesammelt unter dem Titel La Chandelle verte (Die grüne Kerze) erschienen, sondern auch seinen letzten vollendeten Roman Le Surmâle abschließen.(8)
     Dieser Abschnitt des Seinetales war damals ein ziemlich verlassener Landstrich. Die Dörfer Le Coudray und Le Plessis-Chenet lagen hinter einer Hügelkette, die sich hier parallel zum Fluss erstreckt, und waren zugleich durch die neue Bahntrasse vom Ufer abgeschnitten. Das gegenüberliegende Ufer war bis Rougeau größtenteils bewaldet, weshalb es dort überhaupt keine sichtbare Besiedlung zwischen Le Coudray und Corbeil gab, abgesehen von den paar Häuschen der Wehrarbeiter. Somit konnte von einer ansässigen Bevölkerung kaum die Rede sein. Dafür hatte das Gasthaus am Wehr, das Rendez-Vous, mit den Kahnführern, die dort regelmäßig einkehrten, eine große nomadische Stammkundschaft. Jarry stand bald auf gutem Fuß mit ihnen, was für einen Biografen etwas problematisch ist, da sie ja keine Erinnerungen an ihren Saufkumpanen hinterließen und deshalb ein großer Teil von Jarrys Alltag dort im Dunkeln blieb. Und obwohl Jarry fast seine gesamte Korrespondenz aufbewahrte und diese nach seinem Tod komplett geborgen wurde, überlebte aus unerfindlichen Gründen auch kaum ein Brief aus der Zeit zwischen 1900 und 1904.(9)
     Die Mannschaften auf den Kähnen verbrachten fast ihr ganzes Leben an Bord, oft gemeinsam mit ihren Familien, und unterbrachen ihre Routine nur an den regelmäßigen Anlegestellen, wo sie sich bei Speis und Trank trafen. Es war eine geschlossene Gemeinschaft mit eigenen Gebräuchen und einem eigenen Dialekt, die der übrigen Gesellschaft ebenso fern stand, wie es nun offenbar auch Jarry zu tun beschlossen hatte. Jedenfalls wurde er in diese Welt aufgenommen und zu einem festen Bestandteil des Gasthauses am Wehr. Der für ihn reservierte Platz war gleich am ersten Tisch links vom Eingang. Welcher Art seine neuen Kumpane waren, wird anhand einer Liste ihrer Spitznamen deutlich, die Jarry einem kurzen fiktionalen Text voranstellte. Später ging dieser Text in seinen letzten, unvollendeten Roman La Dragonne (Die Dragonerin) ein. Es ist eine bizarre Mischung aus Poesie und Affront, hier eine Auswahl: Pomme-Cuite (Bratapfel), Beurre-de-Bique (Ziegenbutter), Jauned" OEuf (Eigelb), Pain-d"Épice (Lebkuchen), Le Bandeau (Augenklappe), L"OEil (Fettauge), Le Jappeau (Kläffer), Cul-de-Rat (Rattenarsch), Pied-Jaune (Gelbfuß), La Couleuvre (Natter), Nez-de-Chat (Katzennase), Aime-en-Voyage (Liebe auf Reisen), La Barbe, dit aussi Grandes-Moustaches (Bart aka Großschnauzer), La Mouche (Mücke), La Chouette (Eule), Visenbas (Guckaufdenboden), Mal-au-Ventre (Bauchschmerz), Pierre-à-l"Huile (Ölstein) … Das Leben auf den Kähnen war harte, endlose Schufterei und jeder Moment der Erholung kostbar. Jarry ergötzte sich an diesen Typen. Ihre unverblümte und mit Kraftausdrücken gewürzte Art zu reden, die ebenso gerade heraus wie poetisch war, wurde ihm ein nicht enden wollender neuer Quell des Vergnügens.(10)
     Er begann Material für ein neues Buch zu sammeln. Eine Menge dieser Recherchen sollte er dann in La Dragonne verwerten: Er notierte das Argot der Kahnführer und alle möglichen Details über ihre Arbeit, stellte fest, dass es 112 Brücken und 192 Schleusen zwischen Paris und Lille gab, und führte ein Journal, das allein den Kahnführern gewidmet war und in dem er die Namen der Schiffe, ihre Bestimmungsorte und Fracht festhielt. Diese autarke Welt hatte sogar eine eigene, geheimnisvolle Sirene: Wenn die Zugkette im Flussbett riss, schickte man nach dem chaînier, der dann in einem Spezialboot kam, auf dem sich rostiges Metall für seine Flickarbeiten türmte. Er trug immer eine scharlachrote Jacke und schmetterte Opernarien, während er den Fluss auf und ab fuhr und seine grandiose, vom Wasser und den umgebenden Hügeln verstärkte Stimme kilometerweit zu hören war. Bloß die Worte blieben unverständlich, weil er eine Hasenscharte hatte. Eines der letzten Gedichte von Jarry, 1903 veröffentlicht, war "Le Chaînier" gewidmet.(11)
     Das Gasthaus am Wehr, "Au Rendez-Vous du Barrage", führten Madame und Monsieur Dunou. Der Patron war Gemeinderat und Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr und seine Kneipe primär ein Wirtshaus, aber auch ein Laden, der die Schifferfamilien - und nun auch Jarry - mit Grundnahrungsmitteln und Vorräten versorgte. Monsieur Dunou fand schnell Gefallen an seinem neuen Mieter. Oft gingen sie zusammen angeln, und wenn er keine Zeit hatte, ihn zu begleiten, lieh er ihm sein Boot. Jarry muss seines also verkauft haben. Abgesehen von Dunou war Eugène Demolder Jarrys ständiger Begleiter. Jules Renard skizzierte diesen Rabelais"schen Bonvivant in seinem Tagebuch(12):

Demolder: bisschen was von einem Tabaktopf. Ein aufgeblasener Leander, aber ein charmantes Lächeln, und dann diese köstliche belgische Redeweise, die so viele talentierte Männer ziert.
     Auch erhebt er den Anspruch, schüchterner zu sein als irgendwer sonst auf der Welt.
     Ein großer Speckbauch, ein großes Gesicht, zwei kleine Augen, hell, aus dem Kopf hervortretend, dünnes Haar, ein kleines Bärtchen, umsichtig gezwirbelt, kein Kragen, nur ein schwarzes Seidentuch um den Hals.
     Sein Lachen ist eine kurze, heftige und sofort wieder erlöschende Flamme. Manchmal unversehens die Gestik des Schauspielers, des Komödianten.
     Er reist viel. Er erzählt mir von Italien, Neapel. Die Neapolitaner sind wundervoll (hier eine blitzschnelle Geste), aber schweinisch! Er sah eine Frau, zu faul, um Wasser zu holen, auf den Boden pinkeln und ihn dann mit der Pisse aufwischen.(13)

Nur Tage nachdem Jarry im Juli 1900 seine Hütte bezogen hatte, begannen Demolder und er mit ihren Angel-, Rad- und zweifellos auch Sauftouren. Denn das waren die gemeinsamen Vorlieben von Demolder und Jarry. Ansonsten waren ihre Lebenssituationen völlig unterschiedlich: Jarry allein in seinem Verschlag; Demolder mit Frau in einem riesigen Herrenhaus namens La Demi-Lune auf der anderen Seite der Bahntrasse, dessen Wände behängt waren mit den Werken von Félicien Rops und das von einem weitläufigen, mit Rosenbüschen bewachsenen Grundstück umgeben war. Seit Rops 1898 gestorben war, war Demolder Herr im Haus. Als die Eisenbahntrasse zwischen Anwesen und Flussufer verlegt worden war, hatte die Bahngesellschaft Rops einen Privattunnel gebaut, gerade breit genug für eine Person. Somit hatte Demolder also direkten Zugang zum Fluss, und der Eingang zum Tunnel lag nur achtzehn Meter von Jarrys Hütte entfernt. Demolder und Jarry waren auch ganz unterschiedliche Schriftsteller. Demolders Schreibe war doch etwas fade, obwohl er an der bedeutenden avantgardistischen Literaturzeitschrift La Jeune Belgique beteiligt gewesen war. Sein bekanntestes Buch La route d"émeraude (Der Smaragdweg, auch unter dem Titel Der Weg der Dornen erschienen) war ein konventioneller biografischer Roman nach dem Leben Rembrandts. Doch Demolder war ein fröhlicher Gesell mit einem kritischen Auge. Ende 1898 hatte er James Ensors erste Ausstellung in Paris arrangiert, und er korrespondierte ausgiebig mit einer Vielzahl von belgischen Malern und Schriftstellern - vielleicht infolge des vergleichsweise isolierten Lebens, das er in seinem Herrenhaus hier führte. Er und Jarry wurden nun praktisch Dauergefährten und Jarrys Besuche in La Demi-Lune zur Routine.(14)
     Trotz der Enge in seiner bescheidenen Hütte war Jarry entzückt, wieder das Leben führen zu können, das er so liebte: am Ufer des Flusses. Fortan folgte er einem simplen Tagesplan. Angeln am Morgen, das war ein Muss, da Fische ja sein Hauptnahrungsmittel waren, gefolgt von mehreren Absinths zur Mittagszeit im Rendez-Vous. Weitere Alkoholika wurden nach Hause mitgenommen oder in irgendwelchen Cafés anderenorts genossen. Manchmal besorgte er sich auch flüssige Verpflegung für mehrere Tage, um in seiner Unterkunft zu verschwinden und längere Zeit am Stück zu arbeiten. Im Sommer war dieses Leben ganz nach seinem Geschmack, tatsächlich fast idyllisch. In den nächsten fünf Jahren blieb er dort immer bis in den Spätherbst hinein, solange es die Temperaturen erlaubten, fuhr zwischendurch aber wiederholt nach Paris, denn eine Strecke von rund fünfundsechzig Kilometern mit dem Fahrrad fand er nicht der Rede wert. Oft radelte er sogar noch am selben Tag zurück. Auf diese Weise konnte er seinen literarischen Aktivitäten in der Metropole nachgehen und nötigenfalls dort übernachten, falls das Wetter sein Leben in der ländlichen Klause gerade etwas trübe machte.(15)
     Jarry war auch regelmäßiger Gast einer anderen Bar am Fluss, eines schäbigen Etablissements von ausgesprochen schlechtem Ruf, dessen Gäste noch weniger erlesen waren als selbst die im Rendez-Vous. Ursprünglich war sie nur von den Arbeitern frequentiert worden, die beim Bau der Eisenbahntrasse beschäftigt waren; zu Jarrys Zeiten fanden sich hauptsächlich Wilddiebe und andere gestrauchelte Gesellen ein, die sich irgendwo besaufen wollten, wo das Auge des Gesetzes sie nicht sah. Rachilde bezeichnete die patronne dieser Bar, Mère Fontaine, als eine exzentrische Schrulle: "Ich bin nie einer schrecklicheren Gestalt als dieser alten Hexe über den Weg gelaufen, die, affektiert lächelnd wie eine alte Hetäre, […] jeden männlichen Kunden, ob angesehener Bürger oder sturzbesoffener Matrose, "mein süßes Entlein" nannte. Dieses erstaunliche Geschöpf empfand eine große Zuneigung zu Père Ubu und machte ihm derart indezente Anträge, dass er errötete." Mère Fontaines Bar lag genau zwischen Jarrys Hütte und dem Anwesen der Vallettes, eignete sich also perfekt für einen Aperitif, bevor er dort zum sonntäglichen Mittagstisch erschien.(16)

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(1) Cathé, "Claude Terrasse (1867-1923)", op. cit., unpaginiert.
(2) Cathé, "Le Théâtre des Pantins", op. cit., S. 178; Bourrelier, La Revue Blanche, op. cit., S. 789.
(3) Cathé, "Claude Terrasse (1867-1923)", op. cit., unpaginiert; Arnaud, Alfred Jarry d"Ubu roi au Docteur Faustroll, op. cit., S. 429; Jarry, OC 3, S. 810f.; Caradec, Feu Willy, op. cit., S. 130f.
(4) Cathé, "Le Théâtre des Pantins", op. cit., S. 178; Jarry, OC 2, S. 710-714; Sainmont, "L"Interminable histoire de Pantagruel", op. cit., S. 26f.
(5) Trohel, "Alfred Jarry et les huissiers", op. cit., S. 635f.
(6) Bordillon, Gestes et opinions d"Alfred Jarry, op. cit., S. 82; Régibier, Ubu sur la berge, op. cit., S. 95ff.
(7) Rachilde, Alfred Jarry, op. cit., S. 143.
(8) Régibier, Ubu sur la berge, op. cit., S. 110.
(9) Jean-Hugues Sainmont, "L"Interminable histoire de Pantagruel", in: CCP 15 (1954) S. 27.
(10) Régibier, Ubu sur la berge, op. cit., S. 111; Jarry, OC 3, S. 522.
11 Maurice Saillet, "Dossier de la Dragonne", Dossiers, 1957-1965 (DCP), S. 53; Régibier, Ubu sur la berge, op. cit., S. 119f.; Jarry, OC 2, S. 546ff.
(12) Régibier, Ubu sur la berge, op. cit., S. 98f., 111.
(13) Bordillon, Gestes et opinions d"Alfred Jarry, op. cit., S. 83; Renard, Journal, op. cit., S. 487.
(14) Bordillon, ibd.
(15) Régibier, Ubu sur la berge, op. cit., S. 110.
(16) Régibier, ibd., S. 111; Rachilde, Alfred Jarry, op. cit., S. 135f.; Jarry, OC 3, S. 691.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Piet Meyer Verlages
(Copyright Piet Meyer Verlag)


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