Vorgeblättert

Kenzaburo Oe: Tagame. Berlin-Tokyo. Teil 2

15.08.2005.
3

Kogito war zwar mit Chikashi bis nach Yugawara gefahren, um Goros Leichnam in Empfang zu nehmen, nachdem die Polizei ihn freigegeben hatte, aber er hatte das Antlitz des Toten nicht gesehen.
     Nach der in kleinem Kreis abgehaltenen Totenwache hatte er Umeko, die Vorbereitungen traf, um bis zum Morgen Videos von Goros Filmen anzuschauen, mitgeteilt, dass er nach Tokyo zurückfahren würde, da Akari allein zu Hause sei. Chikashi würde am nächsten Morgen bei der Einäscherung zugegen sein.
     - Anders als vorhin bei der Polizei, hat sein Gesicht jetzt wieder diese Schönheit. Sieh ihn dir an und bete für ihn, bevor du gehst, hatte Umeko gesagt und dabei einen Blick zum Sarg hinüber geworfen.
     Doch Chikashi hatte mit ruhiger Bestimmtheit entgegnet:
     - Sieh ihn dir besser nicht an.
     Als Umeko sie fragend ansah, hatte Chikashi ihren Blick erwidert wie jemand, der mit trauriger Aufrichtigkeit klar zu seiner Überzeugung steht. Umeko begriff und ging in das Zimmer, in dem der Sarg stand.
     Kogito dachte über Chikashis Distanz zu ihm nach. In dem unverhohlenen Blick, mit dem sie Umeko angeschaut hatte, war nichts, was die Beziehung zu ihren Mitmenschen milderte. So ist es nun mal, das lässt sich nicht ändern, oder?, schien sie sich in ihrem großen Kummer auch selbst zu beschwichtigen.
     Es ist gut, dass Umeko den verletzten und entstellten Goro voller Liebe betrachtet, und auch, dass sie sieht, wie die Gesichtszüge des Toten nach und nach wieder ihre ursprüngliche Gestalt annehmen. Ich als seine Schwester mache es ebenso. Aber Kogito könnte das nicht ertragen.
     Doch trotz seiner von Chikashi erkannten Willensschwäche wollte Kogito Umekos Aufforderung beflissen folgen und versuchte aufzustehen. Er spürte, wie er niemals erwachsen werden würde, und er empfand sich als hilflos und einsam. Aber ihm ging auch noch etwas anderes durch den Kopf. Ich will feststellen, ob an Goros Wangen und Ohren nach dem Aufprall noch Spuren davon sind, dass er in den Schildkäfer gesprochen hat ...
     Es gab einen Grund dafür, dass man dies nicht einfach als Kogitos Mutmaßung abtun konnte. Goros Produktionschef Taruto, der die Verantwortung für den Transport der Leiche übernommen hatte und mit nach Yugawara gefahren war, hatte ihnen drei verschiedene mit dem Computer geschriebene, auf dem Büroschreibtisch hinterlassene "Abschiedsbriefe" vorgelegt sowie eine mit weichem Bleistift auf hochwertigem Papier mit Wasserzeichen angefertigte Zeichnung.
     Das Bild wirkte wie die Illustration eines Märchens aus einem unbekannten Land. Am Himmel, der mit ein paar brötchenförmigen Wolken bemalt war, schwebte ein älterer Mann. Er nahm eine Haltung ein wie Akari, wenn er im Wohnzimmer auf dem Boden lag und komponierte, was Kogito davon überzeugte, dass es sich um ein Selbstportrait von Goro handelte. Obendrein hielt der in der Luft schwebende Mann in seiner linken Hand ein Handy, das genauso aussah wie der Schildkäfer, und sprach dort hinein ...
     Der märchenhafte Stil ließ Kogito an den psychoanalytischen Essayband denken, den Goro vor etwa fünfzehn Jahren herausgegeben hatte. Er war damals als Regisseur schon sehr beschäftigt gewesen und hatte mit dem Umschlag, den er sonst immer selbst entworfen hatte, einen jungen Maler beauftragt. Nicht der Inhalt rief Kogito dieses Buch in Erinnerung, sondern das Bild auf dem Einband, das er mit der Zeichnung assoziierte.
     Kurz nach dem Erscheinen des Bandes hatten sie sich getroffen, und Kogito hatte die Bemerkung fallen lassen, dass der Künstler den Stil eines populären Illustrators aufnehme, der zurzeit in den großen amerikanischen Zeitschriften Furore mache. Ohne Frage habe er die japanische Landschaft und die Figuren kunstvoll eingefangen, und auch der Stil des Vorbilds komme zur Geltung. Dürfe aber ein junger Künstler so seine Karriere beginnen? Er hatte eine einfache Frage stellen wollen, aber Goro hatte offensichtlich agressiv entgegnet:
     - Hast du nicht in deinen ersten Büchern genauso ausländische Künstler nachgeahmt, oder bist direkt von ihnen beeinflusst worden? Hier handelt es sich um ein Bild, und daher sticht es besonders ins Auge. Du dagegen bearbeitest auf Japanisch, was du aus dem Französischen oder Englischen und aus Übersetzungen rezipierst. Aber auch das ist ziemlich offenkundig und lässt sich bis zur ursprünglichen Form zurückverfolgen, oder etwa nicht?
     - Das stimmt, war Kogito zurückgewichen. Doch selbst in diesem Anfangsstadium besitzen junge Schriftsteller Originalität. Die müssen sie sich bewahren und sich des äußerlich geborgten Stils entledigen. Ein ziemlich mühsames Unterfangen.
     - Du hast dabei ohne Zweifel Erfolg gehabt. Doch in der Zwischenzeit hast du die große Leserschaft deiner jungen Jahre verloren. Das Dilemma ist dir doch bewusst, oder? Und wird es künftig nicht noch schwieriger? Dieser junge Künstler besitzt Talent und wird sich nicht auf eine Richtung festlegen. Er wird sich bestimmt weiter entfalten.
     Kogito dachte daran, wie ihn Goros eher boshafte als verärgerte Reaktion damals überrascht hatte. Goro gefiel wohl einfach die Malweise des jungen Künstlers, der den Einband gestaltet hatte. Als er am Ende seines Lebens dieses Bild malte, tat er es in einem Stil, der jenen amerikanischen Primitivismus wieder aufnahm ...
     Bald darauf glaubte Kogito, das Bild sei vielleicht ein an ihn gerichtetes Testament. Das Selbstbildnis Goros, der anstelle eines Handys den in der Luft schwebenden Schildkäfer in der Hand hielt und Kogito anrief.
     - ...Ich werde mich nun also ins Jenseits aufmachen. Aber ich breche das Gespräch mit dir nicht ab.

4

Kogito wollte die letzte Bahn nach Tokyo erreichen und lief in Richtung Japan-Railway-Station. Da wurde er plötzlich von dem ungeduldig wartenden Team eines Nachrichtensenders umzingelt. Als er versuchte, schweigend die Kette der Männer zu durchbrechen, traf ihn eine Fernsehkamera nur knapp neben dem linken Auge an der Nasenwurzel. Das herausfordernde Lächeln des Kameramanns - vielleicht ein Ausdruck der Verlegenheit - empfand er als unverschämt.
     Nachdem er die mit runden Steinen gepflasterte, lange Gasse am Hang des Mandarinenhains hinaufgelaufen war und ins Taxi stieg, meinte der Taxifahrer, der Goro anscheinend gut gekannt hatte:
     - Es heißt doch blutige Tränen weinen, das gibt es also wirklich! Und da merkte Kogito, dass seine eine Gesichtshälfte blutverschmiert war. Es schien ihm jedoch übertrieben, sich im Notfallkrankenhaus eine Untersuchungsbescheinigung zu holen und diese gegen den Kameramann zu verwenden - das heißt, er fand, es wäre eine unverhältnismäßige Reaktion gegenüber diesen Leuten von Presse und Fernsehen, die sie mehr als zehn Stunden lang belagert hatten. Der Eindruck, den Kogito in der kurzen Zeit seit Goros Tod von den Mitarbeitern der Fernsehanstalten, Zeitungen und Illustrierten gewonnen hatte, war eigentümlich. Er hatte nämlich das Gefühl, dass sie sich einig waren in ihrer Verachtung für den Selbstmörder.
     Diese Verachtung rührte aus ihrer Überzeugung her, der in der Welt der Medien zum König erhobene Goro sei gestürzt und werde nie mehr wiederkehren und zum Gegenangriff ausholen. Ihren geballten Ausdruck fand sie gegenüber Goros Leiche und war so groß, dass sie sich, als breche sie sich endlich Bahn, auf alle erstreckte, "die mit Goro in Beziehung standen", wie es die Medien formulierten. Bei seiner Rückkehr fand Kogito auf dem Anrufbeantworter die Anfrage einer Journalistin vor, die ein Interview mit ihm machen wollte und ihm bei früheren Treffen des Rezensionsausschusses immer freundlich begegnet war, doch was jetzt zum Vorschein kam, war eher nur die als Naivität getarnte Verachtung für den falschen König, dessen Autorität ins Wanken geraten war. Diese Erkenntnis relativierte das Verhalten des jungen Kameramanns, der ihm auf dem Rückweg die Verletzung neben dem Auge zugefügt hatte. Wenn sie alle diese große Verachtung teilten, warum sollte dann allein der unglückliche Kameramann juristisch zur Rechenschaft gezogen werden?
     Ich greife etwas vor, aber in der Woche nach Goros Todessturz sah sich Kogito früh morgens und auch am Nachmittag regelmäßig die ausführlichen Nachrichtensendungen an. Da niemand sonst aus der Familie sie sehen wollte, trug er den Fernseher ans Fußende seines Bettes in der Bibliothek und benutzte für den Ton die Kopfhörer des Schildkäfers. Er hatte erwartet, die Äußerungen des Moderators und die der Schauspieler und Schauspielerinnen, die in Goros Filmen gespielt hatten, sowie die der jüngeren Generation nicht richtig verstehen zu können, aber tatsächlich waren es die mit ihm fast gleich alten Filmregisseure, Drehbuchautoren und Kommentatoren von Kultur und Gesellschaft, deren Sprache er nur schwer begriff. Je mehr er sich zu konzentrieren versuchte, desto mehr entzog sich der Sinn des Gesagten seinem Verständnis. Er fragte sich, ob er vielleicht auf einer besonderen, einsamen Sprachinsel lebte, auf der er mittels seiner ihm vertrauten Bücher las und schrieb. Stärker als zuvor spürte er den Willen, seinen Beruf als Schriftsteller fortzuführen, aber in Wahrheit gab es keine Verbindung zu denen, die auf dem Sprachfestland lebten. Diese Erkenntnis flößte ihm Furcht ein und beunruhigte ihn. Trotzdem vertiefte er sich in die Fernsehbilder, drehte den Ton im Kopfhörer so laut, wie er es ertragen konnte, und verfolgte aufmerksam alle Sendungen. Doch nach einer Woche gab er es auf. Er stellte den Fernseher zurück ins Wohnzimmer und legte sich erschöpft aufs Sofa.
     - Ich habe mich schon gefragt, warum du deine Zeit damit vergeudest, sagte Chikashi.
     Kogito aber merkte bestürzt, dass es nicht nutzlos gewesen war. Denn an diesen Vor- und Nachmittagen, und auch in den alle zwei bis drei Tage ausgestrahlten Kultursondersendungen hatte er begriffen, dass Goros Tod in der Sprache des heutigen Fernsehens nicht erklärt und von der Gesellschaft folglich auch nicht verstanden werden konnte.
     Doch erst bei dem nächsten Gedanken schmetterten ihn der Schmerz und die Grausamkeit von Goros Tod erneut nieder. In den über zehn Jahren, in denen Goro sich immer weniger bei ihm hatte blicken lassen - sein Erfolg als Filmregisseur ließ ihm keine Zeit dazu -, hatte er in dieser Sprache gelebt. Am Schluss schickte er ihm die Kassetten, die er mit Worten besprochen hatte, die Kogito sich mit dem Schildkäfer anhören sollte. Bedeutete das nicht, dass Goro am Ende seines Lebens das Bedürfnis nach einer Sprache verspürt hatte, in der er sich ausdrücken konnte?
     Kaum hatte Kogito aufgehört, die Fernsehmeldungen zu Goros Tod zu verfolgen, als Chikashi jeden Morgen Qualen litt, wenn sie in der Zeitung auf die Illustriertenanzeigen stieß. Sie musste sich einfach diese Frauenzeitschriften kaufen, die in ihren Sonderbeiträgen zum vernichtenden Schlag ausholten. Es waren vor allem Berichte über Goros Frauengeschichten. Kurz bevor er sich zu Tode stürzte - dies war am späten Nachmittag geschehen, und als die Kassetten bei Kogito per Kurierdienst eintrafen, war er wohl bereits als nicht identifizierte Leiche eines unnatürlich zu Tode gekommenen Mannes bei der Polizei registriert worden -, hatte Goro tatsächlich in seinen mit Computer verfassten Abschiedsbriefen hinterlassen, dass ihm zur Widerlegung der Skandalstory, die demnächst in einer wöchentlich erscheinenden Illustrierten abgedruckt würde, kein anderes Mittel bliebe als der Einsatz seines Lebens. Chikashi hatte nichts dazu gesagt, aber Kogito war weder von den Abschiedsbriefen noch von den Artikeln überzeugt. Er fand keine Worte, um Goros Tod, den Tod dieses für ihn so besonderen Menschen, erklären zu können.
     Besonders wenig überzeugten ihn die Artikel, die Goros Tod auf eine Sackgasse in seiner Filmarbeit zurückführten. Ein Regisseur - früher hatte er als Schauspieler in Komödien mitgewirkt -, der gerade bei einem Filmfestival in Italien einen Preis gewonnen hatte und für die Promotion seines prämierten Filmes nach Amerika geflogen war, wo dieser anscheinend großen Anklang fand, hatte dort erklärt:
     - Vielleicht hat mein Preis Goro einen zusätzlichen Stoß versetzt, als er sich vom Dach stürzte. Was für ein mieser Kerl das doch ist, dachte Kogito nur, als er den Kommentar las.
     Nach und nach verloren Chikashi und er das Interesse an den Fernsehsendungen und Zeitschriftenartikeln. Sie stellten das Telefon auf Anrufbeantworter um, um dem ständigen Klingeln zu entkommen, und hörten die hinterlassenen Nachrichten nicht ab.
     Keiner der beiden sprach mehr über die Sache mit Goro, und obwohl sie beide wussten, dass der andere - sogar Akari wusste das von seinen Eltern - intensiv über Goro nachdachte, lebten sie einige Monate so, als widmeten sie sich ganz ihrer jeweiligen Arbeit, und gingen nicht aus dem Haus.
     Darüber hinaus entwickelte Kogito eine neue Gewohnheit, die er vor Chikashi geheim hielt. Er setzte seine Gespräche mit dem Schildkäfer, die er vor Goros Selbstmord etwa drei Monate lang geführt hatte - mit dem Feldbett in der Bibliothek als Bühne -, noch inbrünstiger und regelmäßiger fort.
     Bei diesen bis spät in die Nacht geführten Dialogen - so der Gedanke, der sich allmählich in Kogito festsetzte - gab es seit jenem Ereignis Regeln, die es einzuhalten galt.
     Zunächst durfte die Tatsache, dass Goro ins Jenseits gegangen war, mit keinem Wort erwähnt werden. Trotzdem vermochte Kogito es zu Anfang nicht, jenes Ereignis aus seinem Kopf zu verbannen, wenn er mit dem Schildkäfer sprach. Doch bald darauf kam ihm ganz automatisch eine neue Idee. War das Jenseits, in das Goro gegangen war, nicht sowohl räumlich als auch zeitlich ganz und gar von der hiesigen Welt unterschieden, und war, von dort aus betrachtet, nicht selbst der diesseitige Tod nichtig?

Teil 3

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