Vorgeblättert

Ian Buruma: Chinas Rebellen. Teil 1

24.08.2004.
ERSTER TEIL
Die Exilanten


1. Vom Tian?anmen in die Verbannung

Wir werden nie erfahren, wie viele Menschen in der schwülen Nacht des 3. und in den frühen Morgenstunden des 4. Juni 1989 ihr Leben verloren. Nach der Eruption hing über dem Platz des Himmlischen Friedens der strenge Geruch von brennenden Fahrzeugen, Geschützfeuer und kaltem Schweiß; Tausende von erschöpften Leibern drängten sich voller Furcht um das Denkmal für die Volkshelden mit seinen gemeißelten Reliefs früherer Rebellen: der Taiping, der Boxer, selbstverständlich der Kommunisten und auch der demonstrierenden Studenten vom 4. Mai 1919, die in "Wissenschaft und Demokratie" die Doppellösung aller politischen Probleme Chinas sahen. Das überdimensionale rosige Gesicht des Vorsitzenden Mao starrte von der Mauer der Verbotenen Stadt über die drei, vier Leichen, die seinem Porträt zu Füßen lagen. Leuchtspurgeschosse und brennende Autos ließen fahl orangefarbene Flammen gen Himmel lodern. Aus Lautsprechern ertönte bellend der Befehl, den Platz unverzüglich zu verlassen, sonst passiere etwas. Scheinwerfer gingen abwechselnd aus und wieder an. Und mitten in dem Getöse von Maschinengewehrsalven, berstenden Scheiben, Stiefelknallen, Angstschreien, heulenden Sirenen und rasselnden Panzerketten sangen Jugendliche, vor Erschöpfung krächzende Stimmen die "Internationale ", gefolgt vom patriotischen Schlager des Jahres, "Nachkommen des Drachen":

Im alten Osten wohnt ein Drache;
China mit Namen.
Im alten Osten lebt ein Volk,
Die Brut des Drachen.
In den Klauen dieses Ungeheuers wuchs ich auf
Und trat sein Erbe an.
Ob ich es will oder nicht -
Ich bin für immerdar ein Nachkomme des Drachen ?

Dieser Text, bei dem die übriggebliebenen Studenten in Tränen ausbrachen, beschwor sowohl den Stolz auf das "Chinesentum" als auch die damit einhergehende Beklemmung. Sänger und Komponist des Titels war Hou Dejian, ein taiwanischer Rockstar, der 1983 nach China umgesiedelt war, um sich in seiner "wahren Heimat" ganz chinesisch fühlen zu können. Doch bald ereilte ihn die Unterdrükkung, und er wurde zu einer Art Rock-Mentor der Tian?anmen- Bewegung, seiner letzten großen Hoffnung auf eine patriotische Lösung der Probleme Chinas. Als die ersten Schüsse fielen, entschieden sich einige Studenten, lieber zu sterben, als zurückzuweichen, doch Hou redete ihnen die sinnlose Selbstaufopferung aus und verhandelte mit der Armee, damit sie den Platz unbehelligt verlassen konnten. Später schob man ihn wieder nach Taiwan ab, wo er sich, von der offiziellen Politik angewidert, ganz in chinesische Volksreligionen vertiefte.
Am 4. Juni gegen fünf Uhr morgens war das Massaker von Peking weitgehend beendet, auch wenn Heckenschützen der 27. Armee, die letztmals zehn Jahre zuvor im Krieg mit Vietnam in Gefechte verwickelt waren, noch einzelne Demonstranten durch Kopf- oder Brustschüsse niederstreckten. Bis Tagesanbruch hatten sich die letzten Studenten in einer Reihe vom Platz zurückgezogen. Ihre Demonstrationen für Redefreiheit, unabhängige Gewerkschaften und die eigene Anerkennung als "Patrioten" waren gescheitert. Der Staat hatte keinerlei Konzessionen gemacht. Fünf Tage nach dem Blutbad lobte der oberste Herrscher Chinas, Deng Xiaoping, den Einsatz der Armee, die das Komplott "einer rebellischen Clique" zur Errichtung "einer ganz vom Westen abhängigen bürgerlichen Republik" erfolgreich niedergeschlagen habe.(1)
Verglichen mit den Hungersnöten, die der "Große Sprung nach vorn" des Vorsitzenden Mao zwischen 1958 und 1962 angerichtet hatte (mehr als dreißig Millionen Tote), sowie den regelmäßigen Säuberungsaktionen der fünfziger und sechziger Jahre gegen "Rechtsabweichler", "Revisionisten" und sonstige "konterrevolutionäre Elemente ", hielt sich der Blutzoll von Peking in Maßen. Die Regierung selbst und einige ausländische Journalisten nannten eine Zahl von etwa dreihundert Opfern, während andere Schätzungen auf mindestens das Neunfache kamen. Doch nie zuvor hatten Soldaten der Volksbefreiungsarmee ihre Waffen öffentlich gegen wehrlose eigene Bürger gerichtet, und das nicht nur in Peking, sondern auch in dreihundert weiteren Städten Chinas. Die meisten Opfer - der besagten Nacht und der folgenden Monate - waren keine Studenten, sondern einfache Bürger, exekutiert mit aufgesetzten Genickschüssen, für die man ihre Angehörigen auch noch bezahlen ließ. So war die Volksbefreiungsarmee auf ähnliche Weise gegen das eigene Volk vorgegangen wie Jahrzehnte zuvor sowjetische Panzerverbände gegen die Aufständischen von Budapest und Prag.
Seit die Tian?anmen Papers vorliegen, wissen wir vermutlich ein wenig mehr darüber, was sich damals in Zhongnanhai abspielte, dem an die Verbotene Stadt grenzenden Regierungsviertel. Als Anfang Mai einzelne Studentenproteste zu einer regelrechten Flut anschwollen, beharkten die Kommunisten einander dort im Klima von Intrigantentum und panischer Angst. Die vom Generalsekretär der Partei Zhao Ziyang angeführten "Reformer" traten für eine friedliche Lösung durch Verhandlungen mit den Studenten ein, doch die "Hardliner " hinter Premier Li Peng lehnten jeden Kompromiß ab. Am Ende gewannen sie mit Hilfe einer Gruppe alter Genossen, darunter halbe Analphabeten, die Oberhand. Dann fällte Deng Xiaoping als der erste Mann seine Entscheidung: Zhao mußte zurücktreten, und man würde den Konterrevolutionären keine Zugeständnisse machen. Ab dem 20. Mai stand Peking unter Kriegsrecht.
Die Studentenschaft war ebenso tief gespalten wie die Regierung. Einige Anführer wollten im Mai den Sieg ausrufen und den Platz verlassen. Andere verfochten - ermutigt durch frischen Nachschub aus den Provinzen und aufgehetzt durch radikalisierte Pekinger Intellektuelle, die auf Randale sannen - einen härteren Kurs: Hungerstreiks, kein Rückzug, keine Kompromisse mit egal welchen Staatsbeamten. Bis zu der Blutnacht traktierte man einander mit taktischen Scharmützeln und gegenseitigen Denunziationen, die sowohl in der Regierung als auch unter den Dissidenten und im Exil lebenden ehemaligen Studentenführern bis zum heutigen Tage anhalten.
Da man in China über nichts von alledem offen reden kann, fallen die giftigen Niederschläge von Tian?anmen sehr skurril aus. Die unter dem Titel The Tian?anmen Papers veröffentlichten parteiinternen Dokumente haben wahrscheinlich Angehörige des Reformerlagers kompiliert und außer Landes geschmuggelt, um Li Peng und seine Riege der Hardliner zu diskreditieren. Exil-Chinesen zerfleischen einander noch heute wegen der Niederlagen von 1989. Hätten sich die Studenten vor den anrollenden Panzern zurückziehen müssen? Oder der Regierung "das Gesicht wahren" helfen, um so Zhao Ziyang zu halten? Blieb ihnen überhaupt eine Wahl? Sind allmähliche, in der Partei selbst beginnende Reformen der einzig denkbare Weg? Oder bedarf es einer Revolution, um das Machtmonopol der Kommunisten zu brechen? Das wären wichtige Fragen, die jedoch allzuoft im giftigen Gebräu aus bösartigem Klatsch und übler Nachrede untergehen.
Mich interessierten diese Streitigkeiten nicht als Chronist von Tian?anmen, sondern ich wollte mehr über die Rebellen selbst und die Art ihrer Zwietracht wissen. Die politischen Ansichten der am Aufstand beteiligten Studenten, Intellektuellen, Arbeiter, Journalisten et cetera waren zu konfus, widersprüchlich und undurchschaubar, um simple Schlüsse zu erlauben. Und ihre zehn Jahre nach den Ereignissen von 1989 dazu abgegebenen Kommentare sollte man auch nicht beim Wort nehmen. Also haben wir nichts als Interpretationen, eine Rashomon-Story.* Wie immer in solchen Fällen sagen diese Deutungen mehr über ihre Urheber aus als über die Sache selbst, und um alles noch verwickelter zu machen, ändern sie sich im Lauf der Zeit mit den Umständen. Als erster Schritt in die Welt der chinesischen Rebellionen bot sich daher ein Rashomon des Tian?anmen an.
Die meisten prominenten Studentenführer vom Platz des Himmlischen Friedens leben heute im Ausland, ob in den Vereinigten Staaten, in Frankreich oder andernorts, wo sie sich älteren Dissidenten aus früheren Protestbewegungen angeschlossen haben und zusammen mit ihnen eine der größten politischen Enklaven der Geschichte bilden, vergleichbar mit jener der französischen Hugenotten im 17. Jahrhundert, der russischen Diaspora nach 1919, der deutschen nach 1933 oder der ungarischen und tschechischen in den fünfziger und sechziger Jahren.
Der sehr belesene Brillenträger Wang Dan hatte 1989 als reflektiertester unter seinen Kommilitonen dem Autonomen Studentenbund vorgestanden und war 1998 nach mehrjähriger Haft in die USA gegangen, um in Harvard Geschichte zu studieren. Chai Ling, die sogenannte Oberbefehlshaberin des Platzes, leitete 1999, bei unserem letzten Treffen, in Cambridge, Massachusetts, ein Softwareunternehmen. Feng Congde, der Ex-Mann Chai Lings, lebte in Paris und soll Gerüchten zufolge mehrere religiöse Episoden durchlaufen haben: Taoismus, Christentum, Buddhismus. Li Lu, auf dem Platz Chais "Stellvertreter", steht heute einem Investmentfonds in Manhattan vor. Wang Chaohua, 1989 einer der ältesten und politisch raffiniertesten Anführer des Studentenbundes, studierte in Los Angeles Sinologie. Zhang Boli, der am Vorabend des Massakers die sogenannte Demokratie-Universität des Platzes gegründet hatte, strebte ebenfalls in Kalifornien das evangelische Pfarramt an. Wu?er Kaixi, der Studentenführer mit dem Charisma eines Rockstars, moderierte im taiwanischen Rundfunk eine eigene Talksendung.
Chai Ling sah man fast einen Monat lang weltweit auf allen Bildschirmen: ein zierliches, zartes Mädchen, das immer ein schmuddeliges weißes T-Shirt und ausgebeulte Jeans trug und über ein Megaphon, hinter dem ihr Gesicht völlig zu verschwinden schien, die Menge ermahnte, unterhielt und herumkommandierte. Ihre Statur - das Megaphon in Jeans - wurde für jenes Jahr der Revolutionen ebenso zum Symbol wie die kurze Filmsequenz, in der ein junger Mann auf der Chang?an-Straße einen Panzer aufzuhalten versuchte. Sie zierte die Titelblätter von Magazinen. Ihre Äußerungen wurden auf Tonträgern verbreitet. In Hongkong kamen Chai-Ling-T-Shirts auf den Markt. Mit ihren erst 23 Jahren schien diese Psychologiestudentin, die damals gerade ihr Diplom machte, aus dem Nirgendwo aufgetaucht zu sein: Der politische Denker war ihr Mann Feng Congde, und sie folgte ihm. So jedenfalls hat sie es in Erinnerung. Doch auch Chai selbst bewies beachtliches Talent, andere zu führen. Das war einer der Hauptgründe, warum man sie als Figur aufbaute, um den Platz auf Linie zu bringen. Ihr seltsam anrührendes Äußeres - das einnehmende Lächeln, die locker sitzenden Tränen, die flehenden Augen - und ihre große rhetorische Begabung hielten, besonders als die Kampfmoral schwand, eine disparate, brüchige Armee zusammen.
Mit ihrer Rede vom 12. Mai veranlaßte Chai Hunderte von Menschen zum Hungerstreik, als sich die Regierung einfach über die Forderungen der Studenten nach einem öffentlichen "Dialog" hinwegsetzte, und mobilisierte die Solidarität von Tausenden. "Wir, die Kinder", quäkte sie mit einer vor Ergriffenheit brechenden Stimme, "sind zu sterben bereit. Wir, die Kinder, sind bereit, unser Leben für die Sache der Wahrheit einzusetzen. Wir, die Kinder, sind bereit, uns zu opfern." Wer hätte soviel Unschuld, soviel Reinheit widerstehen können? Chais tränenreiche Rhetorik des Blutopfers verdankte sich zwar in gewissem Maße der allgemeinen Studentenromantik, die Mao während der Kulturrevolution ausgenutzt hatte, doch hallte darin auch eine ältere, weniger durch Gefühlsduseleien als durch die Macht das Faktischen geprägte Tradition nach: Nicht selten hatten Kritiker des Kaisers ihr Leben als den hohen Preis für das Beharren auf der Wahrheit hingegeben. Tage nach dem Militäreinsatz, als Chai sich schon auf der Flucht befand, gelangte eine Tonbandaufnahme ihrer Erinnerungen an die letzten Stunden auf dem Platz ins Ausland. Die Studenten hätten mit Tränen in den Augen "Nachkommen des Drachen" gesungen, und dann "umarmten wir einander und nahmen uns bei den Händen, weil wir wußten, daß das Ende nahte. Es war an der Zeit, für die Nation zu sterben."(2)
Diese Botschaft wurde in Hongkong ausgestrahlt, doch eine Woche zuvor hatte sie eine weitere, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Erklärung abgegeben, die der amerikanische Reporter Philip Cunningham in einem Pekinger Hotelzimmer mitschnitt. Das Interview diente 1995 als Kernstück eines Dokumentarfilms über Tian?anmen, The Gate of Heavenly Peace. Darin sitzt Chai auf einem Bett, zusammengekauert, abgemagert und vor nervlicher Anspannung zitternd. Regierungstruppen waren in Peking aufmarschiert. Derweil stritten Fraktionen der Studentenbewegung über Taktik, Ziele, Hackordnung, Geld. Chai sagt schluchzend: "Meine Kommilitonen fragen mich laufend, 'Was sollen wir denn jetzt tun, und was können wir noch erreichen?'. Ich bin so traurig, denn wie soll ich ihnen erklären, daß wir in Wirklichkeit auf ein Blutbad hoffen, auf den Punkt, an dem die Regierung bereit sein wird, die Leute gnadenlos abzuschlachten? Erst wenn der ganze Platz im Blut schwimmt, wird das chinesische Volk die Augen öffnen. Erst dann wird es bereit sein, sich einen zu lassen. Doch wie kann ich so etwas meinen Kameraden erklären?"
Ich lernte Chai 1996 in Taiwan kennen, das wir beide anläßlich der ersten freien Präsidentschaftswahlen auf chinesischem Boden besuchten (über die ich einen Artikel schreiben wollte). Sie machte als eine politische Berühmtheit die Runde durch Talkshows und offizielle Bankette. Kaum vorstellbar, daß die Chai von Taipeh dieselbe Person war wie jenes hysterisch schluchzende Mädchen aus dem Pekinger Hotelzimmer von 1989. Ihre zarte Figur wirkte nun fülliger, die Schlitzaugen weiter, und sie war elegant im Stil einer amerikanischen Geschäftsfrau gekleidet: weißer Rock unter kastanienbraunem Blazer mit Goldknöpfen. Von ihrem chinesischen Mann geschieden, sprach sie nun leise in fast fehlerfreien amerikanischen Sätzen. Nur ihr süßes Grübchenlächeln erinnerte mich noch an die bekannten älteren Fotos.
Eines Morgens saßen wir beim Hotelfrühstück mit zwei Sino-Amerikanern zusammen, David und Gloria aus St. Petersburg in Florida. Der geschniegelte David in hellbeigen Hosen und die kleine, heftig weiß gepuderte Gloria hatten feste Ansichten über taiwanische Politik. Die Taiwaner seien offenkundig noch nicht reif für die Demokratie. Davon zeugten allein schon die Korruption und die hohe Kriminalitätsrate. Und dann dieser Präsident Lee Teng-hui, der besser Japanisch als Chinesisch spreche. War er überhaupt Chinese? Er werde doch eindeutig von Japan manipuliert, um China durch sein ständiges Gerede vom eigenen Weg Taiwans zu provozieren. Dann nahm sich Gloria meiner an, um mir zu erklären, warum die Chinesen weltweit geeint werden müßten. Doch ich hörte nur mit einem Ohr zu, weil mich die Beobachtung Chais völlig gefangennahm. Sie schwärmte David auf englisch eindringlich von "der Würde freier Wahlen" vor und betonte die Notwendigkeit "konstitutionell gezogener Grenzen der Macht", was David eindeutig irritierte. Das allerwichtigste sei doch, am Ziel des geeinten China festzuhalten. Während er gerade voll in Fahrt kam, schaute Chai plötzlich auf ihre klotzige goldene Uhr, strich den Blazer glatt und sagte lächelnd: "Entschuldigen Sie bitte, aber ich muß jetzt gehen. David, Gloria, ich möchte Ihnen versichern, daß ich Ihre Ansichten wirklich respektiere, und danke Ihnen für dieses ungemein fruchtbare Gespräch. Schönen Tag noch."
Vom Blutopfer zu Verfassungsmäßigkeit und "Schönen Tag noch": Die Verschiebung der Rhetorik und die gekonnte Präsentation waren bemerkenswert. Drei Jahre später sah ich Chai erneut. Wir trafen uns zu einem Cappuccino in einem netten Straßencafe in Cambridge, Massachusetts, wo sie seit ihrer Immatrikulation an der Harvard Business School 1996 lebte. Erneut beeindruckten mich ihr beflissener Charme, das Kokette und die Härte bei einer so schmiegsamen Gestalt. Mitunter gab es plötzliche Anzeichen von Mißtrauen - "Wer hat Ihnen das erzählt?", "Wozu wollen Sie das wissen?" -, doch auf solche Ausbrüche folgten stets ein Kopfschütteln, das Grübchenlächeln und die entwaffnende Zusicherung: "Na selbstverständlich traue ich Ihnen. Sie sind mir doch wohlgesinnt."
Wir sprachen über ihre Internetfirma, die Vorstände von Reebok und Microsoft unterstützten. Inzwischen waren die Parolen der amerikanischen Politikwissenschaft jenen des Big Business gewichen. Amerika sei "ein wunderbares Land voller Chancen für jeden, der sich abzurackern bereit ist". Mit dem Verkauf von Kommunikationstechniken an amerikanische Colleges strebe sie vor allem an, "ein Umfeld für den kreativen Ideenaustausch zu schaffen". Dabei standen ihr der republikanische ehemalige Finanzminister von Massachusetts als Partner und ihr früherer Chef in einer "Unternehmensberatung für globale Strategien" als Hauptberater zur Seite.
Chai überreichte mir einen Ordner mit Werbematerial, der auch Zeugnisse über ihre Laufbahn an der Harvard Business School und die "Führungsqualitäten" auf dem Platz des Himmlischen Friedens enthielt. Sie berichtete von ihren Plänen zur Befreiung Chinas über das Internet, schwärmte scherzhaft davon, reich genug sein zu wollen, um das Land kaufen zu können und es dann "auf Vordermann zu bringen". Doch obwohl sie sich nicht scheute, ihren Ruhm für Werbezwecke einzusetzen, weigerte sie sich hartnäckig, über die Vergangenheit zu reden. Als ich sie bat, einige der Ereignisse von 1989 mit mir durchzugehen, fragte sie zurück, warum mich "all dieser alte Kram, dieser Dreck" noch interessiere. Erforderlich sei vielmehr, "einen Ort zu finden, um ein schönes neues Leben aufzubauen". Mit Tian?anmen wolle sie nun "abschließen". Fröstelnd spürte ich, daß in dem netten Straßencafe der Geist Henry Fords über unseren Tassen schwebte. Chai, die einstige Ikone der Geschichte, war in eine Welt übergelaufen, die alle Geschichte für Mumpitz erklärt.
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(1) Zitiert nach George Black und Robin Munro, Black Hands of Beijing,
New York: John Wiley 1993.
(2) Zitiert nach Gregor Benton und Alan Hunter (Hg.), "Wild Lily", Prairie
Fire
, Princeton: Princeton University Press 1995.

* Berühmter Film des großen japanischen Regisseurs Akira Kurosawa von 1950, der eine im 8. Jahrhundert begangene Bluttat aus den vier verschiedenen Perspektiven der Beteiligten darstellt, ohne aufzulösen, welche davon der Wahrheit entspricht (A.d.Ü.)

Teil 2