Vorgeblättert

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter - Leseprobe Teil 2

11.07.2018.
- DREI -

Der Schritt vom zwielichtigen Händler zum angesehenen Oligarchen gelang meinem Großvater Anfang der dreißiger Jahre. Lettland war damals wie heute ein Land mit einer eigensinnigen, vorwiegend agrarischen Bevölkerung. Doch wegen seiner Lage an der Grenze des bedrohlichen Riesen Sowjetunion war der nach dem Ersten Weltkrieg unabhängig gewordene Staat natürlich strategisch interessant, und Riga, als Hansestadt seit jeher international ausgerichtet, war ein idealer Einsatzort für Spione, Korrespondenten und Diplomaten. Dieser Umstand verlieh der lettischen Politik eine viel größere Bedeutung, als ihr an sich zugekommen wäre. Es gab zahlreiche Intrigen, die von der Ausländergemeinschaft genau beobachtet wurden. Besonders im Jahr 1934, als wieder einmal eine Wahl anstand. Einer der Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten war Karlis Ulmanis, der sich schon 1905, als Lettland Teil des Zarenreichs war, für eine Loslösung von Russland eingesetzt hatte. Damals ohne Erfolg; nach kurzer Haft war Ulmanis in die Vereinigten Staaten geflüchtet, wo er an der Universität von Nebraska ein Studium der Agrarwissenschaft abschloss. Doch im Jahr 1913, gleich nachdem Zar Nikolaus II. eine Generalamnestie anlässlich der Dreihundertjahrfeier der Romanow-Dynastie verkündet hatte, kehrte er zurück. "Ich bin mit Lettland verheiratet", pflegte dieser leidenschaftliche Politiker auf die Frage zu antworten, warum er keine Familie gründete.

     Ulmanis war beim einfachen Volk sehr beliebt, hatte deshalb aber, wie jeder wusste, auch gefährliche Gegner sowohl in den Kreisen lettischer Industrieller als auch im deutschsprachigen Establishment der kurländischen Barone, die nichts unversucht lassen würden, um ihm im Vorfeld der Wahl ein Bein zu stellen. Mein Großvater hielt sich aus der lettischen Politik heraus - als Ausländer hatte er ja auch kein Wahlrecht -, verfolgte aber alle Entwicklungen genau, weil es für ihn als Geschäftsmann wichtig war, sich im Lager des künftigen Regierungschefs positionieren zu können. Der Zufall bescherte ihm eine ausgezeichnete Gelegenheit dazu.
     Eines Tages musste er geschäftlich nach Berlin reisen. Während er auf dem Flugplatz Spilve bei Riga in der Erste-Klasse-Lounge auf den Aufruf für seinen Flug wartete, nahmen zwei Männer an einem Nebentisch Platz. Offenbar sahen sie in meinem Großvater einen Ausländer: einen äußerst gepflegten Herrn, der eine deutschsprachige Zeitung las und keinerlei Reaktion auf ihr in lettischer Sprache geführtes Gespräch erkennen ließ - ein Deutscher auf dem Weg in die Heimat. Doch mein Großvater verstand und sprach Lettisch wie kein anderer in meiner Familie und verfolgte hinter seiner Zeitung mit wachsendem Interesse, was die beiden zu besprechen hatten.
     So erfuhr er, dass Ulmanis zur Finanzierung einer Wahlkampagne seiner Partei finanzielle Verpflichtungen eingegangen war, denen er nicht nachkommen konnte. Die beiden Männer waren anscheinend ausgezeichnet informiert, denn sie nannten genaue Zahlen und sprachen darüber, dass sehr bald der Moment komme, in dem sie die Angelegenheit öffentlich machen würden, um Ulmanis - offenbar kein politischer Freund von ihnen - in Misskredit zu bringen und seine Aussichten auf das Amt des Ministerpräsidenten zunichtezumachen.

     Mein Großvater brauchte nicht lange nachzudenken. Er verzichtete auf den Flug nach Berlin und begab sich unverzüglich in die Innenstadt von Riga, wo er Ulmanis aufspürte. Nachdem der Politiker den ersten Schreck überwunden hatte - natürlich hätte niemand von den finanziellen Schwierigkeiten wissen dürfen -, bot mein Großvater ihm ein zinsloses Darlehen an, mit dem sämtliche Schulden bezahlt werden konnten, was selbstverständlich streng geheimgehalten werden musste. Wenn Ulmanis' Gegner dann triumphierend ihre Enthüllungsgeschichte präsentieren würden, konnte man diese als dumme Falschmeldung abtun und ihre Verbreiter bloßstellen. Mein Großvater machte hierbei zur Bedingung, dass er auf keinen Fall als Finanzier genannt wurde. Schließlich hatte er selbst, wenn auch nur durch seine Heirat, gute Verbindungen zur deutschbaltischen Elite. Ein Beispiel für die Ambivalenz, die im Grunde für sein ganzes Leben kennzeichnend war: Nie wollte er sich offen und zu hundert Prozent festlegen, bei all seinem Tun und Lassen gab es eine andere Seite, die Rückseite des Spiegels, in den er die Menschen seiner Umgebung blicken ließ. Und manchmal war diese Rückseite dunkel.
     Schon bald zeigte sich, dass mein Großvater mit Ulmanis auf den Richtigen gesetzt hatte. Die Opposition verbreitete tatsächlich die Verschuldungsgeschichte, doch die erwies sich als Seifenblase, die leicht zum Platzen gebracht wurde, und Ulmanis wurde mit großer Mehrheit zum Ministerpräsidenten gewählt. Damals ging der Stern des Alten Herrn in Lettland auf.
     Ganz gleich, welche Vergünstigungen, Lizenzen oder staatlichen Darlehen er auch wünschte, der Ministerpräsident - der übrigens bald darauf durch einen Staatsstreich die Macht an sich riss, das Parlament auflöste und alle politischen Parteien verbot (Ähnliches geschah etwa zur gleichen Zeit in Estland und Litauen) - bewilligte alles, ohne Fragen zu stellen. So konnte mein Großvater einige Fabriken eröffnen und sich nun sowohl als Händler wie auch als Industrieller profilieren.      Natürlich brauchte es dazu Kenntnisse in Management und Budgetverwaltung, aber gerade dafür besaß mein Großvater offensichtlich eine natürliche Begabung. Innerhalb weniger Jahre ein regelrechtes Wirtschaftsimperium aufzubauen, zu dem eine Brotfabrik (strategisch bedeutsam für jede Regierung), einige Sägewerke, Beton- und Textilfabriken, eine kleine Flotte von drei Schiffen, eine eigene Bank und eine Handelsgesellschaft gehörten, wäre jedoch ohne die aktive Unterstützung durch das lettische Regime kaum möglich gewesen, ein Regime, dessen Ideologie doch eigentlich ein bäuerlich-reaktionärer Nationalismus, gepaart mit Ausländerfeindlichkeit war.
     Im Jahr 1939, als der Traum zerplatzte, war mein Großvater einer der angesehensten und reichsten Männer in Lettland. Er war inzwischen von seinem Stadthaus in der vornehmen Reimerstraße im Zentrum von Riga, wo unter anderem auch Präsident Ulmanis ein Haus besaß, auf ein kleines Landgut in Iļģuciems umgezogen, einem Stadtteil auf der anderen Seite der Düna; von dort aus waren die meisten seiner Fabriken zu Fuß zu erreichen.
     Auf diesem Landgut mit dem Namen Von Lomani ließ er eine stattliche Villa bauen, mit großem Schwimmbecken und Tennisplatz; am Rand des riesigen Gartens entstand eine Reithalle für seine drei Pferde Egli, Nora und Jurka. Da er sich bei manchen Transaktionen auch in Naturalien, das heißt mit Land, bezahlen ließ, konnte er 1937 ein noch viel größeres Landgut hinzuerwerben, Balta Muiza, zu Deutsch Weißenhof. Es hatte angeblich einst Katharina der Großen gehört und lag nicht weit vom Stadtzentrum Rigas entfernt in einer ruhigen Gegend mit vielen Bäumen. Dort wollte mein Großvater, gerade fünfzig geworden, eine Villa für einen geruhsamen Lebensabend bauen, was seine Frau jedoch entschieden ablehnte: Sie fühlte sich dafür noch viel zu jung, obwohl der Altersunterschied nur fünf Jahre betrug. Und so blieb Balta Muiza weiterhin ungenutzt.
     Als ich mich dort in den neunziger Jahren umschaute, wohnten auf dem Gelände mehr als zwanzigtausend Menschen, aufeinandergestapelt in chruschtschowki; das waren die nach dem früheren KPdSU-Vorsitzenden benannten hässlichen, bedrückenden Arbeiterkasernen aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
     Von Lomani dagegen wurde in den dreißiger Jahren zum Mittelpunkt vibrierenden gesellschaftlichen Lebens. Dazu gehörten Jahr für Jahr Dutzende von festlichen Partys, bei denen sich die Schönen und Reichen von Riga gerne sehen ließen. Im Esszimmer stand ein Tisch mit Platz für vierundzwanzig Personen; regelmäßig mussten die drei Haushälterinnen die Hilfe von Reichmanis, dem Pförtner, oder Purings, dem Stallmeister, die für diese Gelegenheiten feine Anzüge bekommen hatten, in Anspruch nehmen, damit die Herrschaften an der voll besetzten Tafel angemessen bedient wurden. Die Gesellschaft beschränkte sich dabei nicht auf Erwachsene: Die Freunde und Freundinnen meines Vaters Frans und meiner Tante Titty (die Zwillinge waren noch zu jung), ohne Ausnahme Jugendliche von adliger oder großbürgerlicher deutschbaltischer Herkunft, waren ebenso willkommen, und nicht selten erging sich auf Von Lomani in diesem letzten Vorkriegsjahrzehnt eine Jeunesse dorée in Smokings und festlichen Cocktailkleidern. Fröhliche, selbstsichere junge Leute, die sich nach dem Diner mit den mächtigen Vätern und strahlend schönen Müttern auf der Terrasse am Swimmingpool niederließen oder johlend in Autos mit Chauffeur zur Bar des Restaurants Otto Schwarz im Hotel de Rome aufbrachen, dem exklusivsten Nachtklub im damaligen Riga. Für Frans und seine Freunde stand Susterhoff, der Chauffeur der Münninghoffs, bis in die frühen Morgenstunden mit dem Cadillac bereit, damit die jungen Herren und ihre Freundinnen wohlbehalten nach Hause kamen. Der Alte Herr tat offensichtlich alles, um der nächsten Generation der Münninghoffs den Weg in die Welt der baltischen Happy Few zu ebnen. Ein Angebot, Wirtschaftsminister zu werden, hatte er unterdessen ausgeschlagen; er hätte die lettische Staatsbürgerschaft annehmen müssen, wozu er nicht bereit war. Es ist aber bemerkenswert, dass ihm die stark fremdelnden Letten, die grundsätzlich keine Ausländer in Machtpositionen wollten, überhaupt ein solches Angebot unterbreitet haben.

Leseprobe Teil 3