Vorgeblättert

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter - Leseprobe Teil 1

11.07.2018.
- ZWEI -

     Das Haus, in dem ich aufwuchs, war eine stattliche Villa in Voorburg. Sie steht noch heute, hat aber ihren großen, geheimnisvollen Garten zum größten Teil an vordringende Wohnkomplexe verloren. Den Garten des Jahres 1948 durchstreifte ich stundenlang. Bevor  ich damit anfing, nahm ich vom hinteren Balkon aus mein Landgut in Augenschein, wobei ich meistens einen kunterbunten russischen Schal meiner Großmutter als Zeichen meiner Grafenwürde um die Schultern trug. Es herrschte eine trügerische Ruhe, doch ich spürte, dass man mich belauerte. Ich hatte das Gelände heimlich erkundet und kannte nach einiger Zeit die Positionen meiner Feinde genau, wählte Stellen aus, an denen ich sie verdeckt beobachten konnte, und erwog sorgfältig die Taktiken, mit denen ich die in nächster Zukunft unabwendbare Entscheidungsschlacht gewinnen würde. Dafür brauchte ich einen Verbündeten. Eigentlich hätte sich hier Freddy angeboten, aber er war leider häufig unauffindbar. Wie oft hatte mein Großvater nicht schon Anzeigen in die Zeitung gesetzt, wenn Freddy wieder einmal von der Bildfläche verschwunden war! "Warum hast du ihn denn laufen lassen?", fragten mich dann alle fassungslos. "Weil er mich darum gebeten hat", antwortete ich jedes Mal, und das stimmte auch. Auf Freddy war also kein Verlass und Freunde hatte ich noch nicht.

     Im Januar 1940 hatte es die Familie nach einer überstürzten Flucht aus Riga, der Stadt, in der sich Opa fast ein Vierteljahrhundert zuvor niedergelassen hatte, nach Voorburg verschlagen. Seinem Geburtsort Laren und den Niederlanden hatte er bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs den Rücken gekehrt. Die Beweggründe dafür sind immer weitgehend im Dunkeln geblieben. Glaubte man Xeno, der ihn von all seinen Kindern sicher am besten kannte, so hatte ihn eine zutiefst pazifistische Einstellung ostwärts getrieben: "Er befürchtete, dass die Niederlande in den Krieg hineingezogen würden und dass er dann kämpfen müsste. Das lehnte er prinzipiell ab." Ich war damals noch zu jung, um die naheliegende Frage zu stellen, warum er dann ausgerechnet nach Lettland gegangen war, in ein umstrittenes Gebiet am Rande des brodelnden, revolutionären Russland. Auch später habe ich nie nachgefragt; vielleicht, weil ich mir meinen Großvater unbewusst möglichst rätselhaft erhalten wollte, aber auch, weil ich inzwischen eine ebenso sonderbare wie romantische Erklärung aufgeschnappt hatte.
     Opa war zunächst nach Dänemark gegangen, um dort eine Exportfirma für Gemüse und Obst zu gründen. Obwohl mich diese Art Betätigung wegen ihrer vermeintlichen Spießigkeit mit tiefer Scham erfüllte, konnte ich noch ein gewisses Verständnis dafür aufbringen. In Kriegszeiten sind landwirtschaftliche Produkte nun einmal knapp, auch die Nachfrage nach Äpfeln und Hülsenfrüchten steigt. Dass mein Opa, als das Geschäft gut angelaufen war, noch andere, für kämpfende Armeen wichtige Dinge ins Sortiment auf nahm, erschien mir schon viel interessanter. Er hatte von den Gewinnen aus dem Gemüse- und Obsthandel einen Trawler erworben, mit dem er eine Reihe von Ostseehäfen anlief und dort eine unbekannte, gerade deshalb aber für mich aufregende Ladung löschte. Die Waren bezog er von ebenso obskuren Zwischenhändlern in Antwerpen.
     Auf einer dieser Fahrten, im Jahr 1917, steuerte er die alte Hansestadt Riga an. Vor der Abfahrt von Kopenhagen hatte ihm ein dänischer Bekannter, der junge Arzt Arnold Berg, einen Brief für eine russische Gräfin mitgegeben, die den eigenartigen Namen Erica Fanny von Schumacher trug. Berg hatte diese junge Frau im Vorjahr in Astrachan am Kaspischen Meer kennengelernt, wo sie als Krankenschwester russische Verwundete pflegte. Berg, damals Leiter einer internationalen Rotkreuz-Einheit, hatte sich bis über beide Ohren in die stämmige Suffragette verliebt, die so ganz und gar dem traditionellen nordeuropäischen Idealbild der Frau zu entsprechen schien: selbständig, energisch, ausgesprochen geistreich und originell. Nicht außergewöhnlich hübsch, aber sehr weltzugewandt und warmherzig.
     Ihr Aufenthalt in Astrachan, tief im russischen Hinterland, hatte einen Grund, der sie noch anziehender machte: Für die adlige junge Dame war sehr zu ihrem Missfallen eine Ausbildung am Sankt Petersburger Smolny-Institut zur Vorbereitung auf ein Leben als Hofdame vorgesehen - ihr Vater war Hofrat bei Nikolaus II. -, doch als die Kutsche, die sie abholen sollte, zu Hause vorfuhr, siegte der Widerwille der jungen Frau gegen den hohlen Pomp der Romanows, und sie versteckte sich in einem Schrank. Zum Glück verstanden ihre Eltern dieses Signal richtig; sie drängten sie nicht weiter und besorgten ihr (im Zarenpalast hatte man damals andere Sorgen) eine "Ersatzdienststelle" im Hinterland-Lazarett von Astrachan. Dort begegnete sie Dr. Berg. "Er war nichts Besonderes", vertraute sie mir ein halbes Jahrhundert später an. "Ein guter Arzt, das ja, aber sonst ein prostak, verstehst du, Bulizy. Ein Einfaltspinsel." Natürlich hatte sie bemerkt, dass sich dieser dänische Einfaltspinsel hoffnungslos in ihren Netzen verstrickt hatte.
     Als dann aber der niederländische Kaufmann Joannes Münninghoff in Riga Arnold Bergs Brief - der außer Liebesschwüren bestimmt schon Einzelheiten zu den Hochzeitsvorbereitungen enthielt - der Gräfin von Schumacher persönlich aushändigte, hatte das für gleich drei Menschen weitreichende Folgen. Mein Großvater begegnete seiner großen Liebe erklärte, nicht mehr ohne sie leben zu können, die junge Gräfin konnte seiner Überzeugungskraft nicht widerstehen, und Berg wurde stillschweigend abserviert. Die Ehe zwischen Joannes Münninghoff und Erica von Schumacher wurde am 19. Oktober 1919 im Dom zu Riga geschlossen.
     Mein Großvater war damals schon recht vermögend. Noch nicht so außergewöhnlich reich, wie er es fünfzehn Jahre später dank einer sonderbaren Laune des Schicksals werden sollte, aber er gehörte bereits der obersten Schicht jener Ausländergemeinschaft in Lettland an, in der deutsche, skandinavische und niederländische Händler den Ton angaben. Wie er das in so kurzer Zeit fertiggebracht hat, ist nie ganz klar geworden.
     Als Zwölfjähriger, der endlich auch eine Antenne für Familienklatsch hatte, bekam ich bei Geburtstagsfeiern manchmal erbitterte Diskussionen über die damaligen Aktivitäten des Alten Herrn mit, der inzwischen schon einige Jahre tot war. "Natürlich hat er mit Waffen gehandelt", sagte Onkel Jimmy, der Zwillingsbruder von Onkel Xeno und mit Abstand der Klügste unter den Geschwistern. "Was dachtest du denn? Dass seine Schiffe Tomaten und Salatgurken transportiert haben? Der Krieg war eine einmalige Chance für ihn. Und diese Chance hat er bestimmt genutzt. So war er." Das mussten die anderen zugeben, sogar Xeno, der sich als Einziger gut mit Opa verstanden hatte und ihn verehrte.
     "Chancen, ja. Aber müssen es unbedingt Waffen gewesen sein?", entgegnete Xeno. "Decken oder Feldflaschen, das wäre doch auch denkbar!"
     Darüber mussten alle lachen, vor allem Trees, Xenos rothaarige Frau aus dem vornehmen Wassenaar, die für ihren Sarkasmus berüchtigt war. "Ja, oder vielleicht Feldmützen oder Kondome!", kreischte sie, weshalb Xeno wütend wurde und mit zitternder Unterlippe ausrief: "Es ist eine Schande, wie ihr hier über meinen Vater herzieht!"
     Seinen Vater. Heute wundert es mich, dass sich niemand in der albernen Runde diese Worte lustig machte, wie es mich auch wundert, dass im Grunde niemand den Alten Herrn wirklich kannte.
     In der Familie hielt sich nämlich hartnäckig das Gerücht, dass die Silvesterfeier am 31. Dezember 1924 im Hause Münninghoff in Riga aus dem Ruder gelaufen und in ein wüstes Bacchanal ausgeartet sei, in dessen Verlauf die Ehegatten und ihre ungefähr dreißig Gäste in munterem Wechsel die zahlreichen Schlafzimmer des Hauses aufsuchten. Das wäre durchaus im Einklang mit dem Zeitgeist gewesen, der in jenen Jahren von melancholischen Nachwehen des Großen Krieges in eine Art ausgelassene Zügellosigkeit mit viel sexueller Freiheit und Experimentierlust umschlug. Die Folgen schienen sich in unserer Familie im September 1925 zu zeigen, als meine Großmutter die Zwillinge Xeno und James zur Welt brachte.
     Bei jedem Besuch, den die Wöchnerin empfing, waren Ausrufe ungläubigen Staunens zu hören, denn Zwillinge, die sich so wenig ähnlich waren, hatte niemand je gesehen. Dass die beiden Jungen, wie sich schnell herausstellte, verschiedene Blutgruppen hatten, gab natürlich den sofort aufkommenden Gerüchten zusätzliche Nahrung. James - er bekam schon an einem der ersten Tage den Kosenamen Jimmy, den er sein Leben lang behalten sollte - war dunkelhaarig und hatte einige typische äußere Merkmale der Familie, Xeno dagegen war hellblond und ähnelte eher ... tja, wem eigentlich? Schalkhafte Anspielungen wurden in Gegenwart meines Großvaters selbstverständlich vermieden, aber jeder, der sich noch an die Gästeliste erinnerte, gelangte bald zu dem Schluss, dass die Gräfin nach oder vor einem Liebesakt mit ihrem rechtmäßigen Gatten in derselben Nacht auch dem Charme eines der Hausfreunde erlegen war, eines gewissen Hermann Sänger.
     Sänger, ein Marineoffizier aus der baltischen Oberschicht, hatte in Riga ein Imperium von Sägewerken und Mehlfabriken aufgebaut und meinem Großvater, dem jungen Niederländer, in den ersten Jahren seiner lettischen Geschäftsabenteuer mehrmals geholfen. Obwohl es hier natürlich auf beiden Seiten immer um wirtschaftliche Vorteile ging, hatte sich zwischen den Männern außer einer Geschäftsbeziehung auch eine echte Freundschaft entwickelt. Es war außerdem ein öffentliches Geheimnis, dass Erica Münninghoff und Lotte Sänger beste Freundinnen geworden waren, die hin und wieder gemeinsam auf Männerjagd gingen. Meistens beließen sie es bei intensiven Flirts, aber nicht immer.

Leseprobe Teil 2