Hans Ulrich Gumbrecht

1926

Ein Jahr am Rand der Zeit
Cover: 1926
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001
ISBN 9783518583005
Gebunden, 540 Seiten, 39,88 EUR

Klappentext

Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Hans Ulrich Gumbrecht entwickelt seine Reflexion über die Repräsentation der Geschichte am konkreten Material. Es sind nicht die vermeintlich großen "historischen" Ereignisse, sondern vielfältige Details und kulturelle Phänomene, die im Mittelpunkt stehen. Gumbrecht geht von den Alltagsgegebenheiten wie Bars und Hotelhallen, Boxkämpfen und Flugzeugen, Stahlkonstruktionen und Filmen, Romanen und Automobilen aus und entwirft ein dichtes Panorama des kulturellen Lebens der Zwischenkriegszeit. Der Leser kann in diesem Buch, das wie ein Wörterbuch oder Hypertext mit zahlreichen Querverweisen angelegt ist, eigene Pfade verfolgen und das Jahr 1926 erkunden. Diese Zeitreise lässt ihn aufs neue Hitchcocks ersten Film entdecken, Kafkas "Schloß", Benjamins "Einbahnstraße", Schnitzlers "Traumnovelle" und A.A. Milnes "Winnie-the-Pooh" mit den Augen der Zeitgenossen lesen und zeigt ihm Heideggers epochales Buch "Sein und Zeit" in seinem historischen Kontext.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.07.2001

Für Christoph Ribbat handelt es sich hier um ein interessantes Experiment, bei dem der Autor "austauschbare Kapitel" über Szenen aus dem Jahr 1926 aneinandergereiht habe, die ohne chronologische Bedeutung sind. Gumbrecht fordere auf zum "Zappen", was das Ganze nach Ribbat "ausgesprochen aktuell" macht. Wie der Leser erfährt, sind den Themen kaum Grenzen gesetzt: Es geht um Boxen, Philosophie, Ozeandampfer, Hitler, Pomade, Filme und vieles mehr, wobei es der Rezensent besonders zu schätzen weiß, dass Gumbrecht nicht nur Europa oder gar Deutschland im Blick hat, sondern auch Orte und Kulturen anderer Kontinente. Bedauerlich findet Ribbat es allerdings, dass die wichtigsten Texte des Buchs von Männern stammen, von "weißen Männern" genauer gesagt. Doch insgesamt ist das Buch für ihn mehr als eine "bunte Nummernrevue" aus Tangos und Toreros, auch wenn er die ein oder andere philosophische Auseinandersetzung etwas zu "verstaubt und (...) didaktisch" findet. Summa summarum hat Ribbat hier "interessante Begegnungen zwischen Hoch- und Alltagskultur" ausgemacht.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 16.05.2001

Dieter Thomä hat das Buch vor einigen Jahren bereits im Original gelesen und gesteht, dass er vor der erneuten Lektüre - nun in deutscher Sprache - nicht frei von Befürchtungen war, das Buch könne "von seinem Reiz" inzwischen etwas verloren haben. Doch dies ist offensichtlich in keinster Weise eingetreten. Eine der großen Stärken dieses Buchs sieht Thomä in Gumbrechts gänzlichem Verzicht auf "eigene, künstlich hergestellte Effekte" und der "schlichten Rhetorik des Berichts". Dies trägt nach Ansicht des Rezensenten erheblich dazu bei, eine beeindruckende Nähe zu der beschriebenen Zeit herzustellen, die Thomä geradezu plastisch vermittelt sieht. Gumbrecht sei es gelungen, vor allem die Atmosphäre dieser Zeit einzufangen, und zwar ohne "Geschichtslogik (...), Vereinnahmungen der Nachwelt (...), Entwicklungsprognose". Gut gefällt dem Rezensenten außerdem, dass Gumbrecht sich nicht nur was seine eigene Person betrifft hier sehr zurückhält, sondern auch "anderen Spielformen des Biografie-Kults dieser Tage" entsagt. Bedauerlich findet Thomä lediglich, dass das Buch bei seinem Erscheinen in den USA nicht die Debatte ausgelöst hat, die es seiner Ansicht nach verdient hätte. Ein großes Lob sendet Thomä auch an die Adresse der Übersetzers Joachim Schulte.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 21.04.2001

Es sind die Gleichzeitigkeiten, so der Rezensent Niels Werber, denen die an Abfolgen interessierten Analysen der (Geschichts- und anderer) Wissenschaften am schwersten auf die Schliche kommen. Hans-Ulrich Gumbrecht hat aus der Geschichte eine Scheibe der Gleichzeitigkeit herausgeschnitten, beschränkt sich in seinem Zeitpanorama auf ein einziges Jahr, 1926 - und fragt nach der Gemeinsamkeit der Ereignisse, "die zunächst nichts gemein haben als die Zugehörigkeit" zu diesem Jahr. Was er findet, sind, mit einem Begriff von Michel Foucault, "Dispositive" - also bereits ins unthematisierte Selbstverständnis eingelassene Vorannahmen und Denk- und Handlungsvoraussetzungen. Ein solches Dispositiv, das Gumbrecht aufspürt, ist die "Ideologie der totalen Planbarkeit aller materiellen, sozialen und psychischen Prozesse" - zitiert werden hier Texte von Asja Lacis bis Ludwig Wittgenstein, von Walter Gropius bis Bertolt Brecht. Methodisch, so Werber mit Gumbrecht, ist das die Annäherung an die Geschichte über das Prinzip des Hypertexts: Man klickt sich von (überraschender) Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit, das Dispositiv bildet sich über Häufigkeiten gemeinsamen Auftauchens disparater Gegenstände. So können etwa Hitler und Kafka in ihrer Gemeinsamkeit der Bürokratiefeindschaft in einen Zusammenhang gebracht werden. Des partiell Willkürlichen seines Vorgehens ist sich Gumbrecht bewusst, es geht ihm um die Erzeugung der "Illusion der direkten Vergangenheitserfahrung" und der Rezensent hält dieses Vorhaben für "grandios gelungen".

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 07.04.2001

Gelehrt und geschraubt, das sind zwei Charakterisierungen in dieser Besprechung, die so gar nicht zu der Euphorie passen wollen, mit der Fritz Göttler über das Buch ("ein Passagenwerk ... ein intellektueller Erlebnispark, eine furiose Anthologie der leichten Blicke") schreibt. Wermutstropfen, mehr nicht. Denn Göttler nimmt die Idee des Autors, den Alltag des Jahres 1926 wiederzubeleben, anstatt eine Chronik zu verfassen, begeistert an: Das alte Dilemma der Geschichtsschreibung - gemeint ist ihre Materie, "die Vergangenheit ist und doch irgendwie auch uns gehören soll" -, sei hier gelöst durch das Angebot, locker einzusteigen in das Spiel des Hier und Dort, des Anderen und des eigenen Ich. Ganz ohne Subjekte und Ereignisse gehe das vonstatten, ohne Gesetze und Genealogie und ohne Prognose auch, "die immer nur extrapoliert aus dem, was wir wissen von der Vergangenheit". Bei solcherart geschürtem Verlangen nach Lebenswelt bedauert es der Rezensent, "dass nicht alle Sinne an diesem Buchprojekt beteiligt sein können".
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