Vorgeblättert

Alia Mamduch: Die Leidenschaft. Teil 3

10.09.2004.
Meine Situation besserte sich nicht. Auch bei Mussaab gab es keine Änderung, bis er mit einer Delegation nach Grossbritannien reisen sollte, um Spezialausrüstungen für die Eisenbahn zu kaufen, das war kurz vor dem Putsch gegen seine Partei. Unterdessen versuchte ich herauszufinden, was da eigentlich zwischen Mussaab und meinem Körper, meinem Mund, meiner Zunge abgelaufen war. Wer hatte mir befohlen, den Mund zu öffnen, woher kam der elektrisierende Ruck, der meine Lippen aufsprengte? O ja, ich erschauerte, und ab und zu stammelte ich seinen Namen. Doch seine Stimme vernahm ich nicht. Er sprach kein Wort und schaute an mir vorbei. Ich schmiegte mich immer wieder in seine Arme, um Blicke und Küsse mit ihm zu tauschen. Minuten später wurde uns dann wirklich schwindlig. Nun, ich blieb Jungfrau, aber meine Haut war parfümiert mit Tabakduft.
Wenn ich heute daran zurückdenke, erinnere ich mich an mein erstes Foto, ich kam gerade in die Pubertät. Mein Gesicht sagte absolut nichts über mich aus. Nicht einmal, ob ich ein Junge oder ein Mädchen war. So neutral verhielt ich mich meistens auch mit ihm. Dieser vage Schwebezustand schürte seine Leidenschaft. Ich besitze zwei Anlagen, ständig muss ich Wege anlegen, einen neuen bahnen, einen alten erweitern ? Ach, Buthaina! Es ist so herrlich, sich etwas Verbotenes vorzustellen! Es ist die ideale Art, genüsslich und doch in grösster Reinheit seine Zeit zu verbringen. In jener Dachkammer habe ich zum erstenmal gespürt, dass ich Mussaab liebe, ihn selbst und nicht den Generaldirektor oder den Kämpfer. Jawohl, den Mann, warum auch nicht? Es gab keinen Zweifel mehr, weder an meiner Liebe noch an meiner Bereitschaft, jedes Verbrechen zu begehen, um zu ihm zu gelangen.Vor seiner Abreise nach London kam er, um einen Heiratsantrag zu machen. Grossmutter wechselte gleich das Thema, sie sagte: "Wenn Sie wieder zurück sind ?" - "Nichts da", erwiderte er. "Hier sind fünfhundert Dinar, und für sie ?" Sein Ton war freundlich, aber bestimmt. Während er weiterredete, schaute er mich an. Elend sah er aus in jener Nacht. Provoziert von den heftigen Vorwürfen, die mich nach dem Putsch gegen seine Partei trafen, konnte ich gar nicht anders, als ihn und seine Tugenden und Qualitäten zu verteidigen. Alle Augenblicke verwandelte ich mich, war mal er, mal ich. Kaum hörte ich ihm zu, sprach ich schon wieder. Wollte ich einschlafen, half er mir, durchzuhalten und wach zu bleiben. Frühmorgens krähte ich dann mit meiner Hahnenstimme los und weckte alle anderen.
Wir sehen die Liebe nicht von Angesicht zu Angesicht, und doch gewährt sie uns ein beständiges Gegenüber, das uns ermöglicht, Schwierigkeiten zu überwinden, Widersprüche auszutragen und vor allem Stärkere herauszufordern. Selbst heute, wenn ich mich der Qualen erinnere, die mir die Liebe bereitete, bringe ich kaum den Mut auf, mich ihnen zu stellen. Und dennoch - während ich unablässig meine Fesseln vor mir ausbreitete, erlosch niemals jener helle Funke in meinem Gesicht. Wie immer es enden würde, mit Heirat oder wilder Ehe, ich musste Ruhe bewahren und zugleich wachsam bleiben vor Mussaabs Schönheit. Gerade erst neunzehn, war ich einer solchen Schönheit ausgeliefert. Ach, Buthaina, wenn Du wüsstest, wie schön Mussaab gewesen ist! Und er war wie geschaffen für mich, in jener dämmrigen, teuflischen Kammer. Süsse Zeit der Musse - das war Mussaab. Er erfüllte jede Leere, jedes Zimmer, ja, ich hätte für ihn all die hier und da verstreuten Wohnungen meiner Familie räumen müssen, wäre er eines Tages bei uns eingekehrt. Von dort oben konnte ich die Nachbarn bei ihrer Unterhaltung beobachten und flüchtige Bekannte vorbeilaufen sehen. Ging es Dir auch einmal so mit Menschen, die Dir nahestehen? Du versuchst nur, dir Raum unter ihnen zu verschaffen, und zerstörst dabei deine Familie.
Ich war also entschlossen zu fliehen, zum allerletzten Mal, wie ich Dir sagte. O nein, ich wollte mich nicht umbringen. Ich musste ihn nur unbedingt wiedersehen. Begegnung heisst Herausforderung. Selbstmord wäre Spiegelfechterei gewesen, das hätte mich nie zu ihm geführt. Begann hier meine Eigenliebe? War die Flucht zu Mussaab bloss eine Illusion? Konnte sie beliebig oft wiederholt werden, auch mit anderen Männern? Jetzt, da ich den Namen des einstigen Geliebten niederschreibe, drängen sich die alten Worte auf. Und doch behalte ich nicht mehr von ihm als der Wurm von der Erde und der Geizhals vom Reichtum.
Eben kam Masin zurück und sah mich schreiben. Ich sagte: "Anscheinend bin ich doch nicht vom Rauchen geheilt. Wenn du wüsstest, wie ich mich jetzt nach einer Zigarette sehne!" Er antwortete nicht, sah mich nur an. Tabakgeruch findet er unerträglich. Über mich gebeugt, sagte er: "Das Flugzeug landet in einer Viertelstunde. Bist du soweit?" Ja, ja, gleich.
Nach zwei Wochen liessen sie mich frei. Wie heisst es: "Misserfolge verhehlt man gern." Mein Triumph aber überstrahlte alles: die Miene, den Körper, die Wangen, den Gang ? Glaub mir, Buthaina, ich sah damals sehr sonderbar aus, blitzsauber und milchweiss - wie ein ausserirdisches Wesen. Ich schlug vor niemandem die Augen nieder. Mir war, als stünde ich im Zentrum der Welt und der Leidenschaft. Ich hatte keine Ähnlichkeit mehr mit meinen Familienangehörigen, ob Mädchen oder Jungen. Und ich war voller Tatendrang.
Schau mich an, Buthaina. Besser, Du vertraust mir nicht völlig. Bleib immer skeptisch. Ich bin es, die sich mit Geduld wappnen muss, und mir rede ich zu, nicht Dir. In jenen Stunden nahm ich mir vor, ihm bei unserer Umarmung ins Ohr zu flüstern: "Was mir geschah, ist niemandem geschehen." Wir bilden uns ein, die einzigen Menschen zu sein, die so grosse Qualen erleiden, als wäre kein anderer ihrer würdig. Wir, die in den "Vororten des Zorns" wohnen, lauschen den Predigten der alten Gottheiten. Wir sind zu Gast bei unsresgleichen, den Gefährten der Schmach, die das Gift tropfenweise zu sich nehmen, um länger in der Agonie zu verweilen, auf dass der Tod nur ein zeitweiliger Aufenthalt sei, die ewige Endstation aber das Leben.
Wer könnte behaupten, meine Ehe sei gescheitert oder unsere Ehe habe ausgedient? "Der Erfolg eines Vorhabens erwächst aus seinem Scheitern." Mussaab erscheint letztendlich als ein Eroberer aus alten Zeiten. Zweifellos ist er darin ganz der Sohn seines Vaters, des irakischen Kämpfers, der sich über die Initiativen von Sir Lawrence ärgerte und die Lügen der Engländer zutiefst verabscheute. Mussaab kann jede Frau, ausgenommen vielleicht Huda, gegen eine zweite oder dritte, ja gegen eine Vielzahl junger Mädchen aus allen Nationalitäten eintauschen. Es macht ihm Spass, jemandem in die Beine zu schiessen, das hat er immer getan, mit mir und mit anderen. Wieviel Patronen mag er nachgeladen haben, wenn er jetzt in Begleitung von Frau Widad anreist? Die Durchsage gibt bereits die Ankunft des Flugzeugs aus Amman bekannt. Buthaina, nun werden die langen Stunden des Wartens auf diesen schönen Mann, diesen "Dschamîl", belohnt. Nein, ich spreche nicht von Dschamîl, meinem Vater, den Diabetes, Verrücktheit und dumme Gutmütigkeit zugrunde richteten und den seine Krankheiten doch nicht daran hindern konnten, vier Frauen zu heiraten. Er war nicht schlimmer als Mussaab. Was meinst Du, ob mein Vater nicht sogar ein wenig Lob verdient, ja zehnmal mehr als manch anderer Familienherrscher? Und ich behaupte: Mein Vater war schön, und Mussaab ist es auch! Die Schönheit entgegnet: "Doch nicht so schön wie früher." Auf Wiedersehen.

Huda

Mit freundlicher Genehmigung des Lenos-Verlages

Informationen zum Buch und Autorin hier