Im Kino

Sprache und Sprachbeherrschung

Die Filmkolumne. Von Kamil Moll
01.11.2023. Ein 50-Cent-Cover wird in Justine Triets Cannes-Gewinnerfilm "Anatomie eines Falls" zum Ausgangspunkt eines Mordprozesses; sowie einer Reflexion über die Verstrickungen von Wahrheit, Fiktion und Sprecherpositionen.


Der durchdringendste Sound des Films erklingt bereits zu Beginn: Die Autorin Sandra Voyter (Sandra Hüller) sitzt im Wohnzimmer einer Berghütte unweit von Grenoble einer Doktorandin gegenüber, die sie für ihre Dissertation befragen möchte, als zwei Stockwerke höher ein laut pochender Rhythmus einsetzt - ein Instrumental-Cover von 50 Cents "P.I.M.P.", gespielt von der Bacao Rhythm & Steel Band. Sandras Ehemann Samuel (Samuel Theis) arbeitet am Umbau des Dachgeschosses und hört dabei Musik. Das durch die dröhnende Lautstärke verzerrte, unsaubere Scheppern der Steel Drums überlagert nicht nur die von Bläsern übernommene Melodielinie, sondern drängt sich insistent in das Gespräch. Als das Stück nach einigen Minuten wieder von vorne beginnt und dann nochmals, bricht Sandra das Interview ab, vertröstet die Doktorandin auf einen späteren Termin.

Von diesem Musiktrack wird sich Justine Triets "Anatomie eines Falls" auch die folgenden zweieinhalb Stunden nicht lösen können. Später wird er zum Gegenstand mit Beweislast in einem Gerichtsfall werden: Könnte dieses Stück, im Original ein mustergültiges Beispiel für die nonchalant-eingängige Misogynie des Gangsterraps zu Beginn der Nullerjahre, nicht bewusst und gezielt von Samuel gewählt worden sein? Aber welche Message sollte "P.I.M.P." rein instrumental haben, ohne die Lyrics, die Prahlhanserei des Rappers?
Während ihr gemeinsamer Sohn, seit einem Unfall in der Sehkraft stark beeinträchtigt, mit seinem Hund spazieren geht, stürzt Samuel aus dem obersten Stock durchs Fenster auf das Dach eines Geräteschuppens, prallt daran ab und kriecht noch einige Meter weiter durch den Schnee, bevor er seinen Verletzungen erliegt. Da die Wunden am Kopf auf Gewaltanwendung vor dem Sturz deuten, wird Sandra, die mit Samuel allein in der Hütte war, zur Mordverdächtigen und kommt vor Gericht.

Auch die bisherigen Filme von Justine Triet kreisen um das Verhältnis zwischen Wahrheit und Fiktion und wie dieses Verhältnis sowohl Sache der Justiz als auch von (auto-)fiktionalem Schreiben werden kann. In ihrem schönsten, der romantischen Komödie "Victoria", wehrt sich eine von Virginie Efira gespielte Anwältin gegen ein von ihrem Ex-Mann geführtes Blog, in dem dieser scheinbar nahe an der Wirklichkeit von ihrem Beziehungsleben erzählt, und verstrickt sich vor Gericht schließlich in die Zeugenaussagen eines Affen und eines Hundes. Triet inszenierte ihre früheren Filme in einem immer wieder neu ausgehandelten Gleichgewicht von Melodram und Komödie, was ihnen eine widerständige Offenheit und artifizielle Verspieltheit verlieh. Dagegen wirkt die getragen nüchterne Tonalität von "Anatomie eines Falls" auf den ersten Blick stromlinienförmig. In Anlehnung an Otto Premingers "Anatomy Of A Murder" erzählt der Film konzentriert die einzelnen Etappen eines Gerichtsverfahrens, in das sich behutsam aufsässigere Elemente mischen, stilistische Kapriolen, die sich angenehm beißen mit einer Festivalfilm-Eleganz, der "Anatomie eines Falls" zuweilen zu erliegen droht. Insbesondere während des Prozesses scheint die Kameraarbeit die eigenen Unmittelbarkeitseffekte, die suchenden Tastbewegungen, Zooms, die ständige Verschiebung des Bildfokus nach links und rechts, eher zu ironisieren als dramaturgisch ausspielen zu wollen. So bewahrt sich der Film eine exploitative Lust an der Inszenierung (und schämt sich auch nicht dafür, in einer Szene die ikonische letzte Einstellung von "Basic Instinct" anzudeuten).



"Cautious and meticulous, he worked slowly", sagt Sandra über ihren Mann, worin möglicherweise auch ein Vorwurf liegt. Denn in die Umgestaltung des Dachgeschosses zu einem B&B vertiefte sich Samuel als Übersprungshandlung, weil er als Schriftsteller nicht mehr weiterkam, durch Schuldgefühle den Unfalls seines Sohnes betreffend beim Schreiben blockiert war. Aus einer Schwäche, die privat bleiben sollte, wird vor Gericht eine Strategie: Im Prozess müsse darauf gedrängt werden, dass Samuel Selbstmord begangen habe, sagt Sandras Anwalt, denn es gehe für Angeklagte nicht um Aufklärung von Wahrheit, sondern lediglich um eine nachvollziehbare Verteidigung. Nicht die Realität selbst sei maßgeblich, sondern wie plausibel sie vermittelt werden könne. Sprache und Sprachbeherrschung werden zum schlagkräftigsten Verteidigungsmittel in "Anatomie eines Falls". Sandra, die Deutsche ist und sich mit ihrem Mann und ihrem Sohn auf Englisch unterhielt, verliert zunächst etwas von der Sicherheit, die sie in Arbeit und Beziehung besaß: Ihre Aussagen muss sie bei der Anhörung in nervös tastendendem Französisch formulieren, sie benötigt Zeit, um Nachfragen zu beantworten.

Der Audiomitschnitt eines Streits, den Samuel, so scheint es, für ein Literaturprojekt aufgezeichnet hatte, bildet den weit ausholenden Mittelpunkt des Films. Alles habe sie ihm aufgezwungen, wirft Samuel seiner Frau darin vor, "rhythm, use of time, language". Englisch sprechen beide als Kompromiss, aber Sandra beherrscht die Sprache souveräner, mit dem offensiv eingesetzten Nachdruck eines britischen Akzents, wie ihn so überpenibel wohl nur Deutsche, die in England studiert haben, ausspielen können. Dem gegenüber steht die eigennützig-selbstmitleidige Entscheidung Samuels, mit seiner Familie zurück in das französische Dorf seiner Kindheit zu ziehen, wo er jeden und Sandra niemanden kennt. Was somit vor Gericht verhandelt und beurteilt wird, ist nicht so sehr der Unterschied zwischen Wahrheit und Fiktion, sondern die Abwägung und Einordnung der Sprechpositionen. Das macht "Anatomie eines Falls" trotz aller eigenwilligen Widerständigkeit letztlich auch zu einem zeitgeistigen Film.

Kamil Moll

Anatomie eines Falls - Frankreich 2023 - OT: Anatomie d'une chute - Regie: Justine Triet - Darsteller: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis - Laufzeit: 151 Minuten.