Im Kino

Weniger Drama als Insistenz

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann
13.12.2023. Ein Film der guten Absichten, prominent besetzt: Das hört sich gefährlich an. Tatsächlich jedoch erweist sich Jeanne Herrys "All eure Gesichter", in dem Täter und Opfer von Verbrechen sich einer Mediation stellen, als ein hervorragender Film mit Stuhlkreisen.


In Frankreich machen sie gute Filme mit Stuhlkreisen. Genauer: Sie machen Dokumentarfilme wie "Atelier de conversation" (2017; R: Bernhard Braunstein) über das Sprachlabor des Centre Pompidou und jetzt den Spielfilm "Alle eure Gesichter" (2023; R: Jeanne Herry) über die Institution der "justice restaurative", in der Täter und Opfer aufeinander treffen, um sich in moderierten Sitzungen darüber auszutauschen, was eine Tat für ihr Leben bedeutet hat.

Mehr als über Stuhlkreise, deren kinematografische Potenziale (Travelings, Aufsichten, Kreissegmente, Perspektivwechsel) allerdings von beiden Filmen ausführlich erkundet werden, ist "All eure Gesichter" ein Film über Gesprächsabläufe. Über die umfassend angebahnten Sitzungen in Gefängnissen und Institutionen. Über die Termine, die Teil der Anbahnungen sind: Erstkonsultationen, Briefings, später die Gespräche, die sich mit Erwartungshaltungen und Belastungsgrenzen befassen. Über die Schulungen und Supervisionen, von denen die Arbeit der Mediator:innen flankiert wird. Über den Austausch zwischen den Mediator:innen, wenn sie im Auto oder in der Cafeteria eines Einkaufszentrums sitzen. Über den zwischen einer Teilnehmerin des Programms (Adèle Exarchopoulos) und ihrer Großmutter (from hell: Catherine Arditi); über einen zwischen derselben Teilnehmerin und ihrem Partner; und über einen weiteren zwischen dem Partner und der Mediatorin, die er aufsucht, um, in bester Absicht, in den Prozess zu intervenieren.



Handeln in diesem Film heißt mithin: Sprachhandeln. Die Anstrengung, die ein solches Handeln bedeutet, ist das zentrale Thema; aber Thema sind auch die Skills, die Regeln und die Prinzipien, von denen die institutionell formatierte Gesprächsführung bestimmt ist. Mit den Figuren werden auch die Zuschauer:innen gebrieft: kein Einfluss der Gesprächsteilnahme oder des Gesprächsausgangs auf das Strafmaß, keine Wertung durch diejenigen, die moderieren; offener Ausgang; selbst definierte und artikulierte Zielsetzungen; die Möglichkeit des Scheiterns grundsätzlich präsent; der Abbruch von Sitzungen nicht unwahrscheinlich; das Prinzip des gleichen Schutzes von Tätern und Opfern ein Element der perpetuellen Krise.

"Un sport de combat" heißt es einmal zu Beginn und einmal zum Ende über das Sprachhandeln und seine institutionelle Anleitung; vermutlich, weil irgendjemand die Formulierung besonders gefallen hat. Was der Film zeigt, ist indes weniger Kampf- als Ausdauersport, weniger Drama als Insistenz, Zumutung und sehr viel Mühe; dazu die zeitliche und affektive Belastung der Beteiligten. Über die Recherchen, die dem Dreh vorausgegangen sein müssen (Interviews, Workshops etc.), ist nicht allzu viel zu erfahren, jedoch fällt auf, dass dies nach "Pupille" bereits der zweite Film Jeanne Herrys ist, der sich mit Rollen und Routinen innerhalb der französischen Sozialarbeit befasst. Und dass sie ihn, mehr noch als "Pupille" (2019 nominiert für sieben Césars), als eine Geste der Anerkennung und der programmatischen Unterstützung konzipiert hat.

Die Kombination von bester Absicht und prominentem Cast ist in den meisten Fällen keine gute Nachricht. Der Cast in "All eure Gesichter" ist exzeptionell. (Allein drei Mitglieder der Comédie Française; die Allzweck-Stars Jean-Pierre Darroussin und Gilles Lellouche; Élodie Bouchez und Miou-Miou als zwei Aktricen mit komplizierten Filmografien; die unübersehbare Nebendarstellerin Anne Benoît …) Und er hat sich erstaunlich gut im Griff in einer Partitur der Halbnahen, Nahen und Detailaufnahmen, in der langsam geschnitten und lange gesprochen wird, manchmal auch längere Zeit geschwiegen und fast nie zu viel veranstaltet. Wer das puristische Kino liebt, wird an "All eure Gesichter" immer noch manches auszusetzen finden (die Filmmusik, ein etwas redundantes Ende, ein paar überflüssige Rückblenden). Aber das ändert nichts daran, dass es sich um einen klugen, sehr schönen Film handelt, der zudem nach "Passages" (R: Ira Sachs, 2022) und "Les cinq diables" (2023; Léa Mysius) Adèle Exarchopoulos endgültig als eine der interessantesten Schauspielerinnen ihrer Generation etabliert.

Stefanie Diekmann

All eure Gesichter - Frankreich 2023 - OT: Je verrai toujours vos visages - Regie: Jeanne Herry - Darsteller: u.a. Adèle Exarchopoulos, Leïla Bekhti, Jean-Pierre Darroussin, Gilles Lellouche,  Élodie Bouchez, Miou-Miou, Anne Benoît.