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So ticken nun mal sehr viele

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
27.07.2021. Sommerliche Reise von Arles nach Marseille, wo Sarah Piegay Espenon und Lewis Chaplin in Marseille den Verlag Loose Joints gründeten. In der Buchhandlung "Ensemble" kann man ihre Bücher besichtigen - zum Beispiel von Mark McKnight oder Gabby Laurent. Besonders aber von Jack Davison, dem vielleicht besten aktuellen Magazin-Fotografen.
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Wer Anfang Juli nach Arles gereist ist, um auf dem dortigen Fotofestival nach einer schier endlosen Folge von Lockdowns KollegInnen und Gleichgesinnte aus der Fotoszene zu treffen, sich mit Ihnen unter dem Himmel der Provence auszutauschen, zu lachen und zu feiern, wird vielleicht in Betracht gezogen haben, ein paar Tage länger in der Region zu verweilen, Urlaub zu machen.

Wen es  - soweit das in einer touristisch derart überlaufenen Gegend überhaupt möglich ist - nach Ursprünglicherem verlangt, den zieht es von Arles aus zum Beispiel nordöstlich zum Luberon ins Département Vaucluse (wobei man Roussillon mit seinen jährlich über hunderttausend Besuchern eher meiden sollte).

Wanderungen durch die von harzig duftenden Atlas-Zedern bewachsenen Wälder, dazu wilder Lavendel, Thymian und Rosmarin in der Nase, werden am Ende abgerundet durch ein paar Scheiben Fougasse (Brot aus Hefeteig), einem mit den Kräutern der Provence gesättigten Ziegenkäse, der traditionellen Tapenade (eine dunkle Olivenpaste) und einem Gris der Appellation "Côtes du Luberon".

Samuel Beckett hat sich in Roussillon bis Kriegsende vier Jahre vor der Wehrmacht versteckt - eine nicht unwesentliche Information, wenn man bedenkt, dass er dort "Warten auf Godot" geschrieben und zu einem gänzlich anderen Stil gefunden hat als noch in seinem ersten Roman "Murphy". François Ozon hat hier 2002 seine Version des "Swimming Pool"-Motivs gedreht. Das Original von Jacques Deray spielte 1969 im zweihundert Kilometer entfernten Saint Tropez, in dem ein großartig aussehender Alain Delon Maurice Ronét umbringt und seine (ebenso großartig aussehende) Ex Romy Schneider nachts vergleichsweise sanft mit einem Zweig traktiert (eine Szene, die wiederum Eva Mendes dazu bewog, doch nicht wie geplant Nonne zu werden).

Im 19. Jahrhundert zog das Fischerdorf Saint Tropez Maler wie Matisse, Bonnard oder Signac an. Matisse ließ sich später in Menton bei Nizza nieder, wo heute das Musée Matisse steht. In den fünfziger Jahren wurde Saint Tropez schließlich zum Treffpunkt der Haute Volée von Brigitte Bardot bis Gunter Sachs. Die Halbinsel Cap d'Antibes war da schon lange eine Enklave der Reichen und Schönen.

© Mark McNight, Loose Joints


Graham Greene lebte nach dem Krieg in Antibes, ebenso Hans Hartung und der ehemalige UFA-Star Lilian Harvey. Picasso schaute immer wieder vorbei, wenn er Matisse in Nizza besuchte, hatte dort kurz ein Atelier und ließ sich schließlich ganz in der Provence nieder, zuerst in Vallauris (wo es ein Museé Picasso gibt), später in Cannes. Zum Schluss in einer herberen Gegend in der Nähe von Aix-en Provence, wo er das Chateau de Vauvenargues erwarb, von dem aus er freie Sicht auf die Leidenschaft von Cézannes letzten Jahren hatte, die Montagne Sainte-Victoire, an der er selbst sich jedoch nie versuchte (wohl aber an Cézannes "Badenden").

Etwas mehr als eine halbe Autostunde von Aix entfernt liegt Marseille, von dem aus Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis nach Spanien aufbrach und sich 1940 an der Grenze zu Spanien in Portbou das Leben nahm, und wohin Rainer Werner Fassbinder Jean Genets "Querelle" verlegt hat, während der Roman eigentlich in Brest spielt.

Und hier sind wir auch wieder bei der Fotografie angelangt.

2015 gründeten Sarah Piegay Espenon und Lewis Chaplin in Marseille den Verlag Loose Joints.  Beide stammen ursprünglich aus London, wo Chaplin am Copeland Bookmarket in Peckham mitgearbeitet hat, der auf Self Publishing und Indie Books spezialisiert war. In dessen Archiv findet man viele unbekannte Namen, aber auch erste Publikationen von KünstlerInnen wie Cecile B. Evans, die seither durchgestartet sind.
Gemeinsam mit Alex F. Webb betrieb Chaplin dann in London das Label "Fourteen Nineteen", das in verschiedenen Formaten die Arbeit junger FotografInnen präsentierte.

Piegay Espenon wiederum ist Designerin und selbst Fotografin, ihr erstes Buch "Humanise Something Free of Error" erschien 2018 bei Loose Joints.

Loose Joints ist jedoch nicht nur ein Verlag, sondern auch ein Design Studio, das inzwischen Museen wie das Londoner Victoria und Albert Museum, Verlage wie Thames & Hudson und Stiftungen wie Aperture zu seinen Kunden zählt.

Die Tage in grauen, kahlen Industrie-Hallen in Peckham sind vorbei. Stattdessen gibt es nun auch "Ensemble", eine gelungene Mischung aus Buchladen und Showroom in der Rue du Chevalier Roze 7, zehn Gehminuten vom alten Hafen entfernt.

© Gabby Laurent, Loose Joints


Man kann Loose Joints als wahr gewordenen Traum eines fotoaffinen Teils der Generationen Y/Z beschreiben. Einerseits sehr verspielt und experimentell, mit einer Betonung der analogen Fotografie, nicht zuletzt der schwarzweißen; andererseits in der Darstellung sensibel, korrekt, respektvoll, ohne jeden Anflug von Schmutz, Zorn, Neid, Hass, Schmerz, Verzweiflung - und wenn ab und an doch, dann in diskreter, solidarischer und mitfühlender Art und Weise. Ich meine das übrigens ohne jede Ironie. So ticken nun mal sehr viele Zwanzig- bis Dreißigjährige (die zumeist im Westen sozialisiert wurden und die Kunst vor allem in Form eines Hochschulstudiums erfahren haben).  


Die Inszenierung von Sexualität (ein Mann, eine Frau) von David Luraschi, bei dem sich gesichtslose, nackte Körper in einer Dünenlandschaft umklammern, ist seltsam aseptisch, die Körper sind dabei nicht nur von Sand und Gebüsch, sondern auch wie von einer Umzugsfirma ins Nichts gelieferten Holzstühlen umgeben. Ungleich expliziter, eindeutiger wird das Thema in Mark McKnights Buch "Heaven is a Prison" verhandelt: schwule Paare inmitten der Großartigkeit der Landschaft Süd-Kaliforniens ("a queer otherworld, utopical and purgatorial"). Trotzdem wirken der Blowjob und die Kopulation - beides natürlich nicht sichtbar - trotz heftiger Gesten auch bei McNight merkwürdig gestellt, stilisiert, und damit nicht wirklich "gefährlich".

Amüsant und zugleich ein gelungenes Exempel jenes Narzissmus ständiger Selbstbeobachtung und Reflexion der YZ'ler ist Gabby Laurents "Falling", die sich selbst in Momenten des (inszenierten) Fallens fotografiert, eines Fallens, das immer auch ein punktuelles, schlimmstenfalls von anderen mit einem Smartphone potenziell für immer dokumentiertes Scheitern ist.

Vielleicht ein bisschen nerdig auf Dauer, aber mit einem richtig sehenswerten Höhepunkt: hochschwanger und nackt hat sich Laurent als Kurzstreckenläuferin in Einzelaufnahmen inszeniert - eine wirklich gelungene Paraphrase auf die legendären Bilder von Edward Muybridge und ein sehr humorvoller Beitrag zur Body Positivity.

Das Angenehme bei Loose Joints: Diskurse wie "Black Lives Matter" oder "Female Empowerment" sind präsent, bleiben jedoch im Hintergrund, es kommt zu keiner Form von Volkspädagogik, zu keiner zwanghaft politischen Inanspruchnahme. Mir - der ich in den Achtzigern und Neunzigern mit Pasolini, Bacon und Abramovic sozialisiert wurde - ist das alles ein bisschen zu leichtgewichtig, dabei aber durchwegs sympathisch.

© Jack Davison, Loose joints


Zugpferd von Loose Joints ist eindeutig Jack Davison - aktuell vielleicht der beste Magazin-Fotograf der Welt (Proms, Portraits, Fashion & Mood Pics). Mit einem großartigen Blick fürs Detail, einem leichthändigen, dabei handwerklich mit allen Wassern gewaschenen Gebrauch der Technik, einem klaren Bewusstsein für die Wirkung seiner Bilder und der für dieses Segment unabkömmlichen Gabe, die porträtierten Menschen, wenn nicht überhaupt: die Welt schön, stark und interessant aussehen zu lassen. Locker swingt er zwischen allen Stilen, fotografiert Robert de Niro für das Magazin der New York Times im Stil von Francis Bacon, Adwo Aboah im Stil von Michael Ackerman, Mode aus Schwarzafrika im Stil von Viviane Sassen oder setzt Brett Walker im Stil von Ingmar Bergman in Szene. Im Buch "Photographs 2007 bis 2019" gibt's dazu noch Variationen auf Saul Leiter, Irving Penn und André Kertesz.

All das wie im Vorübergehen, als fotografische Plauderei bei einem Glas Champagner - am besten gleich vor Ort in Marseille am alten Hafen um die Ecke im "Relais" (frische Austern aus der Camargue) und im "Bovo" (bester Espresso).

Encore: Bon été!

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de