Essay

Makellose Kniekehlen

Von Joachim Sartorius
08.08.2016. Er ging auf meine Spinnereien wunderbarerweise ein und gab mir einmal im Monat eine ganze Seite in der taz, um eine Dichterin, einen Dichter vorzustellen - mit unveröffentlichten Gedichten, mit einem Porträtfoto und einen kurzen einführenden Text. Von Joachim Sartorius
Vielleicht weiß er es gar nicht, aber ohne Arno Widmann hätte es den "Atlas der neuen Poesie" nicht gegeben. Als er Chefredakteur der taz wurde, sahen wir uns des Öfteren. Es war gegenseitige Sympathie, und es waren auch ein paar gemeinsame Vorlieben: für Konditoreien, junge Mädchenblüten, Bataille und Leiris. Ich weiß nicht mehr, woher der erste Anstoß kam, von ihm oder von mir. Ich bilde mir ein, ich sagte zu ihm, bei einem jener Treffen im Café Adler unweit des Checkpoint Charlie, man müsse mehr für die Lyrik tun, sie müsse verfügbar sein wie Sprit oder Tabak, ich würde rastlos davon träumen, Poeten in einer überregionalen Tageszeitung vorzustellen.

Arno war stets gut für das Unerwartete. Er ging auf meine Spinnereien wunderbarerweise ein und gab mir einmal im Monat eine ganze Seite in der taz, um eine Dichterin, einen Dichter vorzustellen - mit unveröffentlichten Gedichten, mit einem Porträtfoto und einen kurzen einführenden Text. Die Zustände in der taz-Redaktion waren damals fröhlich und chaotisch. Einmal hatte die Seite nicht, wie sonst üblich LYRIK als Überschrift, sondern LEIBESÜBUNGEN, und so fanden sich auf der Sportseite neue Gedichte von Durs Grünbein, der gerade seinen ersten Band "Grauzone morgens" veröffentlicht hatte. Der Poet war im ersten Augenblick 'not particularly amused', fand dann aber doch am Schrägen der Seite Gefallen. Mir machte das Ganze Riesenspaß, stets unter der schützenden Hand von Arno Widmann und später von Elke Schmitter, nachdem sie die Chefredaktion übernommen hatte. Es erschienen von 1990 bis 1993 fast zwanzig Folgen in der taz. Diese Serie war der Kern für den "Atlas", der dann 1995 bei Rowohlt erschien und zu meinem erfolgreichsten Buch wurde, mit rund 17.000 verkauften Exemplaren.

Die Gespräche mit Arno, der immer mit einem eindrucksvollen Berg Bücher in das Café Adler zog - sein eigentliches Büro schien mir dort zu sein und nicht in der taz - vermisste ich sehr, als er nach München umzog. Halb Berlin rätselte, warum er die taz, die er 1979 mitbegründet hatte, für die deutsche Vogue verließ. Waren es die makellosen Kniekehlen der Models, die dort ein- und ausgingen (so stellte ich Trottel mir das vor)? War es ein Monatssalär, das das zehnfache Gehalt der taz ausmachte (so stellten sich die Missgünstigen das vor)? War es eine innere Unruhe, die dazu führte, nach so vielen Jahren taz an exponiertester Stelle nun etwas ganz Anderes auszuprobieren? Als ich ihn in Schwabing kurz nach seinem Transfer aufsuchte, holte ich ihn bei der Vogue ab - keine Models weit und breit -, und wir gingen in das Restaurant der Reitschule, die an der Königinstrasse direkt beim Englischen Garten lag. Durch ein Glasfenster konnte man auf die Reitbahn hinunterschauen. Einige Reiterinnen übten sich in langsamen Galopp. Das Sägemehl stiebte hoch und glitzerte in der Sonne. Arno war einsilbig. Über seine Beweggründe, nach München zu ziehen, wollte er sich nicht auslassen. Aber bei allen anderen Themen, die wir berührten, war er witzig, schlau, spitzbübisch und liebenswürdig wie immer. Er gab mir im Lauf der nächsten Monate sogar ein paar Aufträge.

So durfte ich über den verrückten Performance-Künstler James Lee Byars schreiben und einige andere bildende Künstler - darunter Marina Abramovic - porträtieren. Nach und nach wurden unsere Kontakte seltener. Lag es an mir? War er auf dem Rückzug? Schüchtern und einschüchternd? Wenn ich jetzt über ihn nachdenke, werde ich mir bewusst, dass ich ihn nie wirklich fassen konnte und zugleich nie aufhörte, ihn zu bewundern, wie er mit stupender Sensibilität für alle Stoffe, ungeheurer Belesenheit und elend scharfem Intellekt aktuelle wie klassische Themen und Begriffe für uns traktierte. Ein radikaler Seiltänzer, der uns hoffentlich noch viele, viele Jahre mit seinen Schriften beglücken wird!