Essay

Vom Nachtisch geträumt

Von Gabriele Goettle
08.08.2016. In der Regel muss der Feuilletonist unbesungen untergehen. Nicht so Arno. Kleine Liebesgabe für Arno Widmann zum 70. Geburtstag von Gabriele Goettle

Es ist anmaßend von mir, etwas über Arno schreiben zu wollen. Eigentlich kenne ich ihn überhaupt nicht, das wurde mir jetzt erst klar. Ich muss mich also vorsichtig an ihn heranpirschen, kann allenfalls haltlos projizieren oder kleine, vielleicht nichts sagende Geschichten erzählen, um ihn zu würdigen. Ich versuche es einfach mal, meine unmaßgeblichen und rein subjektiven Betrachtungen zusammenzufassen.

Wir lernten uns 1980 kennen. Meine Freundin Elisabeth Kmölniger und ich waren zur Buchmesse in Frankfurt am Main, und Silvia Bovenschen stellte uns in einem italienischen Lokal im Westend ihren Freund Arno Widmann vor. Er war damals gerade mal 34 Jahre alt. Wir wussten, er hatte bei Adorno studiert und war 1978 maßgeblich an der Gründung der taz beteiligt gewesen, und wir hatten gehört, dass Arno nicht raucht, keinen Alkohol trinkt und dem Süßen zugeneigt ist. Er war von ausgesuchter Höflichkeit, ein Verhalten, das damals eher nicht dem Zeitgeist entsprach. Was mir zuerst an ihm auffiel, waren seine hellen Wolfsaugen. Sein Blick war kühl, ab und zu ein wenig spöttisch vielleicht. Und auch seine kraftvollen Arme fielen mir auf. Ich bewundere sie bis heute, sie strahlen etwas Zuversichtliches und Verlässliches aus, besonders wenn er mit seinen schönen und gepflegten Händen verhalten gestikuliert. Sport scheint er nicht nötig zu haben, wahrscheinlich weil er immer noch zehren kann von seinen Hochleistungen an Ringen, Reck und Barren als junger Mann. Man möge mir verzeihen, dass ich mit einem Lob des Physischen beginne, aber das entspricht der Reihenfolge meiner Wahrnehmung damals. Ich las natürlich seine Texte, lernte seine Passion für Bücher kennen. Im Laufe der Zeit sah ich deutlicher, dass er eine starke, widersprüchliche und eigenartige Persönlichkeit ist, ein entschiedener Einzelgänger, dessen Leibes- und Wesensfülle letztlich ein harmonisches Ganzes bilden. Er versteht es, sich Autorität zu verschaffen, hat aber nichts Anmaßendes oder Autoritäres. Er ist keiner von jenen besserwisserischen 68ern, obgleich er das meiste besser weiß als seine Alters- und Berufsgenossen. Er protzt nicht mit seiner Bildung, aber manchmal bricht sie aus dem Unterholz seiner Worte hervor wie ein wilder Eber, so dass man erschrocken zurückweicht. Meist jedoch erlaubt er sich, leise, gelassen und nachdenklich zu sprechen. Er schüchtert nicht ein, wirkt eher selbst schüchtern. Außer, er lacht, dann ist seine akustische Präsenz unschlagbar. Sein Lachen ist von unmäßiger Lautstärke, donnernd und dröhnend durchbricht es jede Hemmschwelle. Es ist, als würde es sich mit hohem Druck explosionsartig Luft machen und ihn und unser Trommelfell schier zerreißen. Früher lachte er wahrscheinlich mehr als heute.

Vielleicht zuerst doch ein paar, wenn auch unvollkommene Hinweise auf Stationen seines Berufslebens als Feuilletonist. Arno war wie gesagt, 1979 einer der Mitgründer der taz. Lange Jahre war er dort Literatur-Redakteur. Als alle schon glaubten, Arno gehöre für alle Ewigkeiten zum Inventar, verließ er eines Tages vollkommen überraschend die taz und wurde, für mich schwer nachvollziehbar, Textchef bei der Vogue - was er im Nachhinein immer noch als interessante Erfahrung bezeichnet. Für einige Zeit war er auch mal Chefredakteur der taz. In den 80er Jahren holte er mich als "Feste Freie"- Schreiberin in die Zeitung. Eine Weile war er Feuilletonchef der Zeit, bis eines Tages ein Kärtchen kam: "Arno Widmann hat sich von der Zeit verabschiedet. Neue Adresse: Goethestraße 68, 10625 Berlin. Dort wohnte er eine Weile, und man erzählte sich, er habe im Hinterhaus eigens für seine Bücher eine Wohnung gemietet. Er war dann Redakteur der Meinungsseite der Berliner Zeitung. 2007 wurde er Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau. Seit 2010 ist er Mitglied der DuMont Redaktionsgemeinschaft. Er übersetzte Werke von Victor Serge, Curzio Malaparte und Umberto Eco. Arno schreibt über Politik, Kultur, Geschichte und Literatur und vermeidet dabei - im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen - weitgehend den "Jargon der Eigentlichkeit". In unregelmäßigen Abständen räumt er für das Internet-Kulturmagazin Perlentaucher rezensierend Bücher vom Nachttisch.



In der Regel muss der Feuilletonist unbesungen untergehen. Nicht so Arno. Ich will mich hier aber nicht der tragischen Kluft zwischen Geschriebenem und Gelesenem widmen. Geschriebenes möchte ich hier unberücksichtigt lassen, denn Andere werden das lieber und besser machen als ich. Ich möchte mich dem widmen, was ich mit ihm "erlebt" habe. Es ist vielleicht nicht viel, aber es hat Spuren in meinem Leben hinterlassen. Im Laufe der Jahre hat sich zum Beispiel ein kleiner Karton gefüllt mit Fotos und Ansichtskarten von Arno, geschickt aus Deutschland, Griechenland, Italien, Tunesien und Kenia. Man hat das Gefühl, er schreibt privat nicht gern, und wenn, dann kurz und am liebsten auf anzüglichen Ansichtskarten. Seine kleine, etwas krakelige Schrift - eine Mischung aus Druckschrift und Schreibschrift - platziert er bescheiden ganz am Rande der freien Fläche. Die kargen Mitteilungen, falls man sie überhaupt entziffern kann, sind meist von lakonischem Witz. Auf einer Ansichtskarte aus Kenia auf der ein junger Massai zu sehen ist, der Blut trinkt und sein Haupthaar mit Blut bestrichen hat, schrieb er: "Ich finde rote Haare wundervoll. Aber mir würden schon Haare genügen."

Er hat ein rührend inniges Interesse an den Schrecklichkeiten dieser Welt. Einmal, es war Anfang der 90er Jahre - ich lag gerade nach Durchbruch eines Zwölffingerdarmgeschwüres frisch operiert auf der Intensiv-Station im Klinikum Steglitz - schickte mir Arno ein seltsames Päckchen. Inhalt, einige Texte und Fotos. Eines der Fotos zeigt Susan Sontags Füße unter dem Tisch bei einer Lesung. Eine kleine Serie von Bildern zeigte Hunde, die menschliche Leichenteile erbeutet hatten, die sie teils wegzerrten, teils verschlangen. Auf einigen Fotos wurden von Fischern Leichenteile ins Wasser geworfen. Die Szenerie in der das aufgenommen wurde, war der Viktoria-See in Ostafrika. Laut der beiliegenden Texte handelte es sich bei den Toten um Bürgerkriegsopfer aus Uganda, die man in den Fluss geworfen hatte, wodurch sie über den Viktoria-Nil in den Viktoria-See See gespült worden waren. Es waren so viele, dass sich an ihnen der Viktoria-Barsch auf doppelte Größe mästete. Seit ich das gelesen hatte, aß ich nie mehr Viktoria-Barsch. Er ist einer der beliebtesten Speisefische, die bei uns ausschließlich als Filetstücke in den Fischtheken landen. Sehr eindrucksvoll hat zwanzig Jahre später der österreichische Regisseurs Hubert Sauper in seinem Dokumentarfilm "Darwin's Nightmare"den Fischfang im Viktoria-See thematisiert. Dieses Arnosche "Trostpäckchen" jedenfalls, hat mir vor Schreck zu rascher Heilung verholfen.

Arno, den grundsätzlicher Eigensinn auszeichnet, wagt es, ins Heiligtum des Immergleichen einzudringen und dort Unordnung zu stiften. Er freut sich, wenn vertraute Verbindlichkeiten kippen. Aber mitten im angerichteten Chaos, nimmt er es dann genau. Ein kleines Meisterstück dieser Art sei kurz erzählt: Am Ostersamstag 1987 veröffentlichte die taz mehrere Karikaturen zum Thema Abendmahlsworte des Jesus von Nazareth: "Das ist mein Leib …" Mit ihnen begleiten bekanntlich die Priester und Prediger der christlichen Kirchen die Verabreichung von "Brot und Wein'". Die Karikaturistin Elisabeth Kmölniger nahm die Transsubstantionslehre wörtlich, zeichnete Leib und Blut Christi als reale Gaben für die Gläubigen. Das bischöfliche Ordinariat Berlin erstattete gegen diesen Beitrag Anzeige bei der Berliner Staatsanwaltschaft. Arno ging ins Archiv, suchte, fand und schrieb: "Es lag uns fern, das Empfinden unserer christlichen Mitmenschen zu verletzen. Wir überlegten eine Buße für unsere Entgleisung und suchten nach Präzedenzfällen. 1059 musste Berenguer, Bischof von Tours seine Schriften verbrennen, in denen die 'Realpräsenz Christi' im Abendmahl geleugnet wurde. Wir haben zwar das Gegenteil betont, aber uns ein Beispiel genommen und die taz vom Ostersamstag ebenfalls verbrannt. Berenguer von Tours gab damals noch eine Erklärung ab, die ihn in den Augen der Kirche freisprach. Wir schließen uns seinen Worten an und hoffen, dass der Bischof im Berlin des 20. Jahrhunderts ebenso konziliant ist, wie seine Vorgänger im Rom des 11. Jahrhunderts es waren, und von weiteren Verfolgungen Abstand nimmt. Wir erklären hiermit, wie Berenguer von Tours es tat, dass der Leib Christi im Abendmahl 'in sinnfällig dinglicher Weise, nicht nur sakramental, sondern in Wirklichkeit von den Händen der Priester berührt und gebrochen und von den Zähnen der Gläubigen zermalmt wird ."

Eine weitere ähnliche Geschichte ereignete sich Weihnachten 1988. Elisabeth Kmölniger hatte wiederum angeblich blasphemische Karikaturen gezeichnet. Eine der Karikaturen zeigte die Geburt Christi. Das Neugeborene, aus dem Schoß der Mutter kommend, ist bereits mit kleiner Dornenkrone versehen und wünscht ein Frohes Fest. Im Hintergrund deutet Gottvater auf seine Armbanduhr und sagt: "...beeilt euch! Nur noch wenige Wochen bis Karfreitag..." Es gab einen wütenden Aufstand der Anständigen. Eine Rekord-Flut empörter Leserbriefe und Abo-Kündigungen. Auch von "Prominenten" wie Pastor Heinrich Albertz (Berliner Bürgermeister während des Schahbesuches 1967 und verantwortlich für die Eskalation der Gewalt gegen die APO). Er bezeichnete Kmölnigers Karikaturen als: "eine Mischung von Pornographie und blanken Hass gegen Jesus von Nazareth und seine Mutter - übrigens beide Juden!" Auch Carmen und Rene Böll aus Bonn, schrieben einen hysterischen Leserbrief: "Die in der taz abgedruckten 'Karikaturen' zur Geburt von Jesus sind mit das ekelhafteste, frauen- und kinderverachtendste, was wir je gesehen haben. Der Vorgang der Geburt - sicher eines der schönsten Erlebnisse für Mann und Frau - wird in widerlicher Weise in den Schmutz gezogen." Ilja Richter, Ulknudel und Entertainer, schrieb: die "Jesus-Karikaturen" hätten "Stürmer Niveau" und fügte hinzu: "Über ein aus dem Frauenschoß kriechendes Baby mit Dornenkrone und Stammtischvisage, Fruchtwasser kotzend, da jubelt der Kegelklub:" Arno bestand zwar auf Kunstfreiheit und ästhetischer Radikalität der Künstlerin, doch dieser Sturm der Entrüstung war ihm zu viel. Bei aller Wertschätzung, hier kam seine andere Seite zum Vorschein. Er genoss zwar die Entrüstung der "geburtsverachtenden" Scheinheiligen, hatte aber angesichts des Ansturms den Mut verloren und schwieg. Auch gegenüber der Künstlerin, die er in der Patsche sitzen ließ, zu ihrer großen Überraschung. Er selbst - zur Rede gestellt - bezeichnete sich ihr gegenüber später als "Feigling". Gut möglich, dachten wir, dass er im Bedarfsfall ein gehöriges Maß an Rücksichtslosigkeit an den Tag zu legen bereit ist.



Sein größter Coup aber war, neun Jahre nach Gründung der taz, die sogenannte "Dichtertaz". Ein funkelnder Geistesblitz, der die taz und die gesamte Presselandschaft für kurze Zeit zum Erstrahlen brachte. Die Idee war: Zur Buchmesse 1987 sollen rund dreißig namhafte europäische Dichter und Schriftsteller die taz quasi "entern", Redaktionsräume und Zeitungsherstellung in eigener Regie übernehmen. Das klang wie ein blöder Scherz. Wohl kaum ein Zeitungsverlag hätte sich auf ein derart abenteuerliches Experiment eingelassen. Aber der damalige Kulturredakteur Arno Widmann trug die Idee - zusammen mit seinem Kollegen Mathias Bröckers - dem versammelten Kollektiv vor und tatsächlich wurde sie durchs taz-Plenum abgesegnet. Arno kann beschwörend reden und einen magischen Zauber entfalten. Er kann "Vaterhypnose" oder besser noch "Mutterhypnose", wenn es ums Eingemachte geht. Nun also stand der Verwirklichung nur noch die Umsetzung im Wege. Bei der durfte ich behilflich sein. Versehen mit weit reichenden Kompetenzen und knappen Geldmitteln, wurde ich die Organisatorin des Experimentes. Arno und ich fuhren mit dem Zug nach München zu Hans Magnus Enzensberger, um ihn für den Plan zu gewinnen. Wir waren zum Abendessen eingeladen beim Ehepaar Enzensberger, es war angenehm, man plauderte, lachte viel und Magnus fand irgendwie Gefallen an der eigenartigen Idee. Noch bevor er zugesagt hatte, wurden bereits Pläne geschmiedet, wer soll eingeladen werden, wer nicht. Am Ende dieses Abends war das Projekt zum Greifen nah. Arno war sehr erleichtert, denn mit Enzensberger als "Dichterfürst", würden sich weitere Koryphäen leichter gewinnen lassen. Arno und Mathias gaben mir freie Hand bei Auswahl und Einladung.




Alle Bilder aus dem Archiv von Gabriele Goettle und Elisabeth Kmölniger. In diesem Fall mit dem taz-Kopierer gefertigt. Etwa 1986.

Ich machte Listen, gab sie Arno und Mathias und sie fügten eigene Vorschläge hinzu. Bröckers wollte unbedingt Johannes Mario Simmel, wogegen ich anfangs Einwände hatte, was ein Fehler war. Arno hingegen faszinierte die Vorstellung, dass Beckett (damals 81), sich beteiligen könnte. Aber leider, er war schon im Altersheim und krank. Er sagte mit freundlichen Worten auf einem handgeschriebenen Kärtchen ab. Abgesagt haben aus Krankheitsgründen auch Canetti (damals 82), Dürrenmatt (66), Koeppen (81). Abgesagt hat auch Alexander Kluge, der die Dichtertaz hätte im Film festhalten sollen. Und abgesagt haben auch die Vertreter zeitgenössischer Musik: Henze (61), Ligeti (64) und Nono (63). Sie hätten eigentlich eine Titel- oder Nachrichtenseite kompositorisch bearbeiten sollen. Ein Novum, das leider nicht zustande kam. Zugesagt hingegen haben: Enzensberger (58), Heiner Müller (58), Hans Mayer (80), Herta Müller (34), Jelinek (41), Wichner (35), Kuby (77), Lettau (58), Haraszti (42), v. Kieseritzky (43), Ingold (45), Dalos (44), Eörsi (56), Magris (48), Henselmann (82), Hochhuth (56), Moniková (42), Gisela Elsner (50), Heidi Pataki (47), Elisabeth Kmölniger (40), Tomayer (49), Kahl (38). Als Externe aus dem In-und Ausland: Simmel (63), Alfred Sohn-Rethel (88), Fried (66), György Konrad (54) und Klaus Heinrich (60). Bröckers war zu jener Zeit 33 Jahre alt, Arno und ich waren 41. Nun also hieß es: Raus, ihr Dichter aus euren Elfenbeintürmen, eignet euch die Produktionsmittel an und springt rein ins kalte Wasser, in den Alltagsstress eines Zeitungsredakteurs! Sie sollten die kühne Idee umsetzen. Und die taz musste, quasi im Gegenzug, die Schlüsselgewalt für ihre Räume, Schreibtische, ihren gesamten eingespielten Apparat der Zeitungsproduktion, an eine bunt zusammen gewürfelte Gruppe von Fremden übergeben. Am Ende war es tatsächlich soweit, die Besatzung war zusammengestellt, es blieb nur noch zu hoffen, dass nicht im letzten Moment jemand fernbleibt. Aber unentschuldigt fehlte lediglich der kapriziöse Hochhuth, der zum Glück keinen Stellvertreter schickte. Alle anderen waren pünktlich zur Stelle.

Von heute aus gesehen ist der Blick zurück, wie ein Blick in die graue Vorzeit. Es gab noch Mauer, DDR und Sowjetunion. Die taz - damals eine linke Zeitung - residierte in einer Fabrik im Arbeiterbezirk Wedding, Wattstraße 11. Sie wurde auf nur einer einzigen Etage von einem ambitionierten Kollektiv produziert und das weitgehend hierarchiefrei. Erst nach dem Umzug in die 6 Stockwerke des Hauses in der Kochstraße - 1989, wenige Monate vor dem Mauerfall - entstanden hierarchische Strukturen und Mainstream-Gehechel. Wichtig auch zu bedenken, daß es 1987 noch keine Handys gab, nur das analoge Festnetz. Es gab auch kein kommerzielles Internet, kein WWW. Man schrieb in vielen Redaktionen teilweise noch auf mechanischen Schreibmaschinen. Textverarbeitungsprogramme der heutigen Art gab es nicht. Die taz jedoch hatte bereits Computer und sogar ein hausinternes Netz. Texte wurden von zwei Setzern, Uli und Georg, gesetzt. Georg, quasi Chefsetzer, führte die berühmten und wunderbaren "Setzerbemerkungen", bzw. "Säzzerbemerkungen" ein. Sie waren eine Weile ein Markenzeichen der taz, das Anfang der 90er Jahre plötzlich verschwand. Der Umbruch der Seiten wurde per Hand gemacht, geschnitten und mit heißem Wachs aufgeklebt. Irgendwo in den taz-Räumen stand eine monströse alte Reprokamera, die auf Schienen bewegt werden musste. Eine Frau und zwei Männern bedienten sie virtuos. Die Deadline, wenn ich mich richtig erinnere, war im Prinzip so um 17:00 Uhr. Ein Teil der Druckvorlagen musste zum Flugplatz gebracht und nach Frankfurt ausgeflogen werden zum Drucker. Also es wurde eine Zeitung gemacht mit ganz anderen technischen Mitteln als heute. Und in dieser stets chaotischen und flirrenden Betriebsamkeit, bewegte sich Arno - der stets auf dem neuesten technischen Stand war, wie der Fisch im heimischen Gewässer. Er war Routinier, wusste alles, konnte alles. Und er wusste, was er wollte. Damals gab es bei den tazlern ja noch andere Visionen, als nur den Neubau eines größeren Hauses.

Die Damen und Herren Schriftstellerinnen und Schriftsteller - immerhin zwei zukünftige Literatur-Nobelpreisträgerinnen unter ihnen - versammelten sich in einem ziemlich heruntergekommenen nikotinvergilbten Lokal in Schöneberg. Man saß auf gebrechlichen Stühlen an zusammen geschobenen Tischen und beschnupperte sich gegenseitig. Der Erregungspegel war hoch. Lettau roch nach Aramis und hatte Asthma, Magris blies ein Stäubchen vom edlen Sakko, Jelinek hielt sich die Schläfen vor Migräne, die Ungarn schauten unternehmungslustig in die Runde, während Magnus, Kuby und Müller bereits eine Festung bildeten und die Köpfe zusammen steckten. Fast alle rauchten, Müller Zigarre auf Lunge. Arno saß abseits, wie es dem passionierten Voyeur gebührt und betrachtete wohlgefällig die Beute. Bröckers stellte einen kleinen Abriss dessen vor, womit man es in den folgenden Tagen zu tun haben würde. Auch die presserechtliche Verantwortung war zu klären, Simmel, als der reichste von allen, musste sie übernehmen, ob er wollte oder nicht. Er willigte ein. Die taz-Mitgründerin und Redakteurin Vera Gaserow wurde vorgestellt, ihr oblag es, eine kleine Chronik der Ereignisse zu schreiben und Sabine Sauer, die taz-Fotografin war bereits an der Arbeit. Sie hielt das Geschehen und seine Protagonisten im Bild fest. Dabei ging sie derart diskret vor, dass niemand sich belästigt fühlen musste. Am Ende waren sehr persönliche Bilder zustande gekommen. Man kann sie nur mit Wehmut betrachten, besonders die Bilder von jenen, die inzwischen gestorben sind - teilweise an grauenvollen Krebserkrankungen. Alle schienen damals noch voller Energie und Hoffnung zu sein. (Sabine Sauers Foto zeigt György Dalos und Heiner Müller beim Sichten der Tickermeldungen.)

Weil wir den Verdacht hegten, dass die Dichter nicht aus dem Bett kommen, hatte Bröckers beschlossen, morgens Taxen vors Hotel der Schriftsteller zu bestellen, damit sie rechtzeitig zur Arbeit kommen. Erstaunlicherweise konnte man die Taxen aber abbestellen. Alle waren morgens pünktlich zur Stelle und versammelten sich zur Redaktionskonferenz am großen Tisch der Kommune eins, unter dem großen Wandbild, ich glaube dem Jüngsten Gericht von Bosch. Mittags gab es hier herrliches Essen, frisch gekocht vom Küchen-Kollektiv, das im Nebenraum Kartoffeln schälte, Gemüse putzte und Fleisch brutzelte. Auf den taz-Fluren war ein ständiges aufgeregtes Hin-und-Her, Stimmengewirr, und Suchen. Vor dem miserabel schlechten Fotokopierer bildeten sich Schlangen. Hilflose Menschen mit Manuskripten oder Fotos in der Hand suchten nach Verantwortlichen. Arno teilte sich während der Dichter-taz den Arbeitsraum mit Jelinek und Libuse Moniková, war aber meist unterwegs, stand mit hochgeschlagenen Hemdsärmeln mal hier mal dort und blickte amüsiert auf das wirre Treiben. Man könnte sagen, er war sozusagen im Hintergrund anwesend, im Prinzip bereit, Ahnungslosen seltsame Fragen zu beantworten, etwas zu erklären, womöglich Tränen zu trocknen oder Streit zu schlichten. Wenn er tatsächlich angesprochen und um Auskunft gebeten wurde über dies und jenes, half er freundlich, oder aber er zuckte mit den Schultern, lächelte hintergründig und sagte: "Leute, das ist eure Zeitung und eure Produktion!" Nur für die arme Elfriede Jellinek, die immer noch vollkommen aufgelöst war von der Migräne und - so Arno später - "eine rührende Zerbrechlichkeit" ausstrahlte, erfasste ihn eine Art Empathie. Gisela Elsner hingegen konnte sein Herz nicht erweichen. Obwohl er ihren Roman "Riesenzwerge" sehr schätzt, schaute er doch gelassen zu, wie sie verzweifelt den Flur rauf und runter irrte, auf der Suche nach jemandem, der sich für ihren Text über rücksichtslose Radfahrer in Münchens Innenstadt interessieren könnte. In Ermangelung an Interessenten schrieb sie dann resigniert eine Glosse über die "Berliner Asylregelung", was wirklich wichtiger war und von uns allen vernachlässigt wurde. Die gut gelaunte, gern und viel lachende Heidi Pataki hingegen, fand sich schnell zurecht, schwirrte über die Flure, nannte Mathias und Arno "Schatzerl", sagte: "Das ist quasi dialektisch" und lobte die Veranstaltung. Am Ende aber meinte sie, sie sei noch nie um so viele Jahre gealtert. Das wollte und konnte sich der 80-jährige Hans Mayer freilich nicht leisten. Er ging systematisch ans Werk. Es sprach sich schnell herum, dass er ohne Probleme aus dem Stegreif 300 Zeilen und mehr diktieren konnte. Alle waren sehr beeindruckt. Es musste allerdings jede andere Tätigkeit im Raum eingestellt werden, er brauchte absolute Ruhe zur Konzentration beim Diktat seines Textes "Ödipus oder das Endspiel als Oper", über die Uraufführung der gleichnamigen Oper von Wolfgang Riehm in Berlin. (Der Text wurde dann von der FAZ ziemlich runter gemacht). Arno schaute zu, als Hans Mayer diktierte, und sagte später: "Das kann ich auch." Und er hat es bewiesen.

Die Medien hatten keinen Zutritt, Eingangstüren sind vorsorglich abgeschlossen worden. In der taz sisaßen von der Belegschaft nur noch die Mitarbeiter aus der Technik. Sie warteten mit bangen Gefühlen auf die Katastrophe. Die taz-Redakteure blieben zu Hause, bis auf Vera, Arno und Bröckers, dem Chef vom Dienst. Sein Kunststück hatte darin zu bestehen, mitttels großem Aufwand an Takt und Taktik, an Energie und Widerstandskraft, die Dichter bei guter Laune zu halten. Mit Joint und Seelenruhe geleitete er den chaotischen Haufen sanftmütig durch die Labyrinthe und Irrgärten des Tagwerkes. Dabei sollten auch geistige Getränke behilflich sein, war beschlossen worden. Arnos damals 17-jähriger Sohn Andrian wurde von ihm in den Supermarkt geschickt, um für die Dichterinnen und Dichter Whisky, Moet Chandon, Wein und Bier zu kaufen. Arno wundert sich heute noch, dass man dem Minderjährigen damals solche Unmengen an Alkohol aushändigte. Einige Dichter soffen nicht schlecht, andere gar nicht. Beides schränkte die Arbeitsfähigkeit glücklicherweise nicht ein. Ich musste mir keine Sorgen machen, ich war "Chefin" der Nachrichtenredaktion, die ansonsten ausschließlich aus etwas renitenten männlichen Redakteuren bestand: Enzensberger, Lettau, der zeitungserfahrene Kuby, Heiner Müller, Wichner, Magris. Mit letzterem entstand ein Konflikt. Arno mischte sich nicht ein, war aber anwesend und hörte aufmerksam zu. Es war ein Konflikt zwischen Magris und Kuby. Auslöser war ein Text Kubys: "Betr. RAF: Verstummungs-Gebot", in dem es um die Beschlagnahmung des "Info" mit den RAF-Briefen ging: Magris weigert sich, in einer Zeitung zu arbeiten, in der so ein Text unkommentiert als Aufmacher gedruckt werden soll. Kuby ist wesentlich entgegenkommender und fordert ihn auf, doch selbst diesen Kommentar zu schreiben. Aber er lehnt ab, packt seine Sachen zusammen und geht. Die meisten waren froh, daß der elegant gestriegelte und geschniegelte Herr, der stets anderer Meinung war, freiwillig das Feld räumte. Lettau zischt ihm hinterher: CIA-Agent! Und Müller murmelt etwas über akkurat gekleidete Leute, die ihm schon immer suspekt gewesen seien.

Kuby, als einziger Journalist unter den Schriftstellern, ist so eine Art ruhender Pol. Er ist ungeheuer fleißig, es sieht aber nicht nach Arbeit aus. Er wirkt ganz unverkrampft. Jelinek ergötzte sich an Kubys Professionalität und Energie. Fehlt irgendwo noch etwas, so schreibt es Kuby im Handumdrehen. Wenn alle anderen so gegen neun in die Redaktion kamen, hatte Kuby bereits um halb acht einen Termin am Mariannenplatz und seinen Text fertig im Kopf. Jelinek macht ihm Komplimente und sagt, dass er ihr die Angst vor dem Alter nimmt. Er lacht geschmeichelt. Inzwischen ist er tot, sie selbst 70 Jahre alt. Ich weiß leider nicht, ob es wirklich geholfen hat. Hermann Henselmann jedenfalls hat Elfriede nicht so stark beeindruckt, obwohl er in machohafter Ostmanier den Frauen unentwegt Heiratsanträge und übertriebene Komplimente machte. Der 82 Jahre alte DDR-Star-Architekt (Funkturm, Stalin-Allee, resp. Karl Marx Allee) kam mit einer alten Aktentasche, packte Füllfederhalter und Block aus und machte sich mit kleiner, gestochen scharfer Schrift Notizen. Als erstes gab er bekannt, daß er beim ZK um Erlaubnis gebeten habe, am Projekt teilnehmen zu dürfen. Man habe ihn darin bestärkt, teilzunehmen, und er befinde sich ja in sehr guter Gesellschaft. Zum Schluss sagte er: "Ich habe hier das Gefühl gehabt, mit Gleichgesinnten zusammen zu sein, trotz aller Unterschiede. Außerdem wollte ich mal sehen, wie sich das ganze - nennen wir es mal grob 'Intellektuellengesocks'- bei dieser Aufgabe aus der Affäre ziehen wird. Ich war ja erstaunt, mit welchem Eifer und welchem Ernst alle gearbeitet haben." Und da hatte er Recht. Sogar für die Frauenseite fand sich ein Verantwortlicher. Nachdem keine der Frauen Interesse gezeigt hatte, meldete sich Horst Tomayer und gab sein Bestes, wurde allerdings leserbriefmäßig beschimpft. Elisabeth Kmölniger und Ernst Kahl, die beiden Künstler, übernehmen Karikaturen und Bebilderung. Wenn man die drei Ausgaben heute anschaut, wünscht man sich, solche gut gemachten Zeichnungen, solch subtilen Witz ab und zu mal in der Zeitung zu finden. Sogar die "Externen" waren fleißig, haben gut gearbeitet und pünktlich abgeliefert. Alfred Sohn-Rethel, mit 88 Jahren der älteste Teilnehmer, schrieb einen langen und hochkomplexen Text zum Thema: "Droht die faschistische Ökonomie?" Der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich schickte ein Elephantengedicht, das mir heute noch das Herz umdreht.

Bald wurden die Neuredakteure kühner und kreativ. So entstand, angeregt von Enzensberger, Müller und Lettau, am letzten Tag der "Endlosroman, der aus dem Ticker kam". Saßen anfangs alle noch gebannt, wie das Kaninchen vor der Schlange, am Nachrichtenticker, aus dem in endlosen Papierschlangen die Meldungen des Tages aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Unterhaltung, Gesundheit, Reise, Kultur, Wissenschaft und Technik kamen, so drehte man den Spieß einfach um und stellte aus den Meldungen unter dem Motto: "Die Tatsachen sprechen für sich", einen fortlaufenden Text her. Anzüglichkeiten und merkwürdig erhellende Kombinationen waren garantiert. Alle schrieben mit am Endlosroman, die einzelnen kurzen Texte wurden aber leider nicht namentlich gekennzeichnet. Bei manchen erkennt man den Verfasser. Als das Experiment zu Ende ging, waren viele gerade erst warm gelaufen. Hans Mayer nannte die Versammlung einen: "illustren Haufen", in dem allein "drei von den sieben Böll-Preisträgern dabei sind (…). Das ist ja eine pervertierte Gruppe 47!" Kuby sagte: "Gruppe 87". Er bedauerte es sehr, dass Kluge diesen außergewöhnlichen Menschenversuch nicht mit der Kamera begleiten wollte. Lettau sagte, er habe in den letzten 5 Jahren nicht so viel geschrieben wie in den vergangenen paar Tagen, während Jelinek klagte, sie hätte noch nie so was Schlechtes geschrieben wie in der Dichter-taz. Der illustre Haufen hatte sich gut geschlagen und versank nicht - wie allenthalben prophezeit - in Chaos und Anarchie. Aber er hat auch nicht, was noch schlimmer gewesen wäre, ein elitäres maniriertes Dichterprodukt geliefert.

Die Dichtertaz, wie gesagt, war Arnos größter Streich.

Wir erwarten von ihm, daß er demnächst - und zwar in vollster geistiger und körperlicher Frische - seinen achtzigsten Geburtstag feiern wird.


ELEPHANTENGEDICHT

Elephas Freund
mit dem großen Rüssel
schenk mir ein Zuckerl
die Zeiten sind übel
die Wärter füttern nicht mehr

Zwei drei von den hübschen Pelikanen
sind eingegangen.
meine Freundin die Eule hats erwischt
Wann kommen die Gemsen dran?
Der Komoran? Die Meerkatzen?

Elephas Freund
mit dem großen Rüssel
schenk mir ein Zuckerl
die Zeiten sind übel
die Wärter füttern nicht mehr

Faul liegen sie in der Suhle
lesen den Großwildjäger
Schmeißen mit Steinen nach uns
armen Schimpansen

(Klaus Heinrich)