Tim Ingold

Eine kurze Geschichte der Linien

Cover: Eine kurze Geschichte der Linien
Konstanz University Press, Göttingen 2021
ISBN 9783835391284
Gebunden, 236 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Quirin Rieder. Mit Abbildungen. Was haben Laufen, Weben, Beobachten, Singen, Erzählen, Zeichnen und Schreiben gemeinsam? Tim Ingolds originelle Antwort lautet: Der Mensch vollzieht all diese Tätigkeiten linear. Seitdem Menschen miteinander durch Sprache oder Gesten kommunizieren, haben sie dabei auch Linien hervorgebracht. Ingolds Buch, das längst ein Klassiker der Anthropologie der Gegenwart ist, liegt hier nun endlich in deutscher Übersetzung vor. Seine kurze Geschichte der Linien besticht durch eine ebenso originelle wie umfassende Erkundung eines wissenschaftlich noch kaum erforschten Terrains. Indem Ingold die Struktur und das Wesen der Linie anhand der unterschiedlichsten Beispiele (von sibirischen Labyrinthen über römische Straßen, indigene Strick- und Webartefakte, mittelalterliche Manuskripte, moderne Partituren in Japan, musikalische Rezitationsweisen im antiken Griechenland etc.) untersucht, ergibt sich eine Vielzahl überraschender Perspektiven. In sechs Kapiteln lädt der Autor seine Leser dazu ein, die Geschichte der Linie in unterschiedlichen kulturellen Kontexten über einen Zeitraum von mehr als 2000 Jahren zu ergründen. Welche Arten von Linien gibt es überhaupt? Was für eine Materialität kann eine Linie besitzen? Wie hat sich unser Verständnis von Linearität gewandelt? Was hat dieser Wandel mit unserem Verständnis von Sprache, Gesang, Zeichnen oder unserem Lese- und Flächenempfinden gemacht? Unsere moderne Konzeption von Linearität als etwas Statischem und Organisiertem erweist sich dabei als überaus eingeschränkt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.04.2021

Rezensent Karl-Heinz Kohl sucht die gerade Linie in Tim Ingolds Abhandlung und findet sie erste ganz am Ende des Buches. Zuvor verwirrt ihn der Autor mit allerhand Klassifizierungen, die Kohl nicht wirklich weiterhelfen, die Linie zu fassen zu kriegen. All das gleicht für Kohl mehr einer ethnologischen Studie. Die allerdings findet der Rezensent durchaus lesenswert, zeigt ihm der Autor doch jede Menge Querbezüge auf, zwischen verschiedenen Jenseitsvorstellungen etwa oder religiösen Praktiken. Vor lauter Webmustern und Labyrinthen (mit und ohne Ariadnefaden) vergisst Kohl fast, was der Titel eigentlich verspricht. Wenn der Autor schließlich den Kreis zurückschlägt zur Linie, wird es ziemlich kulturpessimistisch und metaphysisch, findet Kohl, fast wie Handleserei.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 05.02.2021

Rezensentin Andrea Roedig verfolgt gespannt die "erstaunliche" Überlegung, die der britische Anthropologe Tim Ingold in seinem essayistischen Buch entfalte: Er leitet aus einem Geradewerden von Linien im Verlauf der Geschichte unsere heutige Trennung der einst verbundenen Sphären von Musik, Sprache und Schrift ab - anstelle der geschwungenen Handschrift trat der Buchdruck, anstelle von Wanderpfaden die lineare Verkettung von Zielpunkten auf Landkarten, erklärt Roedig. Diese Gegensatzpaare scheinen der Rezensentin zwar etwas schematisch und "nostalgisch", aber zum Nachdenken, beispielsweise über die Bedeutung von Pixeln und Punkten in der digitalen Welt, rege das Buch allemal an.