Thomas Hettche

Woraus wir gemacht sind

Roman
Cover: Woraus wir gemacht sind
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2006
ISBN 9783462037111
Gebunden, 336 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Niklas Kalf arbeitet an einer Biografie über den jüdischen Emigranten Eugen Meerkaz und reist mit seiner Frau Liz zum ersten Mal nach New York. Doch schon am dritten Tag in der Stadt, die gerade den ersten Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center begeht, verschwindet Liz spurlos. Ein erpresserischer Anruf lässt den furchtbaren Verdacht zur Gewissheit werden: Sie ist entführt worden, und Kalf wird gezwungen, Material zu beschaffen, das mit einem dunklen Geheimnis im Leben von Eugen Meerkaz zu tun hat.
Aus Kalfs verzweifelter Suche wird ein Trip ins Innere der USA am Vorabend des Irak-Krieges und das Porträt eines Deutschen in der Fremde. Die texanische Wüstenstadt Marfa und der Central Park, die Bar auf dem Dach des Standard Hotel in L.A., ein verlassenes Kino, eine Villa am Pazifik und eine Lehmhütte in der Prärie. Thomas Hettche entwirft das Panorama eines ebenso vertrauten wie fremden Landes, in dem sein Held mit dem Tod und der Einsamkeit konfrontiert wird. Niklas Kalf wird von einem Sog erfasst, der ihn Frau und Kind beinah verraten lässt. Doch dann wird er aufgespürt und muss sich entschließen zu handeln.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 05.10.2006

Als suggestive Versuchsanordnung und "phantasmagorischen" Bilderreigen feiert Rezensent Ulrich Greiner Thomas Hettches neuen Roman, und verteidigt ihn gegen seine Kritiker, insbesondere Thomas Steinfeld. Im Gegensatz zu seinem Kollegen aus der SZ findet Greiner Hettches Sprache ausgesprochen "suggestiv" und "hoch beweglich", ihre poetische Kraft schafft aus seiner Sicht Atmosphären und Idiosynkrasien, die er wesentlich aufregender findet, als "diese schreibschulmäßige Ausgewogenheitsprosa", die man jetzt überall finden würde. Denn in Hettches kinohaften Schilderungen findet er Erfahrungen aufgehoben und widergespiegelt, die für ihn zum kollektiven Unbewussten nach dem 11. September zählen. Die Thriller-Handlung sei dabei fast nebensächlich. Hettche selber vergesse sie wohl von Zeit zu Zeit, um dann aber doch die "traumwandlerische Selbstvergessenheit" seines Protagonisten und dessen Verschwinden hinter scheinbar so geläufigen Gegenwartsbildern in einer Weise zu schildern, dass dem Rezensenten immer wieder der Atem stockt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 04.10.2006

In den Augen von Rezensent Heribert Kuhn ist Thomas Hettche mit diesem Roman gescheitert. Dessen Anliegen sieht Kuhn bereits in Hettches 1999 erschienenem Venedig-Essay "Animation" formuliert, der vom Versinken der Sprache im "Sand der Bilder" handelte. Doch als Dichter habe er diese, als Essayist so souverän formulierte Thesen nun nicht gestaltet, sondern bleibe weit dahinter zurück, meint Kuhn. Zu ihrer Demonstration habe sich Hettche hier eine Kriminal- und Suspensegeschichte erdacht, die der Rezensent jedoch für ungeeignet hält, um der "zentrale Herausforderung" des Buchs gerecht zu werden, nämlich der Tatsache, dass der Held seine Frau, sein ungeborenes Kind, die "Liebe, Geschichte und Welt" zu Gunsten eines indifferenten Zustands der Verlorenheit aufzugeben bereit ist, der sich nicht aus der Wirklichkeit, sondern den Bildarsenalen der "Fernsehsehnsuchtswelt" speist. Hier wäre nach Ansicht Kuhns auch psychologisch-lotendes Vorstellungsvermögen nötig gewesen, statt schlicht überdehnter Suspense und pseudoexistenzialistische Abgründigkeit. So wird der Plot aus Sicht des Rezensenten schließlich nur noch "von der Mechanik des Klischees vorangetrieben": Die "selbstbewusste Ankündigung" des Titels sieht er erst recht nicht eingelöst.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 16.09.2006

"Ächz, ächz", stöhnt Rezensent Gerrit Bartels, dem dieser Roman um einiges zu überladen geraten ist. Schon den Titel findet er "vollmundig". Denn dieses "Wir" bezeichne die Deutschen schlechthin, zu deren Baustoffen auch ihre Geschichte zähle, die Bartels zufolge der Humus dieses Romans ist. Doch Thomas Hettche habe seine Inhalte leider in eine "abstrus-wirre Geschichte gepackt", der Bartels, wie man liest, eher unwillig gefolgt ist. Zwar komme die Geschichte im Gewand eines Thrillers ("natürlich" vor dem Hintergrund des 11. September) daher, entwickele sich zum Road-Movie und habe sogar Tote zu bieten. Trotzdem findet Bartels den Plot nicht besonders spannend und auch seine Auflösung lässt den Rezensenten kalt. Bartels findet vieles in diesem Roman sehr aufgesetzt, fühlt sich während der Lektüre gelegentlich auch mit dem "Holzhammer" belehrt und stolpert immer wieder über Amerika-Stereotypen und "Handlungsabstrusitäten". Erholung findet er gelegentlich bei "feinen atmosphärischen Momentaufnahmen" und wunderbaren Landschaftsbildern, die der Rezensent zwar oft "eine Idee zu schön" und "manchmal nah am Kitsch", aber insgesamt sehr gelungen findet.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 14.09.2006

Können sich die zweiunddreißig Kritiker der SWR- Bestenliste, kann sich die Jury des Buchpreises irren, die diesen Roman in ihre Shortlist aufnahm, fragt Rezensent Thomas Steinfeld und befindet natürlich: Ja, sie können! Ihm selbst ist Thomas Hettches Buch viel zu ambitioniert. Hettches literarisches Verfahren beruht für ihn auf "Prahlerei", weshalb der Roman am Ende an seiner "Überzogenheit" und seiner "Anstrengung zur Tiefe" zugrunde geht. Nur wenig an der erzählten Geschichte, die Steinfelds Informationen zufolge in New York vor dem Hintergrund des ersten Jahrestages des 11. September und Deutschlands nationalsozialistischer Vergangenheit spielt, findet er "plausibel". Ihn stört Hettches "fataler" Ehrgeiz, sich mit jedem Satz, jeder Beschreibung stets noch einmal selbst zu übertreffen. Dieser Autor wolle sprachlich, konzeptionell und intellektuell überzeugen. Er wolle ein "richtiger Dichter" sein und gleichzeitig "die Massen betören". Am Ende findet Steinfeld das Buch aber weder "trivial unterhaltend" noch "intellektuell befriedigend".
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 12.09.2006

Aus Thomas Hettches Roman könne man ganz verschiedene Geschichten lesen, lobt Rezensent Roman Bucheli. Einerseits sei da ein gestandener Thriller, der den Helden von Ost nach West einmal durch die USA führt, andererseits erzähle der Autor die Geschichte einer Amerika-Obsession, eines imaginären, durch Filmkonsum induzierten inneren Amerikabildes. Interessanterweise, so der Rezensent, lenke gerade das unrealistische Bild des Filmhelden seine Handlungsweise bei der realen Entführung seiner Frau. Die dritte Geschichte oder Ebene des Romans sieht der Rezensent in einer "klugen" Stellungnahme des Autors gegenüber einer heutzutage häufig allzu einfachen Amerika-Kritik. Im Hintergrund des Romangeschehens stehe gerade der zweite Irakkrieg bevor. Beim Helden verstärke die Desillusionierung geradezu seine Sympathien für Amerika, und beim Autor, so der Rezensent, sei eine tiefe "Bewunderung" für das letztlich unergründliche Land spürbar.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.08.2006

Heinrich Wefing ist begeistert vom jüngsten Roman Thomas Hettches, der in jedenfalls einer Hinsicht eine neue Richtung einschlage. Waren die bisherigen Werke des Autors genaue und detailversessene Bestandsaufnahmen bundesrepublikanischer Befindlichkeiten, so gibt es jetzt einen Schauplatzwechsel. Der Held Niklas Kalf gerät im Zuge eines biografischen Projekts in die USA. Dort verschwindet erst seine schwangere Frau Liz, dann verliert er sich selbst, zunächst in New York, dann im texanischen Kaff Marfa. Überaus geschickt verstehe es Hettche, seinen Roman in der Balance zu halten, zwischen Thrillermomenten und Fremdheitserfahrungen, die sich auch in Dialog- und Zitatpassagen in englicher Sprache äußern. Die Situierung im Jahr 2002 ist nicht zufällig, der 11. September und das Amerika des George W. Bush sind als Hintergrund stets präsent. Höchst willig - und ohne eine einzige kritische Anmerkung - folgt der Rezensent, daran besteht kein Zweifel, dem Verlauf der Handlung, die sich atmosphärisch zusehends den Filmen David Lynchs annähere.
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