Robert Castel

Die Metamorphosen der sozialen Frage

Eine Chronik der Lohnarbeit
Cover: Die Metamorphosen der sozialen Frage
UVK Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 2000
ISBN 9783879405824
Broschiert, 416 Seiten, 34,77 EUR

Klappentext

Robert Castel stellt sich in diesem Werk gegen die Floskel vom "Ende der Arbeit". In einem breit angelegten historischen Panorama entfaltet er den langen Weg, der die Lohnarbeit von der elendsten und würdelosesten Lage zum Modell der Produktion gesellschaftlichen Reichtums geführt hat, welches materielle Sicherheit und soziale Identität gewährleistete. Unsere aktuelle Krise wirft in verwandelter Form die gebannt geglaubten sozialen Fragen der europäischen Geschichte erneut auf, wobei sie weit über das Problem sozialer Ausgrenzung am Rand unserer Gesellschaft hinausgreift. Das heute spürbare Prekärwerden der Arbeit bringt unser mühsam über Jahrhunderte hinweg erbautes Modell gesellschaftlichen Zusammenhalts, die Lohnarbeitsgesellschaft, ins Wanken. Robert Castels Diagnose mündet in die Formulierung möglicher Szenarien für die Zukunft und die daraus resultierenden Herausforderungen an Politik und Gesellschaft. Sein Buch schöpft aus der Geschichte, erzählt aber eine Geschichte der Gegenwart.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 24.04.2001

Der französische Soziologe Robert Castel zeigt hier beispielhaft, wie man über Geschichte schreiben soll: nämlich aus einem "gegenwartsbezogenen Interesse" heraus, meint Rezensent Urs Hafner. Castel, früher Mitarbeiter Michel Foucaults, habe mit seinem Buch eine Geschichte der sozialen Frage vorgelegt. Die Aktualität sieht Hafner in der gegenwärtigen Zunahme der Freiberufler, die sich "von einem Job zu nächsten hangeln". Manches an Castels Geschichte hat den Rezensenten überrascht: so stellt er fest, dass Lohnarbeit eigentlich erst mit Luther für wertvoll erachtet wurde, davor galt sie als "Folge der Erbsünde". Die soziale Frage, die es natürlich auch in früheren Jahrhunderten gab, wurde einfach nicht gestellt, referiert Hafner. Für Vagabunden und Bettler war die Kirche zuständig - wenn man sie nicht einfach verjagte. Erst der Mitte des 20. Jahrhunderts gegründete Sozialstaat habe nach Castel einen gewissen Grad an sozialer Gerechtigkeit für alle geschaffen. Hafner scheint mit Castel der Ansicht zu sein, dass Lohnarbeit für alle "das wichtigste Fundament der 'citizenship'" bildet. Ihm gefällt auch, dass Castel keine "simplen Rezepte" anbietet. Nur dass er in seiner Geschichte die Frauen, meist die ersten Arbeitslosen, ganz ausgeklammert hat, sei zweifellos eine "Verzerrung".

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.04.2001

Dieter Langewiesche zeigt sich sehr angetan von dieser Darstellung, die er keineswegs nur den "Gralshütern des Neoliberalismus" ans Herz legen möchte. Zwei Aspekte hebt der Rezensent dabei besonders hervor. Zum einen scheint er Castels Plädoyer für einen 'strategischen Staat' recht überzeugend zu finden, in dem der Autor die These vertritt, dass der Staat für eine soziale Mindestsicherung seiner Mitglieder sorgen müsse, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu garantieren. Zum anderen gefällt es dem Rezensenten sehr, wie Castel die Gesellschaften vergangener Jahrhunderte beleuchtet und die Entwicklung der Lohnarbeit erläutert, wobei der Autor stets auch den Blick auf die Ränder der Gesellschaft gerichtet habe, weil sich Probleme einer Gesellschaft seiner Ansicht nach häufig von der Peripherie ins Zentrum bewegt hätten. "Große Geschichtsschreibung", nennt Langewiesche dies, insbesondere deshalb, weil diese Darstellung der Vergangenheit seiner Ansicht nach für gegenwärtige Probleme und Missstände sensibilisieren kann. Darüber hinaus zeichnet sich das Buch durch "glänzende Analysen" aus, so Langewiesche.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 05.02.2001

Als eine Genealogie der Gegenwart im Sinne Foucaults schildert Gustav Roßler Castels historisierende Herangehensweise an das Problem der Arbeitslosigkeit und die Geschichte der Arbeit an sich. Schon in den "Vagabunden" des 14. Jahrhunderts, bei denen es sich oft um Arbeitssuchende handelte, erkennt Castel nach Roßlers Referat Vorformen der heutigen Desintegration der Arbeitswelt. Dabei lobt Roßler, dass Castel seine Geschichte keineswegs trocken erzählt, sondern unter Heranziehung unterschiedlichster Quellen unter religiösen, wirtschaftlichen und soziologischen Aspekten beleuchtet. "Nicht ganz so deutlich" wird dem Rezensenten nach der Lektüre des Buchs, wo Castel die Perspektiven der heute sich auflösenden Arbeitsgesellschaft sieht. Den neuen Technologien scheint er zu misstrauen. Glaubt man Roßler, dann bleibt die soziale Marktwirtschaft Castels bevorzugtes Modell.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 28.09.2000

In einer Doppelbesprechung rezensiert Mathias Greffrath zwei Bücher, die sich mit den Folgen eines ungebremsten Kapitalismus auseinandersetzen:
1) Jeremy Rifkin: "Access. Das Verschwinden des Eigentums" (Campus)
Das neueste Buch des Leiters der Foundation on Economic Trends (Washington) wird Greffrath zum Anlass einer höchst pessimistischen Betrachtung dessen, was Kapitalismus ist und was er sein wird. Genauer gesagt geht es dem Autor, und mit ihm dem Rezensenten, um die Frage, welche Folgen Digitalisierung, Outsourcing, Beschleunigung der Kapitalbewegung etc. für Individuen und Gesellschaften haben werden. Die Trends hat Rifkin, so Greffrath, schon in früheren Büchern beschrieben, und ihre wichtigsten Folgen, nämlich das zumindest ökonomische Überflüssig-Werden von einem Drittel der Menschheit, prognostiziert und beklagt. In diesem Buch nun wendet er sich dem zu, was auf Englisch "access" heißt, nämlich Zugang zu dem, was der Mensch zum Leben braucht: Wohnung, Arbeit, einen festen Ort, Gefühle und ein Bild von sich und seiner Kultur. In dem, was Rifkin als Entwicklung der Wirtschaft - und zunehmend auch öffentlicher Dienste - beobachtet hat, nämlich die Zentralisierung großer Unternehmen auf eine Art Blaupausen-Zentralmanagement, das die Umsetzung von Produktion und Vertrieb an potenziell jeden Ort der Welt und ungesichert ad hoc Arbeitende delegiert, bewirkt eine Enteignung und Entmachtung von Gesellschaften. Und je mehr auch private Gefühle und Geselligkeitsbedürfnisse per Ware im Bild-, Unterhaltungs-, Spiel- und Eventkulturbereich vermarktet werden, desto zerstörerischer ist diese Enteignung. Übrig bleiben hohe Profitmargen, die eine winzigen Schicht von Reichen noch reicher machen, und eine unüberschaubare Menge von Konsumenten, die sich selbst den Zugang zur Befriedigung ihres Menschseins, ihren eigenen Kultur-, Liebes- und Hassbedürfnissen erkaufen müssen. Greffrath unterscheidet in seiner Besprechung kaum zwischen sich und dem Autor und nutzt dessen hier ausgebreitete Kenntnisse und Recherchen als Unterfütterung einer höchst pessimistischen Einschätzung der gesellschaftlichen Zukunft. Damit steht er übrigens nicht allein: 150 Topmanager haben auf Rifkins Frage, ob sie die von ihnen gestaltete Welt ihrer Enkel für lebenswert hielten, allesamt mit Nein geantwortet, erzählt Greffrath.
2) Robert Castel: "Die Metamorphosen der sozialen Frage" (UVK)
Auch die bürgerliche Gesellschaft, so hebt Matthias Greffrath hervor, hat ihren Reichtum nach Castel immer aus der riesigen Masse "zweifüßiger Werkzeuge" geschöpft. Immerhin ist durch die Französische Revolution aber die Idee der Gleichheit in die Welt gekommen, und so müssen sich die Bürger mit den Ansprüchen der Nichteigentümer seither irgendwie herumschlagen. Castel hält den historischen Kompromiss, der daraus in Europa erwachsen ist, nämlich den Sozialstaat, für ein Erbe, das verpflichtet. Und seine Vorschläge, wie das zu bewerkstelligen sei, so Greffrath, sind eine "radikale allgemeine Arbeitszeitverkürzung und eine Modernisierung des Sozialsstaats". Obwohl der Rezensent dem wohl zustimmen möchte, sieht er nicht, dass irgend eine Partei oder "öffentliche Meinung" dafür zur Zeit zu haben ist. Und er entnimmt Castel und seinem "realistischen Zukunftsszenario" einer "turbofeudalen Herrschaft", dass die Menschen der Zukunft als "Gesellschaftswesen" hilf- und ratloser dastehen werden als selbst die Arbeitslosen der Vergangenheit.
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