Jürgen Habermas

Die Zukunft der menschlichen Natur

Auf dem Weg zur liberalen Eugenetik?
Cover: Die Zukunft der menschlichen Natur
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001
ISBN 9783518583159
Taschenbuch, 125 Seiten, 14,32 EUR

Klappentext

Jürgen Habermas führt die philosophische Auseinandersetzung über den Umgang mit Genforschung und Gentechnik vom weltanschaulichen Streit über den moralischen Status des vorpersonalen menschlichen Lebens weg. Er nimmt die Perspektive einer künftigen Gegenwart ein, aus der wir vielleicht auf die heute umstrittenen Praktiken als Schrittmacher einer liberalen, über Angebot und Nachfrage geregelten Eugenik zurückblicken.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 07.11.2001

Die rasante Entwicklung der Technologien und Biowissenschaften hat eine Renaissance der anthropologischen Reflexion in der Philosophie eingeleitet, behauptet Manfred Geier, der in seiner Rezension mehrere Bücher zum Thema vorstellt, aber nur auf das von Habermas im Detail eingeht. Die Dankesrede von Jürgen Habermas zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels verdeutlicht für Geier eine zaghafte Annäherung des Frankfurter Philosophen an die Religion. Wer genauer hingesehen hat, hätte diesen Schwenk bereits früher ahnen können, schreibt Geier und zitiert Habermas als "Nachmetaphysiker der Religion", der an einem "Sinn des Unbedingten" festhalten wolle. Mit einem Leben und Denken in künstlichen Welten wolle sich Habermas nicht anfreunden, meint Geier zusammenfassend und nennt den Autor wohlwollend einen "Gattungsethiker des richtigen Lebens". Gegen die neuen Technologien, die die Grenzen zwischen Personen und Sachen, zwischen Natürlichem und Künstlichem zum Zerfließen bringen, setze Habermas auf die "Unantastbarkeit der Person, die Unverfügbarkeit der naturwüchsigen Leiblichkeit" und die bereits zitierte "Unbedingtheit der Sprache". Habermas verleihe in den beiden neuen Essays, die in diesem Buch versammelt sind, vor allem seiner Skepsis gegenüber den neuesten Entwicklungen Ausdruck. Ein Anschluss oder inhaltlicher Austausch mit ebenfalls die Philosophie traktierenden Kollegen wie den Futurologen Minsky, Moravec oder Kurzweil, kommt Geier zum Schluss, findet beim "Philosophen des Dialogs" nicht statt.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 10.10.2001

Jürgen Habermas sucht in seinem neuen Buch nach "allgemein zustimmungsfähigen" Gründen gegen "positive Eugenik" - und zur Zustimmungsfähigkeit gehört insbesondere die weltanschauliche Neutralität, religiös fundierte Argumente scheiden also aus. Das Fundament, auf dem Habermas seine Argumentation stattdessen ruhen lässt, ist das der "Gattungsidentität", die unverfügbar bleiben soll - da durch vorgeburtliche Verfügung darüber ein asymmetrisches und nicht-egalitäres Verhältnis zwischen Bestimmenden und Bestimmten, vulgo: Eltern und Kindern, entstünde. Die große Frage ist dann jedoch, wie Hilal Sezgin in ihrer Rezension betont, ob diese Asymmetrie tatsächlich qualitativ von der unvermeidbar durch Erziehung entstehenden unterscheidbar ist. Habermas sagt ja und geht von einer "interaktiven" Strukturierung der Erziehung aus, von der bei Vorbestimmung über den "Leib" des Nachwuchses nicht die Rede sein könne. Damit jedoch impliziert Habermas die weitgehende Vorbestimmung durch genetische Eingriffe und gerät damit, so Sezgin in Verweis auf Evelyn Fox Keller, in die Nähe eines auch biologisch unplausiblen Gen-Determinismus: genetische Veränderungen und Eingriffe legen in aller Regel nicht ein für allemal das weitere Schicksal des Individuums fest, dieses ist immer in Auseinandersetzung mit der eigenen Natur und sozialen Umgebung mitbestimmbar. Habermas' Fazit, bestimmte eugenische Eingriffe seien nicht zulässig, weil durch sie das egalitäre Fundament, auf dem wir stehen, unterhöhlt wird, scheint Sezgin trotz der Einwände nicht nur nachvollziehbar zu finden, sondern zu unterstützen.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 10.10.2001

Einen "großen öffentlichen Intellektuellen" nennt Rene Aguigah Jürgen Habermas, der sich immer wieder zu gesellschaftlich aktuellen Fragen zu Wort meldet. Vom Kommentar zum CDU-Spendenskandal bis hin zur Frage, welche Folgen die Entschlüsslung des Genoms für das menschliche Selbstverständnis hat, reicht das Repertoire der Themen, über die sich Habermas Gedanken mache. So auch in dem Band "Die Zukunft der menschlichen Natur", der von Aguigah besprochen wird. Dieser Band gehört zu einer Sammlung von Habermas' Beiträgen zur Bioethikdebatte, in der der Verfasser "die Gattungsidentität" als "Basis für den Überbau des moralischen Bewusstseins identifiziert". Besonders spannend an Habermas' Analyse findet der Rezensent die Idee, "den menschlichen Zellhaufen antizipatorisch als Diskursteilnehmer zuzulassen".

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 09.10.2001

Das Selbstverständnis des Menschen steht seit der Entschlüsselung des Genoms in Frage und diesem Thema widme sich Habermas als "aufmerksamer Bürger" und "Diskursethiker" in seinem neuen Buch, das zwei Studien versammelt, wie der Rezensent Uwe Justus Wenzel am Anfang seiner Besprechung informiert. So beschäftige sich Habermas mit der "Bedrohung des humanen Selbstbildes" angesichts der Präimplantationsdiagnostik und versuche die Frage zu beantworten, inwiefern es zukünftigen Generationen noch möglich sei, als freie und moralische Personen aufzutreten. Nach Wenzel konzentriert sich Habermas' Argumentation im Kern um die Selbstwahrnehmung, die diesen potentiell "programmierten Individuen" zukomme. Die Gefahr besteht nach Habermas darin, dass die Verdinglichung, die diesen Individuen angetan werde, sich als Selbstverdinglichung fortsetzen würde, referiert Wenzel. Dieser potentiellen Selbstverdinglichung setze Habermas die "Unverfügbarkeit des eigenen Anfangs" entgegen, die allein garantiere, dass sich ein Individuum als selbstverantwortlich verstehe. Damit werde auch gleichzeitig die Grenze seines zentralen Arguments aufgezeigt, wie Wenzel meint, denn Habermas' Forderung hat seiner Ansicht nach nur so lange Gültigkeit, als der Mensch ein Interesse daran hat, innerhalb einer moralischen Gesellschaft zu leben.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 20.09.2001

Mit seiner "bravourösen Intervention in die Biomedizindebatte," so schreibt Andreas Kuhlmann, gelingt es Jürgen Habermas, jenseits der Frage, welcher moralische und rechtliche Status Embryonen zukommt, deutlich zu machen, warum die Instrumentalisierung früher Stadien menschlichen Lebens beunruhigt. Für den Autor, heißt es, der als "philosophischer Pfadfinder" die Natur der anstehenden normativen Probleme und damit "neues Terrain" zu erschließen sucht, steht dabei nicht weniger als die "Identität des Einzelnen als Mitglied der Gattung Homo sapiens" auf dem Spiel. Wie das Selbstverständnis einer Person und ihr Status in einer Kommunikationsgesellschaft durch eine genetische Programmierung korrumpiert werden, stellt Habermas laut Kuhlmann überzeugend dar. Weniger brillant dagegen fällt offenbar die Beurteilung von Formen der Embryonenforschung aus, die nicht als Praktiken "positiver Eugenik" zu verstehen sind. Hier, so Kuhlmann, spricht Habermas "in sehr konventioneller Weise" vom "verdinglichenden" Umgang mit menschlichem Leben. Möglich allerdings, dass dies Ausdruck ist für die wieder lobenswerte "Skepsis" des Autors "gegenüber dem eigenen 'Alarmismus'."