Jeffrey Verhey

Der `Geist von 1914` und die Erfindung der Volksgemeinschaft

Cover: Der `Geist von 1914` und die Erfindung der Volksgemeinschaft
Hamburger Edition, Hamburg 2000
ISBN 9783930908585
gebunden, 417 Seiten, 29,65 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Jürgen Bauer und Edith Nerke. Daß es "Russenköpfe regnen und Franzosenköpfe schneien" möge, war im Herbst 1914 in Deutschland ein Wunsch, der, ebenso wie die Begrüßung "Gott strafe England" und die Erwiderung "Er strafe es", zur Alltagssprache gehörte. Das Feindbild war klar und die Einheit der Deutschen, wie es schien, unerschütterlich. Allerdings war die Kriegsbegeisterung nicht die alleinige Reaktion auf die deutsche Kriegserklärung. Stärker verbreitet waren, insbesondere in den kleineren Städten und auf dem Land, das Gefühl der Unruhe, der Angst und sogar der Panik. Woher rührt dann aber das tradierte Bild vom "Augusterlebnis"? Was verbirgt sich hinter diesem Bild und wofür steht es? Jeffrey Verhey weist nach, daß schon bald nach Kriegsbeginn auch nur entfernt kritische Stimmen unterdrückt und ein "Geist von 1914" beschworen wurde, der den Kriegszielen förderlich war.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 05.07.2000

Obwohl bereits einzelne Studien an dem Bild einer umfassenden Kriegsbegeisterung der Deutschen im August 1914 gekratzt habe, so liegt nach Ansicht von Werner Bührer hier nun endlich eine "Gesamtdarstellung der öffentlichen Meinung" vor, die die "These vom `Transformationserlebnis` ins Reich der Legenden verweist". Bührer zeigt sich vor allem von Verheys akribischer Recherche, seiner Methodik und seiner differenzierten Aufarbeitung dieser Thematik beeindruckt. So habe der Autor zwar auch Zeitungsartikel in seine Untersuchungen miteinbezogen (die - wie er anmerkt - natürlich auch die öffentliche Meinung mit geformt haben), sondern auch Tagebücher und Polizeiberichte aus dieser Zeit. Dabei zeigt sich, so Bührer, dass die Kriegsbegeisterung vor allem eine Angelegenheit der großstädtischen Mittel- und Oberschicht war. Aber auch hier differenziere der Autor, beispielsweise zwischen "Neugier", "Germanifizierungsmanie" oder `Radaupatriotismus`. Neben diesen Erscheinungen jedoch sei es auch zu panischen und depressiven Reaktionen gekommen, "Angst, Panik, Trauer und Niedergeschlagenheit" waren weit verbreitet, stellt Bührer fest. Im zweiten Teil des Buchs, in dem Verhey auf die Entstehung des Mythos "Geist von 1914" eingeht, findet der Rezensent vor allem seine Erläuterungen interessant, inwiefern die politisch Rechte "das Ende der Sozialdemokratie, die Linke die Überwindung der Klassengesellschaft" damit verband.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 31.05.2000

Der Autor räumt in seinem Buch mit der Legende vom "Augusterlebnis 1914" auf, dem Mythos von der allgemeinen rauschhaften Begeisterung für den Krieg - und er tut dies, meint der Rezensent Volker Ullrich, durchweg überzeugend. Statt Pauschalisierung biete Verhey zeitliche, soziale und regionale Differenzierung. Die Methode, die in der genauen Auswertung der zeitgenössischen Presse besteht, hält Ullrich für denkbar geeignet und die Ergebnisse für zutreffend. Die allgemeine Begeisterung habe sich auf bestimmte Klassen (bürgerlich-akademisch) und die kurze Phase des Kriegseintritts beschränkt. Zum Mythos, so der Rezensent, sei das "Augusterlebnis" erst im Nachhinein geworden, nicht zuletzt in der Nazipropaganda.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 27.05.2000

In einem ausgreifenden Essay stellt Uwe Justus Wenzel dieses Buch zusammen mit Kurt Flaschs "Die geistige Mobilmachung - Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg" (Alexander Fest Verlag) vor.
1) Jeffrey Verhey: "Der `Geist von 1914`"
Wenzel betont, dass das "Augusterlebnis", die angebliche kollektive Kriegsbegeisterung der Deutschen zu Beginn der Ersten Weltkriegs, bei Verhey eher als eine nachträgliche Konstruktion denn als eine tatsächliche Begebenheit erscheint. Ebenso weit verbreitet seien 1914 Angst und Skepsis vor dem Krieg gewesen. Die gemeinschaftliche Ergriffenheit vor dem Krieg entlarve Verhey vielmehr als eine Ergriffenheit jener, die über sie schrieben und sie feierten - also besonders der Akademiker und der Intellektuellen. Im Lauf des Kriegs werde "der Geist von 1914" dann immer mehr aus Propagandazwecken beschworen. Wenzel begnügt sich in seiner Kritik mit einer Skizzierung des Inhalts von Verheys Buch, ohne es näher zu bewerten. In jedem Fall meint er, in diesem Buch "eine erste Gesamtdarstellung jenes Phänomens" vor sich zu sehen.
2) Kurt Flasch: "Die geistige Mobilmachung"
Flasch porträtiert für den Rezensent mehr als Verhey die "tatsächlich Begeisterten" - also große Teile der deutschen intellektuellen Elite. Zwar erinnert Wenzel daran, dass es zum Thema bereits Studien gibt - er verweist auf Bücher von Herrmann Lübbe und Helmut Fries -, aber "dennoch lohnt die Lektüre", selbst wenn dieses Buch "manchen Zug eines verwitterten Vorlesungsmanuskripts" trage und nicht vollendet worden sei. Wenzel betont, dass Flasch vor allem erzählen will und darum auch eine gewissse Buntheit seines Inhalts in Kauf nimmt. Eine These habe Flasch dennoch: Die intellektuelle Produktion habe der "Sinngebung des Sinnlosen" gedient. Dabei äußert Flasch nach Wenzel einen fundamentalen Zweifel an der Philosophie, dem der Rezensent nicht folgen mag.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.05.2000

Jost Dülffer ist von dieser Studie sehr angetan. In seinem Versuch, die Stimmung vor und beim Aufbruch des ersten Weltkriegs darzustellen, habe der Autor die Ereignisse im August 1914 sehr genau und differenziert untersucht, ohne dabei Detailforschung über einzelne Städte oder Bevölkerungsschichten zu betreiben. Vielmehr hat sich Jeffrey bemüht, den "Geist von 1914" in seinen unterschiedlichen Ausprägungen zu erfassen, lobt Dülffer. Dabei habe er zeigen können, dass nicht nur der begeisterte Aufbruch, sondern auch die Angst vor dem Krieg und Misstrauen zum Ausdruck kamen. Herausgekommen ist eine "innovative Studie", die, so Dülffer, ganz klar zeigt, dass der vielbeschworene "Geist von 1914" ein "Konstrukt" war, das "bald zu einem Mythos wurde". Nur die "komische Seite" der Reaktionen auf den Ausbruch des Krieges findet Dülffer vielleicht etwas überschätzt.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 08.04.2000

Bernd Ulrich hält das Buch für eine "bemerkenswerte Studie" und stellt es in mancher Hinsicht über andere zu diesem Thema bereits erschienene Bücher. Zu diesem Schluß kommt er vor allem deswegen, weil Verhey hier nicht nur die "öffentliche Meinung in Deutschland im Juli und August 1914" untersucht hat, sondern auch der "Entstehung und Rezeption, des in diesen Monaten geborenen `Geistes von 1914`" ausreichend Raum gibt. Durch die Auswertung von Zeitungsartikeln, Tagebüchern, Polizeiberichten u. ä. komme der Autor zu dem überraschenden Schluss, dass die Kriegs-Euphorie von 1914 bei weitem nicht so einhellig war, wie bisher im allgemeinen angenommen. Ulrich weist darauf hin, dass Verhey ganz unterschiedliche Arten von Massenaufläufen ausgemacht hat, und dass ihre Teilnehmer selbst häufig ebenfalls von widersprüchlichen Gefühlen beherrscht waren. Besonders beeindruckt zeigt sich Ulrich von Verheys "quellenreichem" Beleg dafür, wie ausgehend von dieser Basis der Mythos eines `Geistes von 1914` entstanden ist.
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