Vorgeblättert

Marie Luise Knott: Dazwischenzeiten - Leseprobe Teil 2

28.08.2017.
Arbeiterkampftag 1. Mai

Ein Datum, das die Stimmung im Land und wohl auch Brechts Tun radikalisiert haben dürfte, war der 1.Mai 1929. An jenem "internationalen Kampftag der Arbeiterklasse" steht Bertolt Brecht mittags bei Fritz Sternberg in der Koblankstraße im Berliner Stadtbezirk Wedding am Fenster. In unmittelbarer Nähe ist das Karl-Liebknecht-Haus, die damalige Parteizentrale der KPD. Gemeinsam beobachten die Freunde, wie sich die Kommunisten entgegen dem Demonstrationsverbot der sozialdemokratischen Berliner Regierung öffentlich versammeln. Immer wieder werden die sich formierenden Gruppierungen von der Polizei aufgelöst. Es geht hin und her. Plötzlich hören Brecht und Sternberg Schüsse. Schreckschüsse der Polizei, denken sie. Doch dann sehen sie, wie Demonstranten niederstürzen und kurz danach auf Bahren fortgetragen werden. "Als Brecht die Schüsse hörte und sah, dass Menschen getroffen wurden, wurde er so weiß im Gesicht, wie ich ihn nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte", erzählt Sternberg später. Nach diesem Erlebnis fahren sie mit Brechts Auto durch die Stadt, um sich ein Bild der Lage zu machen. Immer wieder hindern Straßensperren der Polizei sie am Durchkommen.

29 Demonstranten wurden an diesem Tag erschossen. Die Lage verschärfte sich. Die Parolen auch. Nazis und Kommunisten lieferten sich Saal- und Straßenschlachten. In den Schlangen der Arbeitslosen vor den Stempel-Ämtern brodelte es: Überall Erniedrigung und Verzweiflung, die Wirtschaft kollabierte zusehends. Die Zahl der Arbeitslosen stieg dramatisch: von 1,6 Millionen im Oktober 1929 auf über 3 Millionen im Februar 1930; 4 Millionen waren es im Dezember 1930 und fast 5 Millionen im Februar 1931. Die Dunkelziffer (der vom Arbeitsamt nicht Registrierten) lag bei fast 1 Million. Während die Armut zunahm in den Städten und den Einzelnen bedrohte, heizten die Morde die Stimmung an.

Die Umgestaltung durch die Zeit lässt nichts unberührt. Wie konnte die Kunst darauf reagieren, dass in der Krise alles, was Menschen verband, in Frage stand? Dass die Politik in den Familien das Tischtuch zerriss und der Neid auf den (noch vorhandenen) Arbeitsplatz Freundschaften zerschlug? In der letzten Szene des Films Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt, für den Brecht 1930 das Drehbuch schrieb, stehen Menschen in einer vollgepackten U-Bahn und empören sich über eine Nachricht aus der Zeitung, die von heute sein könnte. In Brasilien seien 24 Millionen Pfund Kaffee verbrannt worden, um den Kaffeepreis künstlich hochzuhalten. Einige spekulieren über die "Logik" einer solchen Maßnahme, andere erregen sich über solchen Zynismus und darüber, dass man als Einzelner in dieser globalen Welt nichts mehr zu bestellen hat. "Tja, wir beiden, wir werden die Welt ooch nicht ändern" - sagt ein kahlköpfiger Herr. Und ein anderer: "Sehen Sie, wir brauchen ja gar nicht so viel Kaffee. Wir sind ein sparsames Volk. Die Hauptsache ist, wir machen uns vom Ausland unabhängig. Wenn wir in Deutschland unseren Kaffee selbst anbauen würden." Der Film endet mit dem Solidaritätslied. Doch auch mit diesem im Gesang gestifteten Gemeinschaftsgefühl war dem Schwindel der Verhältnisse nicht beizukommen.


Vom Lehren und Lernen

Zur gleichen Zeit eroberte das Radio damals Küchen und Wohnzimmer. Schriftsteller, Musiker und Klangkünstler suchten nach Mitteln und Wegen, das neue Medium partizipativ, ja demokratisch zu nutzen. Das Theater, so Brecht, war zwar eine gewohnte Sache, aber eine alte Institution. Mit dem Rundfunk sollte es anders werden. Das Radio sollte den Leuten nicht nur etwas zu hören geben, sondern auch etwas zu tun; es sollte, wie alles Neue, ein Experimentierfeld sein und die Leute nicht weiter isolieren, sondern in Beziehung bringen. Nur wie? Brecht, Benjamin, Ernst Schoen und viele Zeitgenossen wollten damals die Kultur beleben und den Ausgeschlossenen eine Stimme geben. Würde man etwas miteinander erfahren? Wer würde was zu sagen haben?

In diese Überlegungen hinein erfand Brecht 1929 die Lehrstücke, eigentlich: Lernstücke - Verstörendes für unser aller Lehrlingsdasein in dieser Welt. Anlass für das erste Lehrstück boten die von Paul Hindemith geleiteten Tage der deutschen Kammermusik in Baden-Baden. Erstmals prägten hier zwei völlig neue Formate das Konzertprogramm: Radiomusik und Gemeinschaftsmusik. Man wollte Hörer und Publikum aktivieren. Die Leitung hatte Brecht mit zwei Werken beauftragt. Am ersten Abend präsentierten Hindemith und Brecht ein "Radiolehrstück für Knaben und Mädchen" mit dem Titel Der Flug der Lindberghs; am nächsten Abend wurde das unter Mitarbeit von Weill komponierte experimentelle Lehrstück, das spätere Badener Lehrstück vom Einverständnis, uraufgeführt. Die Idee, interessierten Hörern vorab per Post Gesangsnoten von einzelnen Partien des Lindberghflugs zuzusenden, um sie daheim zum Mitsingen zu animieren, kursierte zwar, doch dieses Projekt kam wohl nicht zustande. Auf der Bühne las man: Tun ist besser als Fühlen. Auch das Musikstück des zweiten Abends, das Lehrstück, war explizit als offene konzertante Darbietung angelegt, als eine Übung in Laiengemeinschaft. Die Komposition enthielt Chorstücke, bei denen die Zuschauer mitsprechend und mitsingend am Theater mitwirken sollten, unterstützt von professionellen Sängern, die vorher mit dem Publikum üben und dann, im Publikum verstreut platziert, den Laiengesang stützen sollten. Ob man die Menschen und auch die Arbeitslosen, die kein Amt und keinen Auftrag mehr besaßen, zum eigenen Gebrauch von Wort und Stimme animieren konnte? Was dachten sie, wenn sie sprachen: "Was da ist ohne Amt, ist kein Mensch mehr. Stirb denn, du Keinmenschmehr!" oder: "Ändernd die Welt, verändert euch! Gebt euch auf!"

Brechts Lehrstücke sollten die Konsumenten zu Produzenten machen. Sie boten Sätze, die man sich einprägen konnte und sollte. Einfache Sätze, die wieder und wieder wiederholt wurden. Gedreht und gewendet. Die Sätze brachten Fragen auf, denen die Leute daheim kaum Raum gaben. Aus dem Theater konnten sie mit den Sätzen auch die Fragen nach Hause tragen, die in den Stücken verhandelt wurden.

Gleich eingangs im Badener Lehrstück steht die simple Frage, ob der Mensch dem Menschen überhaupt in seiner Not helfen könne oder ob nur mit Gewalt die herrschenden Gewaltverhältnisse abzuschaffen seien, die das Leid erzeugten. Aller technischer Fortschritt, der die Menschheit von der Fron der Arbeit entlasten und dem freien Menschen das Tischleindeckdich und den fliegenden Teppich bescheren sollte, habe nicht bewirkt, was er bewirken sollte: "Das Brot wurde dadurch nicht billiger", singt der Chor wie einen Kehrreim. Wo das Baden-Badener Lehrstück mit der Aufforderung "Gebt euch auf!" endete, begann 1930 die Schuloper Der Jasager - mit der Aufgabe des Ichs: "Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis."

Einverständnis als Fundament menschlichen Zusammen- seins bedeutet, anders als Zustimmung, dass nicht zwei, drei oder mehr Individuen sich miteinander für einen Augenblick auf eine Sache per Dezision verständigen, sondern dass es einen gemeinsamen tragfähigen Grund gibt, der nicht nur eine vorhandene Gemeinschaft, sondern auch Fremde miteinbeziehen kann. Einverständnis grundiert eine Zeit und transzendiert den Einzelnen. Doch mehr denn je stand 1930 der Zusammenhalt der Gesellschaft in Frage: was eigentlich diese kapitalistische Menschenwelt im Innersten noch zusammenhält. Und ob, ähnlich wie ehedem Tells Schwur, der Sturm auf die Bastille, die Nationalversammlung in der Paulskirche oder die Erzählung vom Sturm auf das Winterpalais, nun die Erzählung des siegreichen Proletariats ein neues Einverständnis würden schaffen können. Radikal versuchen Brechts Lehrstücke der Jahre 1929/30 die Tragweite des verlorenen Raums zwischen den Menschen zu ermessen. Die Wirklichkeit hatte schließlich zunehmend Ingredienzien eines Horrorstücks.


Einverständnis - Hass - Verdächtigung

Die großen politischen und wirtschaftlichen Einschnitte der 1920er Jahre (Inflation, Kapp-Putsch, wirtschaftlicher Zusammenbruch und drohender Staatsbankrott) unterminierten die Republik. Mit Carl Schmitt hatte ein Rechtstheoretiker die Bühne betreten, der das Feindbild als Elixier politischen Zusammenfindens ansah. Er war überzeugt, dass keine Rechtsnorm stärker war als die Freund-Feind-Konstellation. "Schmitt / Einverständnis Hass Verdächtigung" lautet ein Eintrag in Walter Benjamins Notizbuch. Datum: 21. April 1930. Davor steht: "Gespräch mit Brecht". Brecht und Benjamin müssen an jenem Tag ein Gespräch über Carl Schmitt geführt haben, das so wichtig war, dass Benjamin sich die Eckthemen notierte. Offensichtlich trafen sich Brecht und Benjamin, die sich vor ungefähr einem Jahr befreundet hatten, damals fast wöchentlich. Es gab so viel zu bedenken.

Der Name Schmitt - und auch Schmitt'sche Begriffe wie "Ausnahme", "Maßnahme", "Entscheidung" - taucht in Brechts Lehrstücken mehrfach auf. Auch in Benjamins Werk gibt es Spuren zu Carl Schmitt. Doch was steckte hinter dem Eintrag "Einverständnis Hass Verdächtigung"? Schmitt hatte in seiner Schrift Die Diktatur gegen Jean-Jacques Rousseau polemisiert, der im Gesellschaftsvertrag das Ideal einer sich selbst aufdrängenden und allen zugute kommenden Verbindungsform gesucht hatte, "die gemeinsam und mit aller Kraft die Person und die Güter jedes einzelnen Mitgliedes verteidigt und schützt". Indem die Menschen solch eine den Einzelnen transzendierende Verbindungsform eingehen, bleibe je- der Einzelne, auch wenn er sich mit allen vereinige, dennoch so frei "als wie zuvor", so Rousseau weiter. Bindung in Freiheit - das war sein Ideal. Gebaut wurde darauf, dass durch den "Vertrag" alle dasselbe voneinander erwarteten und jeder sich in dem einmal gesetzten Maße der Gesellschaft gegenüber verbunden fühlte, sich verbindlich verhielt und sich seinerseits auf ein verbindliches Verhalten des Anderen verlassen konnte. So funktioniert Einverständnis im Gesellschaftsvertrag und so im Rechtsstaat. Carl Schmitt hingegen ging, vereinfacht gesagt, davon aus, dass Einverständnis im modernen Staat ohne Feindbilder nicht zu haben sei und auf der Furcht vor Feinden begründet sei; somit müsse jeder Staat auch die "reale Möglichkeit" gewährleisten, den Feind zu bekämpfen, ja "physisch" zu töten.

Die Definition und Ausgrenzung von Feinden, samt Hass und Verdächtigungen, sind die Ingredienzien einer Angstgesellschaft. Und Feinderklärungen gab es 1930 zuhauf: Jude, Nazi, Bolschewik, Kapitalist, Sozialfaschist. Das Parlament löste sich auf, die Regierung handelte im Notstand. Wieder und wieder. Die Straße wurde zum Aufmarschplatz. Eine Rechtssicherheit gab es nicht mehr. Gewaltsam wollte Carl Schmitt die Aporien lösen, alle Entscheidungen entscheiden. Denn in solchen Zeiten, davon war er überzeugt, müsse ein Souverän auftreten, die Gesetze suspendieren und den Ausnahmezustand schaffen, um den Staat zu retten. Wodurch aber wurde einer zum Souverän?

Es darf angenommen werden, dass Brecht und Benjamin an jenem 21.April 1930 über Schmitts Konzept des Ausnahmezustands sprachen, darüber, dass dort, wo es kein republikanisches Einverständnis (mehr) gab, mit den Mitteln von Hass und Verdächtigung die Republik Schritt für Schritt liquidiert wurde, und mit ihr jede Berufung auf individuelle und immaterielle Rechte - ein Ernstfall; und darüber, dass angesichts dieses Ernstfalles die Linke ihrerseits sich vielleicht darauf ausrichten müsse, einen revolutionären Ausnahmezustand zu denken, von dem Walter Benjamin später in den geschichtsphilosophischen Thesen sprechen wird.

Mit freundlicher Genehmigung von Matthes und Seitz

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