Heute in den Feuilletons

Das Fest verglüht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.12.2012. Die taz erzählt am Beispiel des traurigen Niedergangs der FR, wie die FAZ das Diskursmonopol der anderen Seite knackte. Die FAZ wehrt sich gegen alle, die ihr geistiges Eigentum zusammenklauben wollen. Die FAZ bringt auch einen Appell zur Befreiung des Autors Li Bifeng. Die FR preist die Verdinglichung in Form kaptitalismuskritischer Popmusik. c-monster präsentiert eine Reihe psychedelischer Torten aus Peru.

TAZ, 01.12.2012

Wann ging das eigentlich los, mit dem Verfall der Frankfurter Rundschau, fragt sich Peter Unfried und stellt fest: Die meisten Ex-Leser wissen schon gar nicht mehr, wann und wieso sie das Blatt zur Seite gelegt haben. Auch ehemalige Redakteure aus der alten Glanzzeit bringen heute allenfalls melancholische Nostalgie auf. Und: "Speziell in Frankfurt war ein Bekenntnis zur Rundschau immer auch eine Ablehnung der FAZ gewesen. Ein Nein zur Bankenwelt und ein Ja zur Priorität gesellschaftlicher Anliegen. Und nun gibt es ein Problem: Konservative, die sich bewegen, lernen dazu. Aufstiegsgeschichte. Linke, die sich bewegen, geraten unter Verratsverdacht, vor allem bei sich selbst. Abstiegsgeschichte. Die FAZ bewegte sich, hatte irgendwann mehr als nur Geld im Kopf und knackte das Diskursmonopol der anderen Seite, indem sie beide Seiten übernahm."

Weitere Artikel: Im Berliner Kulturteil spricht Cristina Nord mit dem Dokumentarfilmer Frederick Wiseman über dessen neuen (heute im Berliner Arsenal gezeigten) Film über den legendären Pariser Nachtclub "Crazy Horse". Julian Weber stöhnt über die versammelte intellektuelle Mannschaft im Publikum von Green Gartsides Band Scritti Politti, die beim Konzert andächtig schweigen statt einfach mal die Hüften zu bewegen. Im Interview erinnert sich die lesbische Kabarettistin Maren Kroymann, dass es in den lange zurückliegenden 90ern für Homosexuelle noch viel schlimmer war als heute. Kristin Fischer besucht eine Diskussion zum Thema 3D-Kino, bei der sich Ang Lee und Wim Wenders als vorsichtig tastende Technologie-Forscher erweisen. Für die Schriftstellerin Siri Hustvedt zeigt sich am Wahlergebnis in den USA, dass republikanische Extremposition zum Thema Frauen und Homosexuelle heute nur noch Minderheiten mobilisieren. Voll crazy sind die Freaks von der CDU, aber ganz sicher kein Mainstream, findet Martin Reichert. Sebastian Gubernator trifft sich mit Richard Brox, der als bekanntester Obdachloser Deutschlands ein Obdachlosen-Internetportal betreibt.

Und Tom.

Aus den Blogs, 01.12.2012

Ungarns freie Theaterszene ruft um Hilfe, lesen wir bei Nachtkritik. "Schon seit Anfang des Jahres warten international so renommierte Compagnien und Künstler wie Béla Pinter, Pál Frenák, Viktór Bodo oder Árpád Schilling auf das ihnen staatlich bereits zugesicherte Geld. Anfang November wurde nun bekannt, dass die (noch gar nicht ausgezahlten) Zuwendungen weiter drastisch gekürzt werden sollen, um über 33 Prozent, wie es heißt. Sollte die ungarische Regierung an diesem Kurs festhalten, müssten sämtliche freien Theater des Landes Anfang 2013 ihre Arbeit einstellen, so Szilvia Nagy vom Verband Freier Theater Ungarns (FESZ)."

Die Theatermacher haben gemeinsam ein Protestvideo veröffentlicht. (Falls die englischen Untertitel nicht schon laufen, lassen sie sich über den Button "CC" anstellen.)



Stichwörter: Geld, Freie Theater, Bodo, Viktor

Welt, 01.12.2012

Zum siebzigsten Geburtstag Peter Handkes am Nikolaustag liest Ulrich Weinzierl in der Literarischen Welt die gerade erschienene Edition mit Briefen des Autors und seines Verlegers Siegfried Unseld. Hannes Stein unterhält sich mit dem Salinger-Biografen Kenneth Slawenski, der beteuert, dass es noch nachgelassene Werke des früh Verstummten gebe.

Besprochen werden Heinrich Deterings Studie über "Thomas Manns amerikanische Religion" (Leseprobe), Brian Selznicks Graphic Novel "Wunderlicht", Tomás González' Roman "Das spröde Licht" und Alan Hollinghursts Roman "Des Fremden Kind".

Fürs Feuilleton besucht Marc Reichwein das Innsbrucker Zeitungsarchiv zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur. In der Leitglosse fragt sich Richard Kämmerlings, warum der ORF die Kulturredakteurin Michaela Monschein, die über Jahre den Bachmann-Wettbewerb organisierte, nun wie aus heiterem Himmel ablöst. Manuel Brug geht mit Hans Neuenfels beim Charlottenburger Traditionsgriechen "Cassambalis" essen. Stefan Keim kommentiert den Rücktritt des Düsseldorfer Intendanten Staffan Valdemar Holm. Matthias Heine berichtet über einen Skandal beim Oxford English Dictionary, das angeblich bei der Aufnahme von Fremdwörtern recht spitze Finger machte.

Weitere Medien, 01.12.2012

In der FR schwelgt sich Jens Balzer beim Reggae-Pop- und Funk-Rock-lastigen Konzert des altlinken Musikers Green Gartside samt seiner Band Scritti Politti über dessen Kritik am Warencharakter seiner eigenen Erzeugnisse hinweg: "Er war nicht nur ein großer Kritiker der kulturindustriellen Verdinglichung, er schrieb auch die am schönsten verdinglichsten Songs." Auch in Bristol ließ Gartside kürzlich schon kein gutes Haar an seiner Musik:



Außerdem bespricht Judith von Sternburg die Ausstellung "Emil Behr - Briefzeugenschaft" im Jüdischen Museum in Frankfurt.
Stichwörter: Balzer, Jens, Reggae, Bristol

NZZ, 01.12.2012

Geradezu gschichtslyrisch wird es Martin Meyer in der venezianischen Ausstellung zum zweihundertsten Geburtstag Francesco Guardis zumute: "Da wird das Dixhuitième überraschend zum Fin de Siècle: Ein Epochenbruch kündigt sich an. Das Fest verglüht, mit ihm das Ancien Régime seiner Rituale und Begierden, die Franzosen drücken vor der Pforte, die Republik von Venedig versinkt. Gleichzeitig geschieht das Folgende: Guardis Malerei fühlt dies, weit übers realistisch Stoffliche hinaus, im Medium selbst. Das Motiv tritt vor der Sprache zurück, der es nun zum Anlass ihrer Experimente geworden ist. Bald schlägt die Stunde Turners."

Außerdem schreibt John Banville über Schlaflosigkeit. In Literatur und Kunst werden heute vor allem Bücher besprochen, darunter Raymond Roussels "Locus Solus" und Henri Thomas' Roman "Der Meineid" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In den "Bildansichten" schreibt Alain Claude Sulzer über Alexandre Calames Landschaftsbild "Am Urnersee".

Aus den Blogs, 01.12.2012

So sehen Kuchen in Bolivien aus. Carolina Miranda hat auf c-monster eine wunderbare Reihe psychedelischer Torten zusammengestellt. Auch die Kuchen aus Peru sehen toll aus (hier und hier)!
Stichwörter: Bolivien, Mons, Peru, Psychedelisch

SZ, 01.12.2012

Rundum entzückt ist Catrin Lorch von einer Ausstellung im Münchner Stadtmuseum mit offenbar ziemlich lässigen Fotografien aus Deutschland im 19. Jahrhundert: "Es gab Charme und Anmut in diesem Land, in dem einmal Menschen lebten, die sich Katzenpelze schneidern ließen und Stulpenstiefel, die als Märchenprinzessin unter mannshohen Gräsern posierten oder sich als Hase und Igel maskiert unterhakten. Möglich, dass die Figuren, die dem Münchner Märchenball im Jahr 1862 als Vorlagen dienten, den Sammlungen der Brüder Grimm entstammen, aber die Aufnahmen vom Pfeife schmauchenden Igel und dem Hasen im Gehrock erinnern eher an 'Alice im Wunderland', so verschroben sind sie, so albern vergnügt."

In China herrscht Mo-Yan-Fieber nach dem Literatur-Nobelpreis für den Schriftsteller, erzählt Kai Strittmatter. So kann man dort "mit Mo Yans Konterfei bedruckte T-Shirts kaufen, aber auch Schlabberpullover und schlecht sitzende Anzüge 'im Mo-Yan-Stil'. Und die Schnapsmarke 'Mo Yan Zui' wechselte soeben für zehn Millionen Yuan (1,3 Millionen Euro) den Besitzer."

Weitere Artikel: Die Kunst verschafft der Spediteursbranche mit immer größeren Werken, die um den Globus gehen, einen Boom, erklärt Ulrich Clewing. Im Gespräch mit Jonathan Fischer erklärt Hip-Hopper RZA, der mit "Man with the Iron Fists" gerade als Filmregisseur debütiert, dass er Jim Jarmusch beim Graskaufen kennengelernt hat. Renate Meinhof stellt Bolero Berlin vor, ein Jazzensemble mit vier Berliner Philharmonikern. Harald Eggebrecht freut sich, dass derzeit allüberall hervorragende Streichquartette aus dem Boden sprießen. Gottfried Knapp berichtet von der Eröffnung der neuen Synagoge un des Jüdischen Gemeindezentrums in Ulm.

Auf Seite Drei porträtiert Evelyn Roll Julia Jäkel, die Neue im Vorstand von Gruner+Jahr.

Besprochen werden Roger Vontobels "Hamlet" am Staatsschauspiel Dresden und Bücher, darunter Heinrich Deterings "Thomas Manns amerikanische Religion" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende gruselt sich Gerhard Matzig vor den Heerscharen architekturkritisch gesinnter Wutbürger, die "eine große Verschwörung vermuten, die aus Architekten, Ingenieuren, öffentlichen Bauherren und privaten Investoren besteht". Marina Abramovic erzählt Kristin Rübesamen unter anderem von ihrem Kopf, mit dem "etwas sehr Ungewöhnliches (...) los ist". Alexander Menden besucht in London die "Boring Conference" (Website), die deren Besucher, sehr zur Verwirrung des Autors, "sehr interessant" finden. Joachim Käppner referiert eine Kulturgeschichte der Geliebten. Petra Steinberger besucht die Arktis, die als schmelzende "final frontier" zu verschwinden droht. Außerdem ist Etgar Kerets Erzählung "Schoschana" abgedruckt.

FAZ, 01.12.2012

Auf Seite 1 wettert Reinhard Müller nochmal gegen Dienstleister, "die Auszüge aus dieser Zeitung und aus anderen Medien zusammenklauben", wofür sie angeblich Tausende von Euros erhalten, und verurteilt einen Freiheitsbegriff, der Informationen auch dann kostenlos zirkulieren lassen will, wenn sie von Zeitungen verbreitet wurden. Auf der Medienseite verteidigt der Netzkritiker Jörg Friedrich die Zeitung mit dem Argument "Was wirklich wichtig ist, hat auch Zeit".

Aufmacher des Feuilletons ist ein Appell zur Befreiung des Autors Li Bifeng, der gerade wegen angeblicher Wirtschaftsdelikte für zwölf Jahre ins Gefängnis gesteckt wurde. Zu den Erstunterzeichnern gehören Liao Yiwu, Ha Jin und Ai Weiwei: "Xi Jinping, der neue Mann an der Spitze der KP Chinas, müsste doch begreifen - schließlich saß sein eigener Vater in den Gefängnissen von Mao Tse-tung -, dass ein unschuldig im Gefängnis sitzender genauso wie ein unschuldig beim Massaker von 1989 getöteter Mensch große Sympathiewellen provozieren kann."

Weitere Artikel: Mark Siemons berichtet, dass immer mehr reiche Chinesen das Land verlassen. Auf zwei Seiten empfehlen Redakteure der FAZ Weihnachtsgeschenke. Günter Kowa besucht das restaurierte Heinrich-Schütz-Haus in Weißenfels. Für seine Gastrokolumne speist Jürgen Dollase im Restaurant "El Pica Pica" im belgischen Lüttich. Auf der letzten Seite berichtet Thomas Scheen über die neuen Kriege an der Grenze zwischen Ruanda und dem Kongo. Im Aufmacher der heuigen Literaturbeilage schreibt Sandra Kegel über Leanne Shaptons Roman "Bahnen ziehen".

Besprochen werden eine Johannes-Grützke-Ausstellung im Berliner Ephraim-Palais, eine Adaptation von Lars von Triers Film "Dancer in the Dark" in Stuttgart

In Bilder und Zeiten schreibt Thomas Thiel über Kriegsführung mit Drohnen. Rebekka Göpfert besuchte eine Konferenz von Überlebenden der Verschickungsaktionen, durch die 1938 und 1939 einige Tausend jüdischer Kinder vor der Ermordung durch die Nazis gerettet wurden. Au der letzten Seite unterhält sich Hannes Hintermeier mit dem bayerischen Denkmalschützer Egon Johannes Greipl.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um den wiederentdeckten Kompponisten Walter Braunfels und um eine neue CD von Neil Young. Außerdem liegt der FAZ heute eine Literaturbeilage bei, die wir in den nächsten Tagen auswerten: Der Aufmacher ist Leanne Shaptons Buch "Bahnen ziehen" gewidmet, eine poetische Reflexion über das Leistungsschwimmen.

In der Frankfurter Anthologie Hans-Joachim Simm Goethes "Der Narr epilogiert".