Heute in den Feuilletons

Apokalypse verkauft sich einfach besser

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.11.2012. Im Bundestag fand die Nachtung zu den Leistungsschutzrechten für Pressekonzerne statt. Stefan Niggemeier und das Medienblog dwdl.de werfen der FAZ, der SZ und Springer in ihrer Berichterstattung zum Thema Propaganda und Lüge vor. In der taz spricht David Berger über Homophobie und Fundamentalismus in der katholischen Kirche. In Atlantic erzählt Schriftstellerin Ann Patchett, wie sie in Nashville einen Buchladen eröffnete - und der läuft jetzt prächtig. Und die FAZ meint: Mit dem Untergang Venedigs wird so prächtig verdient, dass er kaum wirklich drohen kann.

Weitere Medien, 30.11.2012

(Via Welt.de) Ein Tweet des CDU-Abgeordneten Thomas Jarzombek: So sah der Bundestag heute Nacht während der Debatte um Leistungsschutzrechte für Pressekonzerne aus:



dpa
bringt einen (auch auf faz.net veröfffentlichten) Ticker über die dünn besetzte Bundestagsdebatte zum Leistungsschutzrecht für Pressekonzerne. Die Parteien vertraten die erwartbaren Positionen. Der Gesetzentwurf ist an die Ausschüsse verwiesen. Ob es in dieser Legislaturperiode noch zu einer zweiten und dritten Lesung im Bundestag kommt, sei ungewiss. Die Bundestagsdebatte zum Leistungsschutzrecht lässt sich hier als Video- oder Audiodatei herunterladen.
Stichwörter: Leistungsschutzrechte

Aus den Blogs, 30.11.2012

Das Handelsblatt wirft Google vor, Informationen über Befürworter des Leistungsschutzrechts zu unterdrücken. Google weist das nach Anfrage von Stefan Niggemeier als absurd zurück. Niggemeier sieht Zensur an anderer Stelle. Die prominentesten medialen Befürworter von LSR haben die vernichtende Stellungnahme des Max-Planck-Institutes für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht zum Gesetzentwurf mit keiner Silbe erwähnt. Es "steht kein Wort davon in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Süddeutschen Zeitung, in der Welt... - alles Blätter, deren Verlage für ein Leistungsschutzrecht kämpfen und deren Redakteure gestern und heute teilweise wuchtigst Google für seine vermeintliche Desinformation kritisiert haben."

In einem zweiten Text wirft Niggemeier dem Hauptlobbyisten des Springer-Verlags, Christoph Keese in Sachen LSR Lüge vor.

Die tendenziöse Berichterstattung der Qualitätszeitungen zum Leitungsschutzrecht treibt Thomas Lückerath vom Medienblog dwdl.de in die Verzweiflung: "in diesen letzten November-Tagen verspielen Medien wie u.a. FAZ, Handelsblatt aber auch SZ ihre journalistische Glaubwürdigkeit. Fakten werden ignoriert, Lügen verbreitet und das Ganze als Journalismus verkauft. Wie bitter ist es, dass in einer insgesamt schon schweren Zeit für Journalistinnen und Journalisten in Deutschland dieses Propaganda-Kartell das eigene Grab nur noch tiefer gräbt."

Welt, 30.11.2012

Kolja Reichert denkt anlässlich der Wiener Schau "Körper als Protest" über den selbstgefälligen Umgang der Kunst mit politischen Themen nach. Schon der Titel der Ausstellung suggeriere: "Hier kann man sein kritisches Bewusstsein ausbauen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Wäre es nicht ehrlicher, man würde die Ausstellung schlicht 'Körper als Körper' nennen? Oder 'Protest als Protest - Kunst als Kunst?' Oder: 'Kuratieren als Ersatz für politisches Engagement?' So wie Totenköpfe in H&M-Klamotten einzogen und Irokesenschnitte in Bankfilialen, so hat das Hantieren mit politischen Vokabeln im Kunstbetrieb eine Selbstverständlichkeit erreicht, als könne die Beschäftigung mit Kunst schon von allein den Lauf der Welt verändern."

Weitere Artikel: Dirk Peitz hört nach 30 Jahren noch einmal Michael Jacksons "Thriller" und meint: "Nein, diese Platte hat sich nicht gut gehalten." Kai-Hinrich Renner warnt vor der Zeitungskrise, denn der Spiegel verkündet dieses Jahr einen Gewinnrückgang von 30 Prozent. Abgedruckt sind einige Briefe Helene Weigels und Bertolt Brechts, die für Brecht-Enkelin Johanna Schall nahe legen, dass die beiden, trotz der vielen Affären Brechts, eine gute Ehe führten.

Besprochen werden Eugène Sues Schauerroman "Atar Gull", der von Jan Costin Wagner herausgegebene kriminelle Adventskalender "Totenstille Nacht", eine Schau über den Kunstschreiner David Roentgen im Metropolitan Museum of Art in New York und ein Band über Parkhausarchitektur.

NZZ, 30.11.2012

Im Westen von South Dakota befinden sich über hundert unterirdische Atomraketensilos und Kommandostände aus dem kalten Krieg. Rudolf Stumberger führt sich beim Besuch der Anlage schaudernd vor Augen, wie schnell aus dem kalten Krieg ein heißer hätte werden können: "Die letzte Besatzung hat sich hier mit einem Wandgemälde verewigt: Es zeigt eine amerikanische Rakete, die eine Sowjetfahne zerfetzt. Auch das acht Tonnen schwere stählerne Bunkerschott ist auf einer Seite bemalt: 'Wir liefern weltweit in 30 Minuten oder weniger', steht da geschrieben."

Der israelische Schriftsteller Etgar Keret erzählt die (bereits in unserer Magazinrundschau präsentierte) Geschichte, wie ihm der polnische Architekt Jakub Szczesny auf dem Gelände des ehemaligen Warschauer Ghettos ein winziges Haus errichtete.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotos von Le Corbusier im Musée des Beaux-Arts von La Chaux-de-Fonds (deren "schönen, reich illustrierten und fundiert kommentierten Katalog ... man schon jetzt als Standardwerk bezeichnen darf", wie Roman Hollenstein schwärmt), das Album "Canada Day 3" des Harris Eisenstadt Quintets sowie "Heute und danach", ein, wie Markus Ganz findet, "unverschämt dickes Buch" über die Schweizer Pop- und Rockmusikszene der 1980er Jahre (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 30.11.2012

Skandinavisches Design hat sich in den letzten hundert Jahren zu einer zugkräftigen Marke entwickelt - nur an Norwegen denkt dabei niemand. Die Ausstellung "OsloFunkis" im Oslo Museum möchte das jetzt ändern. Um norwegischen Designern und Architekten zu spätem Ruhm verhelfen, ist sie aber nur ein erster Schritt, meint Martin Filler im Blog der New York Review of Books: "What Oslo needs now is a comprehensive English-language guidebook to its estimable Functionalist heritage. Such a publication would doubtless spur cultural tourism among the international brigade of design enthusiasts one encounters at Modernist landmarks all over the world."

TAZ, 30.11.2012

Deutliche Worte findet David Berger, Buchautor, Koordinator der "Stoppt kreuz.net"-Kampagne und ehemalige katholische Religionslehrer, in einem Gespräch mit Cigdem Akyol über Homophobie und Fundamentalismus in der katholischen Kirche. "Die katholische Kirche hat eine lange Tradition im Denunzieren, Bloßstellen und Ausspionieren ... Was auf kreuz.net passiert, ist komplizierter als Klerikalfaschismus. Hier verbindet sich ein linker Antiimperialismus gegen die USA und gegen Israel mit einem Rechts-außen-Antisemitismus. Das sind ähnliche Positionen, die Neonazis vertreten."

Weiteres: "Religionsstreit ist Zeitverschwendung", erklärt die britische Singer-Songwriterin Joan Armatrading im Gespräch mit Gaby Sohl. Auf den vorderen Seiten informiert Ralf Sotschek, wie in Großbritannien nach Vorlage eines Kommissionsberichts zur Presseethik ein unabhängiges Gremium künftig die Zeitungen regulieren soll. Steffen Grimberg weiß, weshalb deutsche Chefredakteure diese Presseaufsicht wohl ablehnen würden: "Weil ein solcher neuer, deutlich gestärkter Presse-Wachhund nach britischem Vorbild erheblich mehr Sanktionsmöglichkeiten hätte als der Deutsche Presserat."

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Perret in Frankreich und Algerien" von Heinz Emigholz, eine Art Werkbiografie der französischen Architekten Auguste und Gustave Perret, Rihannas neues Album "Unapologetic" und der Sammelband "Constellation - Mythen, Schemen und neue Fiktionen" über das kanadische Indie-Label Constellation, das 15. Geburtstag feiert.

Und Tom.

Weitere Medien, 30.11.2012

Die Schriftstellerin Ann Patchett erzählt in Atlantic, wie sie zusammen mit einer Freundin einen Buchladen in Nashville eröffnete - nachdem sämtliche Buchhändler in der Stadt, inkluse Borders, geschlossen hatten. Und es funktionierte! "Maybe it's working because I'm an author, or maybe it's working because Karen toils away like life depends on this bookstore, or because we have a particularly brilliant staff, or because Nashville is a city that is particularly sympathetic to all things independent. Maybe we just got lucky. But this luck makes me believe that changing the course of the corporate world is possible."

Höchst dürftig finden es die CDU-Abgeordneten Johannes Singhammer und Mechthild Heil in der FR, wie der "Monopolist" Gema von den Behörden und vom Gesetzgeber kontrolliert wird: "Nach wie vor harren die hohen Verwaltungskosten von rund 14 Prozent einer Überprüfung. Wie wirken sich die Verwaltungskosten auf die tatsächlichen Zuflüsse an Künstlerinnen und Künstler aus? Und was ist mit der Intention des Gesetzgebers, Schulveranstaltungen oder ähnliche ehrenamtlich organisierte wichtige Gemeinschaftserlebnisse von einer Tarifpflicht auszunehmen?"

Als Google die Bücher dieser Welt digitalisieren wollte, war der Aufschrei groß. Vor allem die angekündigte Digitalisierung verwaister Werke (mit opt-out-Funktion) brachte deutsche Kulturjournalisten auf die Palme. Was für ein Anschlag auf das Urheberrecht! Jetzt ist die Deutsche Digitale Bibliothek online gegangen und die Kritiker stellen betreten fest: Fast das ganze 20. Jahrhundert fehlt! "Denn natürlich", schreibt Andreas Kilb in der FAZ, "muss sich die Online-Bibliothek nach der hiesigen Rechtslage richten, und da schnappen sämtliche Fallen zu, die das noch immer unreformierte deutsche Copyright gestellt hat." Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Vorstandssprecher des DDB-Kompetenznetzwerks (so heißt es wirklich!) wünscht sich daher laut Zeit-Redakteurin Inge Kutter für die verwaisten Werke "eine gesetzliche Lösung: 'Das gesamte 20. Jahrhundert bliebe sonst ein dunkler Fleck.'"

SZ, 30.11.2012

Im Aufmacher philosophiert Jan Philipp Reemtsma anlässlich des nicht durchweg positiven öffentlichen Aufsehens, das eine Stiftungsinitiative Schwerreicher (darunter Bill Gates) auf sich zog, über Wesen und öffentliche Anerkennung von Stiftungen und Spenden. Statt einer moralischen Honorierung, die sich ans Weggeben von Vermögen knüpft, wünscht er sich ein gesellschaftliches Willkommenheißen solcher Initiativen: "Erst in diesem Zusammenhang wird auch die steuerliche Abzugsfähigkeit von gestiftetem Vermögen sinnvoll. Der Staat signalisiert, die Gemeinschaft vertretend, dass ihm solche privaten Initiativen materiell etwas wert sind. (Ich bin aus diesem Grunde dafür, dass der Staat dieses Signal symbolisch anreichert, indem er nicht auf einen Teil der ihm sonst zustehenden Steuern verzichtet, sondern etwas zu dem Gestifteten oder Gespendeten hinzugibt. Materiell kommt es auf dasselbe hinaus, symbolisch nicht, wie mir scheint.)"

Außerdem erläutert Stephan Speicher die historischen Hintergründe des staatlichen Doppelankaufs von Antoine Watteaus Gemälde "Einschiffung nach Kythera": So sei dieser auf die unbeherzte Fürstenenteignung in der Weimarer Republik zurückzuführen.

Besprochen werden der Ego-Shooter "Black Ops 2", Patrick Ellsworths Bühnenadaption von Lars von Triers "Dancer in the Dark" am Schauspiel Stuttgart, der Dokumentarfilm "Marina Abramovic: The Artist Is Present" und Bücher, darunter die Niederschrift von Navid Kermanis Poetikvorlesung aus dem Jahr 2010 (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 30.11.2012

"Apokalypse verkauft sich einfach besser", schreibt Dirk Schümer im Aufmacher über das zuletzt arg hochwassergeplagte Venedig, von dessen lange prognostiziertem Untergang (dem auch die stetig sinkenden Einwohnerzahlen entgegen arbeiten) mittlerweile eine ganze Industrie profitiert. Jürg Altwegg beklagt die schwindende Zahl von Buchhandlungen in Frankreich. Katharina Laszlo berichtet vom Übersetzungsworkshop unter Anleitung von Felicitas Hoppe. Sebastian Dörfler erzählt die Geschichte des sich über Facebook rasend schnell verbreitenden Schnappschusses, der einen New Yorker Polizisten dabei zeigt, wie er einem Obdachlosen ein Paar neuer Stiefel überlässt. Dieter Bartetzko versenkt sich in Marlene Dumas' gerade von der National Portrait Gallery gekauftes Gemälde "Amy-Blue", das Amy Winehouse' zentrale Gesichtspartien zeigt. "Verlockend" findet Jordan Mejias den Bau des neuen Parrish Art Museum auf Long Island, auch wenn ihm dort noch die ganz großen Namen an der Wand fehlen.

Besprochen werden Valentina Carrascos "Ring"-Inszenierung am Teatro Colón in Buenos Aires (an dem "wohl noch weiter gebastelt" werde, wie Josef Oehrlein vermutet) und Iris Hanikas Roman "Tanzen auf Beton" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).