Heute in den Feuilletons

Alkohol, Ehebrüche und Abtreibungen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2010. Ein Traumtag für die Goncourts der Gegenwart? In der Akademie der Künste las Christa Wolf unter Anwesenheit Ulla Unseld-Berkewics' und sämtlicher Suhrkamp-Granden. Im Literarischen Colloquium las gleichzeitig Norbert Gstrein aus seinem Schlüsselroman über Ulla Unseld-Berkewics und Suhrkamp. Die Feuilletons sind mäßig erregt. PaidContent.org meldet, dass Google eine Art Itunes für Bezahlinhalte vorbereitet. In der Boston Review verreißt der Internetskeptiker Evgeny Morozov den Interneteuphoriker Clay Shirky.

FAZ, 18.06.2010

Vorgestern stellte der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein im Literarischen Colloquium in Berlin seinen im August bei Hanser erscheinenden "Skandalroman mit Ansage", Titel "Die ganze Wahrheit", vor. Seine Gesprächspartner redeten eine halbe Stunde lang um den heißen Brei, bis sich Gstrein auflehnte, erzählt Richard Kämmerlings: "Sein neuer Roman, der ironisch-provokativ 'Die ganze Wahrheit' heißt, schildere eine 'Konstellation', die 'an eine Konstellation im Suhrkamp Verlag erinnert'. Da habe es keinen Sinn, 'Versteck zu spielen' oder zu sagen: 'Das ist mir unterlaufen.' Also Klartext bitte! Zuvor hatten der Moderator Hubert Winkels und die Kritiker Kristina Maidt-Zinke und Rainer Moritz ausführlich von der 'Anti-Wahrheitsprosa' der früheren Werke Gstreins... - so, als wollte man dem Autor eine feste Theoriebrücke bauen, um sein neues Buch als autonomes Werk der Fiktion gegen jede Skandalisierung zu wappnen."

Die Suhrkamps waren an diesem Abend bei Christa Wolf, die in der aus allen Nähten platzenden Berliner Akademie der Künste ihren neuen Roman "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" vorstellte. Andreas Kilb berichtet.

Weitere Artikel: Joseph Hanimann konstatiert angesichts diverser Veranstaltungen, dass Frankreichs Verhältnis zu Charles de Gaulle auch zu dessen 30. Todestag noch nicht so ganz geklärt scheint. Gina Thomas schildert noch einmal die Geschichte des "Blutsonntags" von Derry im Jahr 1972, der nach David Camerons Entschuldigung für das britische Verhalten nun vielleicht endlich aus der Gegenwart in die Historie übergeht. Gerhard Stadelmaier bedauert sehr das Tragen von Anzügen von heute in Stücken von gestern. Am Berliner Landgericht, das Klaus Ungerer mal wieder besucht hat, geht es um den Fall eines Arztes, der seine Praxis verlor und sie daraufhin ebenso wie die des anderen Arztes im Haus angezündet hat. (Dreieinhalb Jahre Haft.)

Gunter Sachs meldet sich mit der Forderung zu Wort, die Fußballtore zu vergrößern, auf dass, genau, mehr Tore fallen - denn: "Notabene: Die Torhüter werden größer (zwölf Zentimeter seit Fußballgedenken) - die Tore wachsen nicht." Peter Kemper schreibt zum Tod des Jazztrompeters Bill Dixon. Auf der Medienseite erklärt Markus Beckedahl, wie sich Island als digitale Gesellschaft neu erfinden will. Außerdem findet sich ein Nachruf von Michael Hanfeld auf den österreichischen "Pressezaren" und Kronen-Verleger Hans Dichand.

Besprochen werden eine von Claus Guth inszenierte, von Franz Welser-Moest dirigierte "Tannhäuser"-Aufführung an der Wiener Oper, die Ausstellung "Aragon et l'art moderne" im Pariser Musee de la poste, und Bücher, darunter Josh Bazells Thriller "Schneller als der Tod" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Jungle World, 18.06.2010

Der Kriminologe Christian Pfeiffer hat eine Studie durchgeführt, die zeigt, dass Religiosität und Gewaltbereitschaft bei muslimischen Jugendlichen korrelieren. Im Gespräch mit Daniel Steinmaier sagt er: "Die Machokultur lebt ja von der These, dass die Männer sich das Recht herausnehmen dürfen, innerfamiliär bei Ungehorsam zuzuschlagen. Das ist eine der Thesen, nach denen wir fragen. Wir messen mit acht Äußerungen, die alle schöne Machoäußerungen sind, die Akzeptanz, und wir sehen: Je öfter die Jugendlichen in die Moschee gehen, je wichtiger ihnen die Religion ist, umso mehr akzeptieren sie diese Thesen."
Stichwörter: Religiosität

FR, 18.06.2010

Der Hamburger Zeithistoriker Klaus Naumann stellt angesichts neu entdeckter afghanischer Bodenschätze klar, dass sie kein Grund für den Krieg waren, nun aber vielleicht ein Argument werden, um in Afghanistan zu bleiben: "Was wäre daran so verwerflich, wenn und sofern sie - und das ist der Punkt, da Politik beginnt - diesem Engagement zu Ernsthaftigkeit, Nachhaltigkeit und Perspektive verhelfen." Hatte, überlegt Naumann nun, Horst Köhler doch recht?

Weiteres: Hans-Jürgen Linke unterhält sich mit Julia Cloot über die universitären Feinheiten des Frankfurter Instituts für zeitgenössische Musik. Harry Nutt berichtet vom Pressefrühstück mit Goethe-Präsident Klaus-Dieter Lehmann. Für Ansgar Oswald geht es bei Karstadt nicht nur um die Rettung einer Kaufhauskette, sondern die Zukunft der Stadt überhaupt: "Wie die Warenhäuser brauchen auch die Städte wieder jene Übersicht und Ordnung, die ihr im laissez faire der Zersiedlung abhanden gekommen sind."

Besprochen werden eine Aufführung von "Alice im Wunderland" in Frankfurt, eine Ausstellung zu Suhrkamp in Lateinamerika im Literaturarchiv Marbach, Laurie Andersons neues Albums "Homeland" und Richard Price' New York-Roman "Cash" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 18.06.2010

Elmar Krekeler fand Norbert Gstreins Suhrkamp-Roman bei der Lesung in Berlin langweilig, "albern, nicht lustig, abgestanden". Hanns-Georg Rodek erzählt von der gestrigen Pressekonferenz des in Berlin lebenden iranischen Filmemachers Daryush Shokof, der angab, von Geheimdienstschergen des Irans für einige Tage entführt worden zu sein - die Berliner Polizei will ihm aber nicht glauben. Shokofs irankritischer Film "Iran Zendan" ist im Internet zu sehen. Stefan Koldehoff freut sich über die Wiedereröffnung des Dresdner Albertinums, das beim Elbe-Hochwasser überflutet worden war. Harald Peters bedauert, dass das Berghain laut Umfrage einer Szene-Zeitschrift nicht mehr als die beste Disko der Welt angesehen wird. Und Michael Stürmer erinnert an De Gaulles Rede vom 18. Juni 1940: "Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg."

Aus den Blogs, 18.06.2010

Google bereitet ein paid content-Angebot für Zeitungsverlage vor, berichtet Joseph Tartakoff in paidcontent.org unter Bezug auf eine ungewöhnliche Quelle: "According to a report in the Italian newspaper La Repubblica, Google is now reaching out to publishers to get them to sign up for the system, which it is calling Newspass." Ziel soll es sein, Artikel selbst dann zu finden, wenn sie hinter Zahlschranken verschanzt sind - es scheint auf eine Art Itunes für Medien hinauszulaufen.

NZZ, 18.06.2010

Mona Sarkis beleuchtet verschiedene Facetten der türkisch-arabischen Beziehungen, die sich mit Erdogans islamischer Politik, aber auch durch die Fernsehsoap "Nur" erheblich verbessert haben. "Zwar werden auch hier Ehen vom Familienoberhaupt arrangiert, parallel aber gibt es Alkohol, Ehebrüche und Abtreibungen - kurz alles, was auch unter arabischen Muslimen existiert, aber tabuisiert wird. 'Nur' thematisiert es. Mit hinreißend charmanten Akteuren und synchronisiert im schmeichelnden syrischen Dialekt. Der Umstand, dass die umschwärmte Hauptdarstellerin unverschleiert ist, spielt da keine Rolle mehr. Allerdings fühlt sich die Mehrheit der Araberinnen nicht verpflichtet, dem türkischen Vorbild in dieser Hinsicht zu folgen."

Weiteres: Falk Jaeger besichtigt Dresdens restauriertes Albertinum. Besprochen werden die "Tannhäuser"-Inszenierung von Claus Guth und Franz Wesler-Möst an der Wiener Staatsoper, eine Ausstellung zu "Heilkräutern und Gartenanlagen" im Kloster St. Gallen sowie das neue Album "Shadows" des guten alten Teenage Fanclub.

Weitere Medien, 18.06.2010

(Via 3quarksdaily) Der Internetskeptiker Evgeny Morozov bespricht in der Boston Review das neue Buch "Cognitive Surplus" des Internetoptimisten Clay Shirky: "A cyber-utopian polemic-a passionate call for the younger generation to ditch consumerist culture and pour its creative energies into fighting all the evil that exists in the world, one tweet at a time-could have made a worthy contribution. But Shirky?s populism urges us simply to stop worrying, love the Web, and focus on liberating ourselves from the oppression of the traditional media." Hier auch Cory Doctorows kleine Besprechung zum Buch.

TAZ, 18.06.2010

Ein "Ereignis" nennt Dirk Knipphals die Präsentation von Christa Wolfs neuem Roman "Stadt der Engel" in Berlin: "In dieser Stimme ist noch zu spüren, dass AutorInnen nach dem Krieg in Deutschland (Ost wie West) etwas ganz anderes waren, als sie heute sind: nicht einfach nur Stars, sondern Instanzen, auf deren Worte man gehofft, auf deren Sätze man gewartet hat. Offenbar gibt es nach solchen auktorialen Instanzen immer noch ein Bedürfnis."

Katrin Bettina Müller besuchte eine Pressekonferenz im Berliner Kino Arsenal, auf der der iranische Filmemacher Daryush Shokof erklärte, entführt worden zu sein und dafür den iranischen Geheimdienst verantwortlich macht. Kurz vor dem Christopher Street Day konstatiert Martin Reichert eine Zunahme der Gewalt gegen Schwule.

Besprochen werden zwei neue Alben von Matthew Herbert: der Remix von Mahlers 10. Sinfonie und das Konzeptalbum "One One" sowie das Album "Before Today" von Ariel Pink's Haunted Graffiti.

Und Tom.

SZ, 18.06.2010

Eva Karcher unterhält sich mit dem Künstler Hans-Peter Feldmann, unter anderem über die von de Chirico selbst angefertigte de-Chirico-Kopie, die in seiner Wohnung hängt: "Ich habe die Arbeit in den fünfziger Jahren gekauft. Es gibt über sechzig Kopien davon. De Chirico war deswegen als Nicht-Künstler verschrien. Erst als Andy Warhol kam, ihn zum einzigen Künstler überhaupt erklärte und mit dem Motiv eine Serigraphie-Serie machte, änderte sich diese negative Einschätzung. Die Frage, ob Original oder Reproduktion, interessiert mich nicht. Es gibt keine Hierarchie der Bewertung... Für mich ist die Kopie von de Chirico, die hier hängt, ein Original vom Original." (Anlass des Gesprächs ist eine Feldmann-Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle.)

Weitere Artikel: Hamburg spart an Ausgaben für seine Museen und überhaupt an der Kultur. Till Briegleb bedauert das und findet, dass die Stadt da eine Chance vergibt. In London trifft Max Dax die brasilianische Sängerin, Songschreiberin und Künstlerin Cibelle. Vom Berliner AutorInnen-Treffen "Tunnel über der Spree" berichtet Jean-Michael Berg. Hilde Elisabeth Menzel gratuliert der Schriftstellerin Mirjam Pressler zum Siebzigsten. Jens Malte Fischer schreibt zum Tod der Mahler-Sängerin Maureen Forrester. Von Enver Robelli kommt der Nachruf auf den kosovo-albanischen Schauspieler Bekim Fehmiu. Auf der Medienseite gratuliert Willi Winkler dem Filmemacher Klaus Wildenhahn zum Achtzigsten, Michael Frank schreibt zum Tod des Krone-Verlegers Hans Dichand.

Besprochen werden Claus Guths "Tannhäuser"-Inszenierung an der Wiener Oper, eine von den Insassen inszenierte Theaterversion von Kleists "Michael Kohlhaas" in der JVA Tegel, die Theater-für-Kinofans-Veranstaltung "Der Pate 1-3" im Berliner HAU, eine Ausstellung afrikanischer Kunst aus der Kunstsammlung Artur Walthers in Burlafingen bei Ulm und Bücher, darunter Jacques Chessex' Roman "Ein Jude als Exempel" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).