Vorworte

Frauen mit Biss

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
22.09.2023. Der Betrag, für den Dschmiaa ihren Körper verkauft, ist bescheiden - zwischen 1000 und 1600 marokkanische Rial, das entspricht viereinhalb bis gut sieben Euro. Aber man täusche sich nicht: Wenn jemand klar und jederzeit den Tarif durchzugeben weiß, dann die Heldin von Meryem Alaouis witzigem, bitterem und überraschendem Erstlingsroman.
Alaoui Meryem. Foto: Francesca Mantovani © Editions Gallimard
Die sichtbare Gestalt der Armut mag in unserem Lebensumfeld noch nicht so gegenwärtig sein wie in weniger privilegierten Ländern, aber Medien, Filme, Spendenaufrufe führen sie einem täglich vor Augen. Allerdings trägt diese Art der Vergegenwärtigung - zugleich unverbindlich und doch irgendwie ans schlechte Gewissen appellierend - das Risiko der Gewöhnung und Abstumpfung in sich. Doch das Gesicht der Armut kann auch in ungewohntem Licht aufscheinen. So trägt es für mich die Züge von Beverly und Josephine. Neunzehn und schon zweifache Mutter die eine, ein schmales, an Sichelzellanämie leidendes Mädchen um die zwölf die andere, kennengelernt während eines Arbeitsaufenthalts in einem jamaikanischen Slumquartier. Ohne dass ich gezielt danach gefragt hatte, erwähnten sie Dinge, die sie sich ganz besonders wünschten. Beverly: eine gute Seife. Josephine: Eine Packung Ovaltine-Biskuits, für sie allein. Tönt das egoistisch? Nur dann, wenn man nicht gesehen hat, wie bedingungslos das Teilen - und Teilenmüssen - schon für die Kinder des Viertels Alltag war.

Eine Seife. Eine Packung Kekse. Dinge, die unsereins so nebenher in den Einkaufskorb legt.

Auch Dschmiaa, die Heldin von Meryem Alaouis Roman "La vérité sort de la bouche du cheval", hat Wünsche. Wir erhaschen einen Blick darauf, während sie am Fernsehen einen Auftritt des marokkanischen Königs verfolgt. Brütend heiß ist es gerade in Casablanca, wo Dschmiaa ihr Brot als Sexarbeiterin verdient, und die Vierunddreißigjährige träumt sich an die Stelle des Landesherrn. Bei solchem Wetter würde sie ihre Machtfülle nutzen, um - billiger ist ein Wunsch schwerlich zu erfüllen - splitterfasernackt herumzuspazieren. Oder wäre ein Hut mit eingebautem Ventilator vielleicht doch die attraktivere Option?

Solches Träumen und Wünschen ist ein Luxus, den Dschmiaa sich selten gönnt. Sie zählt zu denen, für die das englische hard-nosed wie maßgeschneidert passt - ein Wort, das schon auf bildlicher Ebene für sich selbst spricht und Menschen meint, die pragmatisch und realistisch sind, entschlossen handeln und Emotionen in der Regel ins zweite Glied verweisen.

Aus Casablanca stammt auch Dschmiaas Schöpferin, allerdings vom anderen Ende der sozialen Leiter. Meryem Alaouis Vater machte als Soziologe und Wirtschaftswissenschafter zunächst Karriere an der Universität, besetzte dann in den 1990er Jahren verschiedene Ministerposten und wurde schließlich Präsident des Wirtschaftsdachverbands; daneben schrieb er Gedichte. Sie habe das Glück gehabt, sagt die 1975 geborene Schriftstellerin im Interview mit der Tageszeitung Le Temps, in einem Haus aufzuwachsen, dessen Wände mit Büchern gleichsam tapeziert waren. Zugleich hatte die junge Frau, die Sozialwissenschaften studierte und dann als Journalistin beim regimekritischen Magazin Tel Quel und dessen arabischsprachigem Pendent Nichane tätig war, auch einen wachen Blick für das, was sich außerhalb der literarisch ausgekleideten Mauern abspielte. "Ich sagte mir nicht: 'So, jetzt will ich über Korruption und die Körper von Frauen schreiben'", quittiert sie die Frage nach der Genese ihres Buches. "Achtzig Prozent dessen, was ich schreibe, sind Dinge, die ich erlebt, die ich gesehen habe. Es geht um mein Quartier, ich bin dort viel unterwegs, mein Hirn registriert alles. (…) Ich habe mich für diese Frauen interessiert, bin ihnen nachgegangen, habe ihren Gesprächen gelauscht." O ja - das merkt man der kernigen Stimme ihrer Ich-Erzählerin an, obwohl Alaoui dieses weibliche Urgestein zugleich mit literarischer Sensibilität modelliert. Da horchte auch die Jury des Prix Goncourt auf: Das Debütwerk schaffte es 2018 in die Vorauswahl für den bedeutendsten französischen Literaturpreis. Unter dem worttreuen, aber etwas bieder klingenden Titel "Pferdemund tut Wahrheit kund" wird es Ende Monat beim Lenos Verlag auf Deutsch erscheinen.

Die Stärke von Alaouis Protagonistin liegt nicht zuletzt darin, dass sie keineswegs dem Genrebild der Dirne mit dem großen Herzen entspricht. Im Gegenteil. Als ihr Zuhälter sie bittet, eine gestrauchelte und eben erst aus dem Gefängnis entlassene Frau ins Gewerbe einzuführen, hat sie nur Verachtung übrig für das verhuschte Wesen, mit dem sie ihr Zimmer und ihr Wissen teilen soll. Das Zimmer - meinetwegen, denn Hussin, der Zuhälter, hat so seine Art, wenn er in Zorn gerät: Seine Haut, verrät Dschmiaa, verfärbe sich dann und die zahlreichen Narben träten dunkel hervor wie die Streifen eines Tigers, entsprechend hart sei sein Schlag. Aber ihr Know-how? "Ich habe Jahre gebraucht, um mir mein Wissen anzueignen, da werfe ich einer Anfängernutte nicht einfach alles hinterher." Die Leserin freilich bekommt mehr als nur eine Ahnung davon - etwa im Rahmen der so bissigen wie sprachmächtigen Passage, in der Dschmiaa unterschiedliche Freier-Typen aufmarschieren lässt. Nehmen wir nur einen von der Liste - und damit zugleich eine Kostprobe von Barbara Sausers souveräner Übersetzung:

"Der Rasende. Er muss unbedingt jede Frau, die ihm unterkommt, in ausgiebigem, kräftigem Strahl mit seiner Manneskraft beglücken. Dein Arsch ist sein Recht. Während er dahergaloppiert wie ein eifriger Polizist, tritt er um sich, drischt auf dich ein, reißt dir die Schulter ab. Er sieht ihm zujubelnde Menschenmengen, du wirst gepeitscht von seinen Händen und der Luft, die er mit seinem Ritt aufwirbelt. Sobald er fertig ist, blickt er herausfordernd und drohend auf sein Reich. Doch dann begegnet ihm sein klebriger Ruhm in deinen Augen, und aus Illusion wird Hass. Er schlägt zu, weil er doch nur er selbst ist. Ein gequälter, trunkener, einsamer Mann."

Aus Freud' an der Lust, so viel ist klar, übt Dschmiaa ihren Beruf nicht aus. Hinter ihrem Abstieg steht die Geschichte einer aus dem Ruder gelaufenen Ehe, deren Beginn sie mit einer kinoreifen Romanze vergleicht: Heimliche Schäferstündchen, elterlicher Zorn, jugendlicher Trotz, schließlich die rauschende Hochzeitsfeier. "Das Problem ist nur", so fährt sie fort, "dass dir die Drehbuchautoren, diese Schufte, nicht sagen, wohin die Reise geht. Stattdessen lassen sie dich nach dem Hochzeitsfest hängen. (…) Was danach kommt, ist nicht ihr Problem. Weil du dir ihren Scheißfilm nicht ansehen würdest, wenn sie es dir sagen würden." - Was danach kam, war das Abrutschen des Ehemanns in die Drogensucht, seine Versuche, in dubiosen Zwischenhandels-Geschäften wieder Fuß zu fassen. Das nötige Basiskapital hätte Dschmiaa anschaffen sollen. Der Gatte wurde zum Stenz, das Ehebett zum Tummelplatz für jedermann, die Schachtel aber, in die das Verdiente wanderte, leerte der Süchtige schneller, als Dschmiaa sie füllen konnte.

Meryem Alaoui schreibt diese Vorgeschichte mit scharfer Feder, vermeidet es bewusst, den Weichzeichner der Opferrolle über das Profil ihrer Protagonistin zu legen. Schon hier betont sie Dschmiaas ruppige Wehrhaftigkeit, wenn die junge Frau etwa auf gewisse körperhygienische Maßnahmen verzichtet, um sich an ihren Beischläfern zu rächen; und als sie kurz vor dem Ende ihrer zerrütteten Ehe noch schwanger wird, zeigt ihr Umgang mit dem Neugeborenen das Ausmaß der Schäden an, welche die vorausgehenden Jahre angerichtet haben. Sie will das Kind weder stillen noch seine Windeln wechseln, vermag es nicht einmal zu küssen; nach wenigen Tagen gibt sie die kleine Samia zu ihrer Mutter, wo sie die ersten Lebensjahre verbringen wird.

Aber so, wie die Schriftstellerin hier ein starkes Bild, dort eine messerscharf in die Tiefe stoßende Reflexion und nicht zuletzt einen gepfefferten Mutterwitz in Dschmiaas nüchtern-saloppen Zungenschlag einbaut, verleiht sie auch ihrer Geschichte eine Dimension, die das bodennah und kraftvoll erzählte Schicksal der Prostituierten aushebelt. Eine angehende Regisseurin möchte in Casablanca ihr erstes großes Filmprojekt realisieren und das Drehbuch zuvor mit einer Frau diskutieren, welche die dreckige Seite der Stadt aus gelebter Erfahrung kennt. Ein Honorar winkt; Dschmiaa sagt zu, kühlt aber erst einmal merklich ab, als sie ihr hageres, salopp gekleidetes Gegenüber kennenlernt. "Bouche de cheval", "Pferdemaul" (die deutsche Ausgabe setzt, abgesehen vom Buchtitel, mit "Pferdegebiss" noch einen Härtegrad zu) tituliert sie die Fremde in Gedanken, ihrer kräftigen Zähne wegen - aber vor allem Dschmiaa selbst ist es, die in dieser Beziehung die Beißer zeigt. Erst ganz am Ende nennt sie die Regisseurin bei ihrem Namen, Chadlia - und subtiler als mit dieser späten Wende hätte sich nicht aufzeigen lassen, wie langsam, wie zögerlich diese scheinbar in allen Feuern gehärtete Frau den Weg in eine neue Vertrautheit suchen musste.

Zwischen der ersten Begegnung und dieser Szene liegt eine Geschichte, die märchenhaft klingt und doch - so jedenfalls stellt es ein Beitrag auf der Website Qantara.de dar - zumindest teilweise in der Realität gründet. Von der Gesprächspartnerin avanciert Dschmiaa zur Hauptdarstellerin in Chadlias Film, begegnet uns dann zwei Jahre später im Flugzeug wieder: Sie ist unterwegs zu einem Festival in Los Angeles, um gemeinsam mit der Regisseurin einen Preis entgegenzunehmen. Beim Eintritt in diese neue Welt gibt Alaoui ihrer Protagonistin ordentlich Wind in die Segel. Amerikas Fassade von Glanz und Reichtum mag Dschmiaa zunächst blenden, aber mit heiligem Erschauern ist nix; und nachdem sie in die Usanz der Esslokale eingeweiht ist, Kaffee oder Cola nach Belieben nachzuschenken, kommen ihr die Einheimischen im Vergleich mit den eigenen Landsleuten geistig eher minderbemittelt vor. "Selbst wenn sie als Gruppe kommen, bestellen sich alle einzeln etwas. Statt nur ein Getränk zu nehmen und es sich zu teilen. (…) Wir haben zwar kein Geld, dafür Köpfchen. Sie haben alles, was sie brauchen, und wissen nichts damit anzufangen."

Einmal allerdings muss sie dann doch die Waffen strecken. Der Blick vom Hoteldach über die nächtliche Stadt wird zur Epiphanie: "Alles war beleuchtet. Gelb, blau, orange, grün. In allen Farben. Die Autos - weit unten auf der Straße - waren klein wie Spielzeug. Die Leute sah man gar nicht. Hinter den Häusern in der Ferne schwebte eine in die Luft gebaute Brücke. Wie ein Bild, das gar nicht existiert, außer als Fata Morgana in deinem Kopf. Sie war riesig. Beleuchtet. Eine Brücke, wie ich sie noch nie gesehen habe und vermutlich auch nie mehr sehen werde. (…) Zu alldem der Himmel, weit, endlos, voller Sterne und Träume der Schlafenden. Und ich. Mitten in alldem ich."

Von 2010 bis 2013 erstreckt sich die Haupthandlung des Romans. Dschmiaas erstes Casting findet am 10. Februar 2011 statt, also kurz vor den ersten großen Protestmärschen, mit denen der Arabische Frühling in Marokko Einzug hielt. Alaoui bleibt jedoch konsequent bei der Perspektive ihrer Protagonistin und lässt jene Zeit des Aufruhrs, welche die ganze Welt in Atem hielt, nur an der Peripherie und obendrein unter negativen Vorzeichen aufscheinen: Während der Aufstände werden Frauen von Dschmiaas Stand zum Freiwild - für die im revolutionären Rausch taumelnden Jugendlichen ebenso wie für die Religiösen, die ihre eigene Agenda in den Widerstand tragen. Gut möglich, dass die Autorin diesen nüchternen Blick ihrer jahrelangen journalistischen Tätigkeit verdankt, die sich über die Mitarbeit bei Tel Quel und Nichane hinaus bis ins Private erstreckte: Alaoui ist mit Ahmed Reda Benchemsi verheiratet, dem Gründer und Herausgeber der beiden Zeitschriften, die das marokkanische Königshaus ebenso resoluter Kritik unterzogen wie die islamistischen Bewegungen im Land. Nach massiven Repressalien seitens des Regimes musste die Publikation von Nichane im Oktober 2010 eingestellt werden, kurz darauf zog sich Benchemsi auch von Tel Quel zurück, um so das Überleben wenigstens dieses Magazins zu sichern. Er selbst emigrierte in die USA, wohin ihm Meryem Alaoui für mehrere Jahre folgte; seit 2018 lebt sie wieder in Marokko.

Der Aufenthalt in Amerika hat schon in ihrem Erstling seine Spur hinterlassen; Alaouis im April 2023 erschienener zweiter Roman, "Sweet Chaos", ist dann ganz in New York angesiedelt und wird von einem Großaufgebot amerikanischer Charaktere bestritten. Wie die junge US-Autorin Tess Gunty, deren Debütwerk "Der Kaninchenstall" erst unlängst hier vorgestellt wurde, wählt auch die Marokkanerin ein Mietshaus als Handlungsort und Rahmen für ihr Szenario, wobei die Bewohnerinnen und Bewohner teils nur skizzenhaft, teils mit ausgeprägtem bis überkandideltem Profil in Erscheinung treten. Da kann sich auch die Prosa gelegentlich ins Preziöse hochschrauben, wenn etwa an den Lippen einer Figur eine "mikroskopische Ironie im Knicks-Muskelshirt baumelt, mit nackten Beinen unter den schwarzen Shorts". Ins Zentrum des Geschehens rücken nach und nach Graham und Riley, ein Ehepaar, das Lust kriegt, seine Bettgemeinschaft zu erweitern, und sich zu diesem Zweck auf einschlägigen Websites und gelegentlich auch in Swinger-Clubs umtut; ein Experiment, das natürlich trotz bester und liberalster Vorsätze zum schmerzvollen Zerwürfnis führt. Wer wenig Geschmack an diesem Thema findet, wird eher bei Jolene andocken; die Mittfünfzigerin hat Park Slope - in diesem Quartier von Brooklyn spielt der Roman - noch in seinen wilderen Zeiten gekannt und mag den Duft der Hippie-Ära nicht ganz verwehen lassen. Neugierig, aber auch zugewandt und darum sympathisch wirkend, wartet diese Hausbewohnerin dann mit einem überraschenden Nachtgesicht auf.

Insgesamt aber fällt Alaouis zweiter Roman nach dem Lesefest, das ihr Debüt bereitete, spürbar ab. Und gerade im Vergleich mit "Pferdemund" einer- und dem "Kaninchenstall" andererseits lassen sich die Schwachstellen von "Sweet Chaos" festmachen. So schafft Tess Gunty für ihre ebenfalls zahlreichen und in vieler Hinsicht divergierenden Figuren und Handlungsstränge eine Struktur, die dem Geschehen Kohärenz und Dynamik verleiht: Sie zieht einen tragenden Spannungsbogen vom Anfang bis zum Ende durch, setzt Leitthemen, die anhand unterschiedlicher Schicksale variiert werden, gibt dem Roman durch dosiert eingesetzte formale Elemente zusätzlich Farbe. Zudem ruft sie mit den eingeflochtenen Schilderungen der im Niedergang begriffenen einstigen Industriestadt Vacca Vale ein Thema auf, das weit über die eigentliche Romanhandlung hinauszielt: die Verelendung des amerikanischen "Rostgürtels", dessen frustrierte und verzweifelte Bewohner 2016 maßgeblich zu Donald Trumps Wahlerfolg beitrugen. Im Vergleich dazu fehlt es "Sweet Chaos" an inhaltlichem Gewicht wie an konzeptionellem und formalem Gestaltungswillen; vor allem aber - und bei diesem Kernpunkt zeugt auch Alaouis eigenes Debüt gegen das Folgewerk - vermag keine der Figuren jenes innere Engagement der Leserin, des Lesers zu wecken, dessen sich Dschmiaa, all ihren Ecken und Kanten zum Trotz, von der ersten Seite an gewiss sein kann.

Meryem Alaoui: Pferdemund tut Wahrheit kund
Roman
Aus dem Französischen von Barbara Sauser.
Lenos Verlag, Basel 2023. 312 Seiten, gebunden, 26 Euro.

Erscheint am 3. Oktober 2023

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"Sweet Chaos" ist bei Gallimard erschienen und liegt noch nicht in deutscher Sprache vor.